Oct 14 2020

Eine kleine Weltchronik: für Freya Klier

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Eine kleine Weltchronik zur

 

großen Zeitenwende

 

für

 

Freya Klier

 

zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands

 

Frederick A. Lubich, Norfolk, Virginia

 

 

Zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands feierten die deutschen Medien Freya Klier als eine ikonische Repräsentationsfigur der legendär friedlichen Revolution, die 1989 zum Fall der Berliner Mauer führte. Die zwei folgenden Beispiele können ihre hervorragende Rolle in dieser dramatischen Wende der deutschen Nachkriegsgeschichte anschaulich und eindrucksvoll illustrieren. Es handelt sich dabei um das Feature „Wie wir wieder ein Volk wurden“ aus der Zeitschrift Tina, sowie um das Interview „30 Jahre Einheit – Freya Klier“ in tvbSpecial.[1]

 

Hier finden Sie das Tina-Interview: TI_2020 39 Aktuell 2 – Juhnke – SERIE_ 30 Jahre Einheit _ 3 Schicksale

 

…und HIER das tvb-Interview.

 

Von besonderer Bedeutung erweist sich meines Erachtens in diesem historischen Kontext das Foto von Freya Klier und Angela Merkel in der Zeitschrift Tina, das sie zusammen beim Besuch von Barack und Michelle Obama im Weißen Haus zeigt. Diese vier heutigen Repräsentanten des einst Jahrhunderte und Jahrtausende lang unterdrückten „Anderen“ – des Anderen des weißen Mannes, nämlich der schwarzen Rasse und des weiblichen Geschlechts – hier auf diesem Lichtbild sind sie im größten Machtzentrum der heutigen Weltgeschichte so real wie symbolisch vereint und vertreten.

Ich hatte das schöne Glück, Freya Klier über die Jahre unserer gemeinsamen Arbeit im Vorstand des ehemaligen Exil-PEN, des heutigen PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, als eine überaus liebenswerte Mitstreiterin und leidenschaftliche Verfechterin  unserer diversen Projekte kennenlernen zu können. Die zwei obigen Reportagen haben meinen schon länger gehegten Wunsch, sie aus heutiger Perspektive noch genauer zu ihrer repräsentativen Rolle bei der deutschen Wiedervereinigung und Vergangenheitsbewältigung zu befragen, bereits auf kongeniale Art und Weise verwirklicht. Und so möchte ich an dieser Stelle vielmehr versuchen, ihre große Lebensleistung in einen entsprechend größeren, geschichtlichen Zusammenhang zu stellen und auszuleuchten, wofür es freilich gilt, noch etwas weiter und ausführlicher auszuschweifen.

 

***

 „Die Zukunft wird weiblich sein
oder gar nicht.“

Jahrhunderte, ja Jahrtausende lang gründeten die gesellschaftlichen Fundamente der abendländischen Kulturgeschichte auf dem patriarchalen Prinzip der hierarchischen Monarchie. Diese weltliche Herrschaftsform des ständischen Obrigkeitsstaates fand in der himmlischen Dreieinigkeit von Gottvater, Gottsohn und Heiligem Geist ihre christlich-theologische Apotheose. Diese so nachhaltig mittelalterliche Standesordnung wurde erst im Zeitalter der Aufklärung und im Gefolge ihrer großen Revolutionen in Frankreich und Amerika in ihren Grundfesten endgültig erschüttert.

Eugène Delacroixʼ heroisch-patriotisches Gemälde La Liberté guidant le peuple, in der Marianne, die symbolische Inkarnation der französischen Nation, die Barrikaden stürmt und ihr unterdrücktes, darniederliegendes Volk zum Aufstand gegen die bestehende Gesellschaftsordnung aufruft, wurde nicht nur zur Nationalikone der Französischen Revolution, sondern auch zur kunsthistorischen Allegorie für einen sich anbahnenden genderideologischen Paradigmenwechsel.

 

Eugène Delacroix „La Liberté guidant le peuple“. ©: en.wikipedia.org

 

Mariannes entblößte Brüste und ihre phrygische Freiheitsmütze bringen den sexualpolitischen Symbolcharakter ihrer weiblichen Selbstbefreiung sinnlich-sinnbildlich zum Ausdruck. Darüber hinaus verdichtet sich ihr geöffnetes Décolleté kongenial zum sprechenden Inbild der nährenden Allmutter par excellence, das heißt, Marianne inkarniert und symbolisiert die mythisch-moderne Renaissance der Alma Mater urheidnischer Provenienz.

„Back to the future“: Über hundert Jahre vor dieser landläufigen Maxime der Postmoderne und ihrer diversen Diskursbildungen sollte der Basler Rechtsgelehrte Johann Jakob Bachofen mit seinem bahnbrechenden Werk Das Mutterrecht (1861), einer exemplarischen Enzyklopädie psychomythischer Männerphantasien von fabelhaft heidnischen Gynaikokratien, ein veritables Kontrastprogramm zur christlichen Realität der abendländischen Kulturgeschichte entwerfen.

Im Gegensatz zum spirituellen deus absconditus der patriarchal-monotheistischen Himmelsreligionen und ihrer ewig verborgenen Gottesvorstellungen offenbart sich die Göttin der matriarchal-polytheistischen Erdreligionen als sensuelle dea revelata, in deren wunderbarer Gestalt sie ihre zauberhafte, sinnlich-fruchtbare Schöpfungsallmacht gern und großzügig zur Schau stellt. Diese geschlechtliche Attraktivität der Magna Mater wird zudem wesentlich weiter bereichert durch ihre großen gesellschaftlichen Ideale der allgemeinen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.

Götterdämmerung des Abendlandes: So sehr der rechtsgelehrte Basler Patriziersohn vom Verstand her für den vaterrechtlichen status quo plädierte, sein geheimes alter ego war fasziniert von den muttermythischen Alternativen der Magna Alma Mater. Allzu verlockend schien der geschichtliche Fortschritt vom alttestamentarischen „Gott der Rache“ zur archaisch-utopischen „Göttin der Liebe“. Anders gewendet, Bachofens Herz schlug für die Große Mutter und ihr einstiges Reich, das vor langer Zeit so sagenhaft versunkenen war und das nun umgekehrt in naher Zeit erneut so vielversprechend am Horizont heraufzuziehen schien.

Der Untergang des Abendlandes, so lautete denn auch entsprechend die episch-epochale Geschichtserzählung Oswald Spenglers am Ende des Ersten Weltkrieges. Sie stellt nicht nur eine weitsichtige, weltgeschichtliche Retrospektive dar, ihre sie begleitenden, abendländischen Kassandrarufe sollten im Laufe der Zeit tatsächlich zudem als „self-fulfilling prophecies“ mehr und mehr in Erfüllung gehen.

Theorie und Praxis der matriarchal-demokratischer Weltverbesserung fanden seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vor allem in der Suffragetten-Bewegung um 1900, in der Mode und Moral der „Neuen Frau“ der Zwanziger Jahre und nicht zuletzt im feministischen Revival in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ihre weitere theoretische Ausformulierung und sozialpolitische Verwirklichung.

„Make Love Not War“, so lautete die wohl populärste Parole der ersten Nachkriegsgeneration in Deutschland und Amerika, die den sexualpolitischen Paradigmenwechsel jener Umbruchszeit auf den gemeinsamen, dialektisch so zutreffenden Nenner brachte. Diese vielbeschworene „Sexuelle Revolution“ jener Jahre war ein wesentlicher Bestandteil vieler damals sehr gesellschaftskritisch motivierten Studentenorganisationen und nicht zuletzt auch der weltweit jugendbewegten Woodstock-Generation mit all ihren hochfliegenden New-Age-Aspirationen.

Trotz dieses grundlegenden Gesinnungswandels waren die bekanntesten Anführer dieser zahlreichen Anti-Establishment-Bewegungen allesamt männlichen Geschlechts, angefangen von Frankreichs Daniel Cohn-Bendit über Amerikas Jerry Rubin und Abbie Hoffmann bis zu Deutschlands Rudi Dutschke. Von Timothy Leary, Amerikas verführerischem Drogen-Guru der psychedelischen Bewusstseinserweiterung und seiner Politics of Ecstasy hier einmal ganz zu schweigen.

Und nicht zu vergessen Fritz Teufel und Rainer Langhans, einst Westberlins prominenteste Kommunarden und berühmt-berüchtigte Bürgerschreckgestalten der westdeutschen Counter-Culture, mitsamt ihrer hübschen Uschi Obermeier, dem damals populärsten Topless-Modell der heimatlichen Bundesrepublik. Sie war Mariannes deutsche Wiedergängerin und – man ahnt es schon – das nationale Poster Girl der „Sexuellen Revolution“.

„Die Zukunft wird weiblich sein oder gar nicht“, so lauteten die aus dem kulturellen Untergrund immer lauter werdenden Unkenrufe jener Zeit, als sich zunehmend liberale Wandlungsprozesse in der westlichen Welt mit einem wachsenden Umweltschutzbewusstsein zu paaren begannen. Heute ist sich ein Großteil der Menschheit in der ökologischen Welterkenntnis einig: Wenn wir fortfahren, unsere Umwelt zu misshandeln, ihre Ozonschicht zu verpesten und ihre Bodenschätze auszubeuten, dann werden wir bald keine „Mutter Erde“ mehr haben, keine Alma Mater, die unsere Kinder und Kindeskinder weiterhin gesund gebären und ernähren kann.

In diesem zeitgeschichtlichen Zusammenhang setzte sich auch zunehmend ein allgemeines Umdenken in der uralten Vorstellung vom sogenannten „Kampf der Geschlechter“ durch. Um es arche- und stereotypisch auszudrücken, Mars versus Venus, diese universale Weltformel taugte schon lange nicht mehr als moderne Matrix für flexible, männlich-weibliche Beziehungskisten und sexualpolitisch progressive Gesetzgebungen.

In anderen Worten: Schluss mit all den verrotteten patriarchalen Traditionen, den geschichtlich-gesellschaftlichen Konflikten à la Simone de Beauvoirs Deuxième Sexe und Schluss mit all den geschlechtlichen Konventionen und entsprechend schlechten Ehen, grad so wie sie in Judith Butlers Gender Trouble sozialkritisch beschrieben stehen.

Was würde wohl Hegels Weltgeist in Anbetracht all dieser feministischen Herausforderungen und sexualpolitischen Neuorientierungen sagen? Er könnte, wäre er denn tatsächlich linkshegelianisch orientiert, sicherlich dem Vorbild von Rosie the Riveter folgen, der einstigen Nationalikone Amerikas, und aus all dem das Bestmögliche machen, grad so wie damals, als die Männer ihres Landes in den Zweiten Weltkrieg zogen, während ihre Frauen an der Heimatfront beherzt deren harte Männerarbeit übernahmen.

Entsprechend könnte Hegels Weltgeist wohlweislich und auch ganz im Sinne des heutigen Zeitgeistes seiner gegenwärtigen Menschheit vorschlagen, dass es nun wirklich höchste Zeit wäre – Allegorie hin und Realität her – endlich auch einmal Frauen im Kampf der Geschichte gleichberechtigt teilnehmen zu lassen, wenn nicht gar ihnen aus Gründen der geschichtlichen Gerechtigkeit zur Abwechslung auch mal für eine Weile den Vortritt zu gewähren. Jedenfalls können Geschichte und Gegenwart Deutschlands für diesen Gedanken- und Erfahrungsaustausch sicherlich als Probe aufs Exempel dienen.

Um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen: Nach dem monarchischen Machtrausch des letzten deutschen Kaisers und der faschistischen Schreckensherrschaft des letzten deutschen Diktators, die das zwanzigste Jahrhundert gleich in zwei Weltkriege stürzen sollten, gefiel es offensichtlich der Vorsehung des unerforschlichen Weltgeistes, dem Heimatland seines Vordenkers genau zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution endlich auch eine richtige deutsche Revolution zu gewähren. Und zudem ist diese so friedlich und unblutig verlaufen wie wohl noch keine Revolution in der langen Geschichte unserer so friedlosen und oft so gewalttätigen Menschheit. Und dies, obgleich die Berliner Mauer mit all ihren Todesstreifen noch weitaus höher und unüberwindbarer war, als es die Pariser Straßenbarrikaden je gewesen waren.

Doch damit nicht genug. Obendrein sollte das wieder auferstandene, deutsch-deutsche Vaterland auch bald von einer Frau so vorbildlich wie erfolgreich weiterregiert werden und dies zudem auch noch ausgerechnet mehr als zwölf Jahre lang, geradeso als hätte es in der Tat gegolten, die zwölf schauderhaften Jahre des Dritten Reiches umgekehrt auch noch zahlenmäßig mit mehr als zwölf vergleichbar wunderbaren Jahren zu übertrumpfen.

Gott sei Dank für Hegels Weltgeist! Zu unserem großen, nationalen Glück funktionierte diesmal seine phänomenale Geschichtsdialektik! Und nicht nur das, auch der Schweizer Autor des Mutterrechts hätte sich vom politischen Schicksal Deutschlands und dem persönlichen Geschick seiner Bundeskanzlerin bestätigt sehen können, die zudem – nomen est omen – im Volksmund bald von der belächelten „Mutti Merkel“ zur anerkannten „Mutter der Nation“ aufsteigen sollte.

Last but not least verstand auch die internationale Presse, allen voran das amerikanische Time Magazine, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten und krönte schließlich die deutsche Bundeskanzlerin mit dem weltweit begehrten Titel „Woman of the Year“. Anders gewendet, Walter Benjamins Angelus Novus kehrte wieder – mutatis mutandis – als Angela Nova eines neuen Deutschlands, das nicht zuletzt auch mit seiner großherzigen Flüchtlingspolitik Geschichte machen sollte.

Und die Moral von dieser deutschen Geschicht: Nicht nur gelungene Demokratien, sondern auch friedliche Demonstrationen für mehr Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit werden zunehmend von Frauen angeführt. Und in den letzten Jahren werden sie vor allem von Frauen in Osteuropa repräsentiert. Dieser Trend begann vor knapp zehn Jahren mit der Bewegung der Femen, die ihren Protest einmal mehr in der Nachfolge von Delacroix Marianne inszenierten und entsprechend barbusig ihren politischen Kontrahenten so unverschämt wie selbstbewusst entgegentraten.

Derartig provokative Einzelaktionen finden heute in den weitaus moderateren, doch dafür dezidiert pazifistischen Massendemonstrationen in Weißrussland ihren logisch-historischen Höhepunkt. Und auch in ihnen spielen Frauen, wie internationale Presseberichte immer wieder hervorheben, eine herausragende Rolle, angefangen von der jungen Maria Kalesnikova, einer der prominentesten Repräsentantinnen der Bewegung, bis zu Nina Baginskaja, der omnipräsenten „Demo-Oma“, wie die deutsche Bildzeitung die bekannteste Veteranin dieser belarussischen Demokratiebewegung nennt.

Die westeuropäischen Vorbilder für diesen osteuropäischen Volksaufstand gegen die letzten Bastionen totalitärer Potentaten reichen von der Weimarer Republik bis zur Deutschen Demokratischen Republik, konkret von Rosa Luxemburg bis Bärbel Bohley und Freya Klier. Fast wäre auch letztere wie schon Rosa Luxemburg bereits als junge Aktivistin ein Opfer des totalitären Terrors geworden! Doch vielleicht war ja hier der Weltgeist erneut – als Angelus Novus Absconditus – ihr geschichtlicher Schutzengel gewesen?

Wie dem auch sei, in jedem Fall wurde Freya Klier über die Jahre und Jahrzehnte hinweg zur unbestritten bedeutendsten Bürgerrechtlerin des wiedervereinigten Deutschlands, die sich nicht nur von jung auf als talentierte Schauspielerin und engagierte Widerstandskämpferin, sondern auch ein Leben lang als unermüdliche Dozentin im In- und Ausland, sowie als erfolgreiche Autorin mehrerer Geschichtsbücher und als vielbeachtete Dokumentarfilmerin weit über die Grenzen Deutschland hinaus einen Namen gemacht hat. Wir alle diesseits und jenseits des Atlantiks haben ihr viel zu verdanken.

 

Alsdann, liebe Freya, auch im Namen von uns allen in unserer transatlantischen Glossen-Redaktion, sowie im Namen all unserer Beiträgerinnen und Beiträger, Leser und Leserinnen…

Herzlichen Glückwunsch zu Deiner großen Lebensleistung!

Hoch sollst Du leben!! Und das auch noch sehr, sehr lange!!

 

 

[1] Ein herzliches Dankeschön gilt an dieser Stelle Herrn Andreas Juhnke, Redakteur für besondere Aufgaben, Bauer Woman KG, für die Erlaubnis zum Wiederabdruck des Features in Tina, sowie Dr. Peter Brinkmann von tvbSpecial für den Link zum TV-Interview.

 

Lesen Sie hier auch eine Grußadresse der ehemaligen Frauen für den Frieden Ost-Berlin an die belarussischen Frauen und hier eine Grußadresse von Bürgerrechtler*innen der ehemaligen DDR.

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