In zwei Kapiteln, die früh in ihrem Buch erscheinen, stellt Claudia Rusch schlagartig die Perspektive eines Kindes auf die alltägliche Seltsamkeiten der DDR vor. In “Die Schwedenfähre” erinnert sie sich erstmals zärtlich an das Boot, das zweimal Täglich von ihrem Heimat an der Ostsee nach Schweden. Als sie Kleinkind war hat ihre Mutter sie versprochen, einmal mit dem Boot mitzufahren, aber erst im Jahr 1989 hat ihre Oma es geschafft, Karten zu bekommen und die Reise zu ermöglichen. Auch dann dürften sie nur 10 Minuten bleiben, bevor sie zurückkehren müssten, aber Claudia (jetzt ungefähr 18 Jahre alt) war immer noch entzückt.

Erst 1996 erfährt Claudia wie sehr sie als Kind ihre Freiheit betrauert und gewünscht hatte. Ihr Ausweis lief um Mitternacht ab, und auf dem Zug hatte sie Höllenangst: “ich sah mich schon in Handschellen, verhaftet wegen Irreführung der Behörden“ (14). Der Fahrkartenprüfer macht für sie aber ohne Frage ein neues Ausweis, und zwar für nur 10 Mark. Als sie endlich auf Deck des Bootes steht, wird sie von Erinnerungen überschwemmt: „Ich dachte an die Ohnmacht, die dieses weiße Schiff in mir immer wieder ausgelöst hatte“ (15). Die Ostsee war für sie “Ein Ort, an dem ich jeden Tag sah, wo meine Welt zu Ende war“ (15). Jetzt hat sie alle Freiheit der Welt, und ist voller Wut, für alles was sie früher nicht machen dürfte.

“Die Stasi Hinter der Küchenspüle ist viel lustiger als “Die Schwedenfähre,” geht aber um ein viel bedröhlicheren Aspekt des Lebens in der DDR – die Omnipräsenz der Stasi. Mit fünf ist Claudia mit ihre Mutter zu Familienfreunden in Berlin umgezogen, nachdem ihre Eltern sich getrennt haben. Nur ein wenig später wird über dem Mann des Hauses, Robert Havemann, Hausarrest verhängt (16). Ab diesem Moment sind die Stasimänner immer da, entweder draußen in ihrem Autos, hinter einem Baum, oder einfach beim Zuhören. Als Kleinkind versteht Claudia die Umstände gar nicht: “Ich weiß noch, dass ich die Präsenz der Stasi damals nicht wirklich bedrohlich fand…Sie passten auf mich auf“ (16). Die Erwachsene sprechen öfter von Kakerlaken und Claudia nehmt an, dass die Männer so heißen.

Viele Jahren später, aber immer noch vor dem Mauerfall, besucht Claudia einen Freund im Studentenwohnheim, der sich über Kakerlaken in der Wohnung beschwert. Er vermutet, dass ungefähr 200 Kakerlaken sich hinter der Küchenspüle stecken. Claudia ist fast zu Tode erschrocken: “ich sah es schlagartig vor mir…ein riesiges Loch im Gemäuer, dahinter ein Raum, in dem 200 Männer standen…und alle schauten unbeweglich durch das Loch über dem Wasserhahn” (18-19). Schnell wird es den beiden klar, dass ein ein Misverständnis gab, aber Claudia gibt nicht zu, woher es eigentlich kommt.

Diese zwei Ausschnitte sind exemplarische Beispiele von Claudia Ruschs zugänglichem und unterhaltsamen Schreibstil. Viele DDR-Memoiren sind voller Tragödie, aber Rusch will ihre (relativ fröhliche) Kindheit bloß darstellen – sie ist ja im Kontext der DDR großgeworden, aber so Fremd und traumatisiert ist sie doch nicht. Susanne Ledanff, die “Ostalgie” studierte, zitiert von Ruschs Klappentext: “überwiegend schönen Erinnerungen an eine fast normale Kindheit” (in Ledanff 179). Die interessanteste Punkte von Meine freie deutsche Jugend liegen in diese Wörter: “überwiegend” und “fast.” Claudia Rusch will kein Mitleid – sie erkennt öffentlich, dass vieles an ihre Kindheit eigentlich sehr gut war, muss aber auch zugeben, dass vieles damit nicht stimmte.

Viele Ihre Erzählungen sind gewissermaßen klare Nacherzählungen von dutzenden Bildungsromane – aber nur gewissermaßen. Sobald man sich in der Geschichte sehen kann, wird die Kluft ersichtlich – das Mädchen am Strand will mit einem Boot mitfahren, das Kleinkind versteht die Sprache der Erwachsenen falsch. Diese klare Gemeinsamkeiten zwischen Kindheit in der DDR und anderswo machen die Kontraste nur kahler.

Wie Lendaff es darstellt, ist Meine freie deutsche Jugend “ein wichtiger Ursprung des ‘Erinnerungsfiebers’ der ‘Übergangsgeneration.'” (185). Doch das Buch wurde öfters als beispielhaft für DDR-Erinnerungsliteratur zitiert (sehe Gerstenberger, Fulbrook). Rusch ist Teil einer der letzten Jahrgänge, die in der DDR wirklich erwachsen worden sind – sie war ungefähr 18 Jahre alt als die Mauer fiel. Ihr Buch ist keinesfalls das einzige, das die Kindheit in der DDR Thematisiert, aber Rusch ist außergewöhnlich offen über die vielen Art und Weisen, auf denen ihr Kindheit eher unauffällig war.

 

Mögliche Diskussionsthemen:

  • Der Titel des Buches spielt mit der Name der DDR-Jugendgruppe, die Freie deutsche Jugend, an deren Rusch auch als Jugendliche teilnahm. Wie wirkt den Titel auf den Leser? Wie hätte es anders auf Leser gewirkt, die selber die Wiedervereinigung erlebt haben? Die in der DDR großgeworden sind?
  • Claudia Rusch erzählt von Ereignissen die geschehen sind, als sie nur 5 Jahre alt war. Wie kann man Erinnerungen aus der sehr frühen Kindheit bewerten? Sind sie vertrauenswert? Was für einen Zweck können sie erfüllen?
  • Einer Umstand, die Ruschs Kindheit eher außergewöhnlich macht, ist die Opposition ihrer zwei Vätern. Ihr leiblicher Vater ist Offizier in der DDR Marine, während ihr Stiefvater ist ein mehr oder weniger offene Regimegegner. Wie bzw. inwiefern ist dieses Paradox in ihrer Schreibstil und Gesinnung zu erkennen?

Bibliographie: 
Fulbrook, M. “Putting the People Back in: The Contentious State of GDR History.” German history 24, no. 4 (October 1, 2006): 608–620.

Gerstenberger, Katharina. “Reading the Writings on the Walls— Remembering East Berlin.” German politics and society 23, no. 3 (September 1, 2005): 65–82.

Ledanff, Susanne. “Neue Formen der ‘Ostalgie’ – Abschied von der ‘Ostalgie’? Erinnerungen an Kindheit und Jugend in der DDR und an die Geschichtsjahre 1989/90.” Seminar 43, no. 2 (May 2007): 176-193.

Rusch, Claudia. Meine freie deutsche Jugend. Berlin: Fischer Taschenbuch Verlag, 2005.

 

Für mehr Infos und Rezensionen, sehe diese Quellen aus meinen Post von 12.10:

https://www.deutschlandfunk.de/claudia-rusch-meine-freie-deutsche-jugend.730.de.html?dram:article_id=102059

https://www.welt.de/print-welt/article420510/Generation-Trabant.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Claudia_Rusch

https://rp-online.de/kultur/buch/claudia-rusch-meine-freie-deutsche-jugend_aid-16741501#:~:text=Die%20DDR%20lebt%20wieder%20auf,zwischen%20Stasi%2C%20Partei%20und%20Westfernsehen.