Jan 2011

Herta Müller

Laudatio auf Hans Joachim Schädlich zur Verleihung des Samuel-Bogumił-Linde-Literaturpreises

Im August 1977 erschien in Westdeutschland ein Band mit Erzählungen unter dem Titel Versuchte Nähe. Der Autor Hans Joachim Schädlich lebte damals noch  in der DDR. Dort konnte dieses Buch nicht erscheinen.  Schädlich war 1976 schon zur Unperson geworden, weil er einen Protestbrief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterschrieben hatte. Aus diesem Grund verlor er auch seine Stelle als Linguist an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften.

Alle Erzählungen in Versuchte Nähe beschäftigen sich mit dem Alltag der DDR. Auch wenn es nicht auf den ersten Blick sichtbar wird. Die Provokation bestand vielleicht gerade darin. Denn daß es nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, verstärkt die Provokation. Schädlich arbeitet seit seinem ersten Buch bis heute mit historischen Analogien und er arbeitet so nah  in und mit dem Jargon seiner literarischen Figuren, daß man beim Lesen den Eindruck dokumentarischer Bestandsaufnahmen hat.  In diesem Buch gibt es  die kleine Erzählung „Kurzer Bericht vom Todfall des Nikodemus Frischlin“, die den Untertitel „Aus den Quellen“ hat.  Dieser Nikodemus Frischlin war ein neulateinischer Dichter und lebte Ende des 16. Jahrhunderts in Süddeutschland und zog sich durch seine Schriften die Feindschaft des Adels zu. Er wurde schließlich verhaftet und starb bei der Flucht aus dem Kerker.

„Ich bin aber in Elend geraten, daß auf mir und meinem Weib und Kindern ein Haß aller Adelspersonen liegt. Solche Machthaber sind sie, daß ich meines Lebens nicht sicher bin vor ihnen. Sie heißen mich einen räudigen Poeten und haben doch über meine Schriften weniger Urteil als abgehäutete Esel. Allenthalben wollen sie den Vorzug haben, in Höfen und Kanzleien sollen wir ihrer Gnaden froh sein, weil sie mit einem Wahn ihres Standes aufgeblasen sind, und sind doch nichts als Schreier und Raffer. Wer seines Adels wegen sich über die anderen erhebt, der gilt mir nicht mehr als ein Dreck.“1

In Schädlichs Text klingt zwar noch das Amtsdeutsch des 16. Jahrhunderts nach, aber gleichzeitig ist die Ironisierung der damaligen Zeit unüberhörbar. Natürlich waren solche Texte in der DDR eine Provokation. Schon in dieser frühen Erzählung schreiben sich in Schädlichs Text zwei Geschichten in einer. Einmal die überlieferte Historie und darunter schreibt sich beim Lesen von selbst eine Geschichte über aufgeblasene Parteibonzen, Verhaftung, Verhöre, also die Geschichte der Repression und Zensur durch die  Stasi in der DDR.

So wie in den späteren Büchern  Tallhover oder Anders entsteht die Subversion automatisch, unweigerlich, aus der Sache selbst. Aus dem Puzzle-Spiel der Tatsachen entsteht bei Schädlich wie beiläufig die untergründige Geschichte. Und dieses Unübersehbare, aber nicht Explizite, dieser Subtext  ist das Wichtige und wird die eigentliche Geschichte des Textes. Schädlich braucht dazu nur den Text selbst, er bedient sich lediglich der trickreichen Wiederholungen, der auf klare kalte Genauigkeit fixierten Imitation direkter Sprache. Er entwirft Dialoge, Situationen, Poträts – aber er läßt sie pur in sich stehen, bedient uns mit keinen Einschätzungen, liefert nie einen Kommentar.

In Schädlichs Debütband Versuchte Nähe steht auch die kleine Geschichte mit dem Titel „Lebenszeichen“. Das Lebenszeichen ist eine Postkarte von einem Herrn Buttke. Auf der Karte eine Festtagsparade, der Wachwechsel auf dem Boulevard „Unter den Linden“ in Berlin. Wo er selbst steht, macht Buttke auf der Karte ein Kreuz. Schädlich beschreibt alles Sichtbare auf dieser Ansichtskarte, aneinandergereiht Menschen, Musikinstrumente, Stadtansichten, Himmelausschnitt. Der Text endet abrupt und lapidar: Buttkes Kreuz „hat sich eingedrückt, es ist auch von der Rückseite erkennbar. Die Schrift ist verwischt. Die Ecken der Karte sind eingefallen.“2

Das Kreuz hat sich eingedrückt, es ist auch auf der Rückseite erkennbar – mit diesem Satz könnte man eine andere Ebene von Schädlichs Literatur bezeichnen. In allen seinen Büchern geht er Lebensläufen nach und an diesen interessiert ihn, was hinter der Fassade sitzt auf der Rückseite des Lebens. Immer ist es anders. In den Biographien wird das Vorhandene versteckt und um die Lücke zu füllen, wird gelogen und erfunden. Und  Anders ist auch der Titel eines Buches von Schädlich. Hier geht es ihm um die Fälschung von wirklichen Biographien beim Wechsel politischer Systeme. So ist der Aachener Germanist Schwerte buchstäblich zwei Personen. Unter den Nazis spielte er eine wichtige Rolle im Sicherheitsdienst der SS. Nach dem Krieg hat er sich selbst neu geboren, schamlos verpaßte er sich einen neuen Namen und heiratete seine Frau als der andere, der er nun ist, nocheinmal. Und dieser Neue machte eine große Karriere als linker Sozialdemokrat und Germanist. Sich nicht zu stellen, sondern sich „anders“ neu zu erfinden, ist womöglich die krasseste Form des autoritären Charakters. Die totale Selbstverleugnung. Diese zeigt Schädlich auch am Beispiel des  Geheimpolizisten Ludwig Tallhover. Schädlich konstruiert eine fiktive Biographie über einhundertfünfzig Jahre. Tallhover wird 1819 geboren und schickt seinen ersten Spitzelbericht 1842 über die Rheinische Zeitung und deren Redakteur Karl Marx aus Köln nach Berlin. Sein Bericht findet Gefallen bei den preußischen Polizeibehörden. „Der Mann ist prädestiniert. Wir brauchen gute Leute“ heißt es im Roman. Damit beginnt das lauernde Dienen eines Überzeugungstäters, der über alle Menschen – auch über sich selbst hinweg das reibungslose Funktionieren staatlicher Autorität sichern will. In ruhigen Linien, in kleinen, geheimen und gemeinen Schritten zeichnet Schädlich auch hier eine Art Grundmuster, das innere Porträt des autoritären Charakters aller Zeiten, zu jeder Tat gegen andere bereit.

Wieder arbeitet Schädlich mit nahtloser Imitation. Diesesmal imitiert er  die verkürzte Sprache des Spitzelberichts von der metternichschen Geheimpolizei über die Gestapo bis zur Staatssicherheit der DDR. Und wieder entsteht trotz oder gerade wegen des gesprochenen oder geschriebenen Dienst-Jargons der doppelte Boden literarischer Faszination. Schädlich  verknüpft den fiktiven Spitzel Tallhover mit bekannten historischen Gestalten. So beschatten Tallhover und seine Agenten beispielsweise Lenin in Berlin oder den in Lemberg geborenen Sowjetfunktionär Radek.

Aber Tallhover leidet an seinen Vorgesetzten. Er will stets härter durchgreifen als man ihm erlaubt. Dadurch fühlt er sich von der Realität erniedrigt und als Versager. Er hätte Lenin verhaftet und so die Russische Revolution verhindert. Jahrzehnte später, Tallhover arbeitet jetzt für die Gestapo, empfindet er Bewunderung für die stalinistischen Schauprozesse. Wieder Jahre später, jetzt Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR, macht er seinem Staat  den Vorwurf, nicht energisch genug gegen die Aufstände am 17. Juni 1953 vorzugehen. Tallhovers Putzfrau meint:

„Das sind doch Arbeiter, Genosse Tallhover.“

Und er entgegnet darauf: „Arbeiter, Arbeiter. Das ist vollkommen egal, was das sind. Das sind Aufrührer gegen die Staatsmacht. Das waren früher Aufrührer und das sind heute Aufrührer. Arbeiter oder nicht.

Aber erschießen? , sagt die Putzfrau.

Tallhover sagt, Todesstrafe muß sein. Sie ist sogar etwas Humanistisches. Weil sie den Staat schützt und das Leben der Bürger. Sie ist ein Gebot der Gerechtigkeit.“ 3

Wer wie Schädlich den autoritären Staat und seine autoritären Charaktere durchschaut, kennt auch die Intimität des Autoritären. Denn wenn jemand an der Autorität zerbricht, dann wird diese intim. Sie bleibt dann nicht bei den sozialen Strukturen stehen, sie geht dann in den einzelnen Körper hinein. Und er kennt dadurch die größte Autorität, die den Körper durchquert — den Tod.

1995 veröffentlichte Schädlich das Diptychon mit den beiden  Erzählungen „Mal hören, was noch kommt“ und „Jetzt wo alles zu spät is“. In der ersten liegt  ein Mann in der Einsamkeit des Sterbens. Das Motto dieser  Erzählung ist von Robert Walser: „Etwas hält mich ab, dir etwas zu sein.“ Der glatteste und komplizierteste Satz und Gegensatz über Beziehungen steht in dieser Geschichte: „Alle Frauen, die ich geliebt hab, hab ich geliebt. Ich hab für sie getan, was ich konnte. Es hat nie gereicht. (…) Alle Frauen, die ich geliebt hab, haben getan, was sie konnten. Es hat immer gereicht.“ 4

„Alles Gute kommt von Frauen“, läßt Schädlich den Sterbenden sagen, der alle Facetten seines Lebens nochmal durchgeht.  Und alle seine Beziehungen mit dem verstörenden autoritären Rollenspiel zwischen Mann und Frau. Das Zerbrechliche der Beziehungen wird hier so deutlich, daß es einem beim Lesen auf den Magen drückt.

Als letzte Partnerin bleibt dem Sterbenden eine Fliege. „Ich hab der Fliege immer was zu bieten. Das macht mich ruhig. Sie erwartet nichts von mir, außer bißchen Gestank, und sie ist treu. (…) Manchmal fliegt sie weg. Vielleicht fliegt sie auf’n Fußboden und findet was. Vielleicht fliegt sie auf den Topf, den mir die Frau untern Arsch schiebt und findet was. Wenn ich das doch wüßte. Ich könnt mich an der Fliege mit dem guten Gefühl erfreuen, daß ich für sie sorg. Ich, in meiner miesen Lage, ein Ernährer.“ 5

Die Fliege als letzte Partnerin des Sterbenden wird zur unerträglichsten, kompromißlosesten Verkörperung des Todes. Die körperliche Verwesung ist hier vorweggenommen. Zwischen Witz und Tragik heißt es: „Ich hätte lernen müßen, allein zu sein. Dazu ist es zu spät. Aber ich bin getröstet. Die Fliege hat zu mir gesagt: ‚Ich bleib bis zuletzt bei dir. Ich bleib auch danach bei dir.’“ 6

Schädlichs Endspiel geht einen radikalen Weg. In einer atemlosen vulgären Sprache zeigt er, daß das Leben nichts als die ewige Suche und der Tod nichts anderes als das unappettitliche Abdanken des Körpers ist.  Es gibt keinen Trost im Sterben, und der Tod ergibt keinen Sinn. Wieder findet Schädlich mit der vulgären Sprache dieses Textes den passende Jargon für den Zerfall des Körpers.

Dem radikalen Wirklichkeitssinn von Schädlich entspricht sein radikaler Möglichkeitssinn im Roman Schott. Gegenüber der politischen Enge des autoritären Systems  und der Ausweglosigkeit des Einzelnen im Tod stellt Schädlich die in alle Richtungen hin offene Fiktion. Schotts fikionale Existenz durchbricht konventionelle Erzählmuster, alles wirbelt durcheinander, alles ist möglich. Deshalb spielt auch der Konjunktiv als literarisches Stilmittel eine Hauptrolle in diesem Buch. Schott ist mal ein Flaneur, mal ein Autofahrer, mal ein Meeresbewohner, mal ein Wüstenwanderer. Er ist auf der Suche nach der Fliegerin Liu. Sie leben in unterschiedliche Zeiten, die sich nur manchmal überraschend überschneiden.  Der Erzähler des Romans erzählt uns immer wieder von Schott und wird dabei immer wieder von einem rabiaten Verfasser unterbrochen. Der Verfasser wendet sich seinerseits immer wieder an den Leser und macht dadurch den Leser zu einer Figur des Romans. Der Verfasser sagt: „Ich erkenne die Wirklichkeit nicht mehr. Ich vermisse eine Absicht. Das ist doch alles Un-Sinn, was Sie schreiben! Fühlen Sie keinen Auftrag? Einen politischen, religiösen, pädagogischen, ideologischen, moralischen, ethischen, schwedischen? “ 7 Oder einen polnischen? Das steht natürlich nicht im Roman. Aber möglich ist es durchaus. Der Leser hat das letzte Wort.

Andererseits stehen in diesem Buch kurze Sätze im Präsens. Oft in langen Satzfolgen aneinandergereiht ergeben sie erschütternde Szenen. In der steilsten Bewegung treiben sie eine Situation auf die Spitze.

„Die Frau, die in der Wohnung unter der Wohnung von Schott wohnt, öffnet die Tür, als Schott vorbei geht.

Herr Schott!

Schott bleibt stehen. Hier ist das Schreibheft, Frau Semper.

Danke, Herr Schott.

Bitte, Frau Semper.

Herr Schott, Was ist das denn für ein Licht draußen?

Das ist die Sonne, Frau Semper. Gerade scheint sie ein bißchen.

Haben Sie einen schwarzen Anzug, Herr Schott?

Nein.

Ich war nicht zur Beerdigung meiner Mutter, Herr Schott.

Warum?

Ich hatte kein Trauerkleid.“ 8

Das ist das Meisterhafte in allen Büchern Schädlichs. Die Sätze sind so schlau, sie sehen aus als wären sie ahnungslos in ihrer spöttischen Tragik und ihrer verletzten Ironie, daß man sich bei Schädlich immer denkt beim Lesen, viel weiter kann man nicht gehen, ohne sofort zu verzweifeln.

Literaturhinweise

1 Schädlich, Hans Joachim: Versuchte Nähe, Reinbek 1977, S. 200

2 Versuchte Nähe, S. 152

3 Schädlich, Hans Joachim: Tallhover, Reinnbek bei Hamburg 1986, S. 220

4 Schädlich, Hans Joachim: Mal hören was nocht kommt , Reinbek bei Hamburg  1995, S. 25f.

5 Mal hören was noch kommt, S. 15

6 Mal hören was noch kommt, S. 20

7 Schädlich, Hans-Joachim: Schott,  Reinbek bei Hamburg 1992, S. 186

8 Schott, S. 331f.

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