Nov 2011

Uwe Kolbe

Abendland

Die Mediziner operieren Tag und Nacht. Sie beugen sich über Wunden, die auch sie bisher nicht kannten… Ein Anästhesist steht am Bett eines Kindes, eine halbe Stunde lang, in der Hand eine Spritze, reglos, unansprechbar.
Wolfgang Bauer in einem Dossier aus Misrata, Libyen, DIE ZEIT 14. April 2011

Am 8. April 2011 hatte ich einen durchgehenden Zug genommen, um für die Bahnfahrt so viel wie möglich Zeit zum Lesen und vielleicht zum Arbeiten herauszuschinden. Als kleines Ritual hatte ich wegen des obligatorischen Kaffees das Bordbistro aufgesucht. Hinter dem Tresen die Person weiblichen Geschlechts wütete lautstark, weil ihr statt einer funktionierenden Maschine für Tee und Kaffee nur Thermoskannen geliefert worden waren. Während alles ringsum auf das Ende des Anfalls wartete, hatte sich Schritt für Schritt eine Frau mit grüner Notarztjacke an mir vorbeigeschoben, die sagte nun leise: „Deeskalation.“ Ich nickte: „Wie beim Polizeieinsatz.“ Sie lächelte. Nachdem wir beide unser Heißgetränk hatten entgegennehmen dürfen und saßen, hörte ich sie hinter meinem Rücken telefonieren. Man sollte sie aus dem Einsatz nehmen. Ja, sie wäre jetzt dreißig Stunden im Einsatz, ja, und jetzt auf dem Weg nach… Davor erst aus Tokio retour. „Nehmt mich aus dem Einsatz!“ wiederholte sie leise, aber deutlich. Dass sie Tokio erwähnte, elektrisierte mich. Ich wendete mich um, sie signalisierte, ich könne sie ansprechen. „Sie waren in Japan?“ „Ja, ich bin vor ein paar Tagen zurückgekommen.“ „Waren Sie dort beruflich? Ich habe das eben mitgehört, dass Sie gerade schon überlang im Einsatz sind – der Schriftzug auf ihrem Rücken ist also ernst?“ Ein zweites, sanftes Lächeln und dazu der gerade Blick aus grauen Augen trafen mich unerwartet und nagelten mich fest. Es sprudelte nur so aus mir heraus, wie das vor Ort wäre, die Informationspolitik der japanischen Regierung sei doch eine Katastrophe für sich, eine einzige Verschleierung, nicht wahr? Die Kollegen dort, bestätigte sie, die japanischen Ärzte, die sie in Fukushima getroffen habe, die wären in Einwegschuhen und Papieranzügen und mit papierenem Mundschutz unterwegs gewesen. So seien sie durch das Wasser gestapft. „Sie wussten genau, was sie taten“, sagte sie. Dass sie sterben würden, ergänzte ich für mich. „Das Tabu ist so groß. Über uns, über die ausländischen Kollegen in den Schutzanzügen haben sie gelacht.“ Ihr Tonfall war gleichbleibend ruhig, die Aussprache dialektfrei klar. Wie nebenbei listete sie auf, wo sie noch im Einsatz gewesen sei, in Bosnien, in Tschetschenien, in Afghanistan. Die Erwähnung der Kriegs-Schauplätze der jüngsten Vergangenheit ließ mich stumm abschweifen zu einem Freund, der als Reporter überall dort gewesen war, Dossiers und Bücher mit dem füllte, was er gesehen hatte, mit dem jeweils aktuellen Gruselkabinett der Gegenwart. Wie oft hatte ich gestaunt über sein Bedürfnis, sich gerade dort aufzuhalten. Ich sollte vielleicht manchmal über mich staunen, der ich nicht nur mit Interesse, sondern auch mit Genuss gerade diese Texte lese. Die ruhigen Augen, das Lächeln der Frau blieben mir zugewandt. Meinen Oberkörper halb gedreht, konnte ich sie genauer in Augenschein nehmen, ihr kurz geschnittenes, weich liegendes, silbrig graues Haar, die runde Nase, das feine Lächeln. Sie ließ es in derselben einfachen und grundruhigen Weise geschehen, wie sie auch das Gespräch wieder aufnahm.
Gefäßchirurgin sei sie, so wäre es zu dieser Arbeit gekommen. Sie könne das eben. Wo andere amputierten, vermöge sie noch etwas, kann sie manchmal retten, ein Bein, einen Arm. Ich schaute unwillkürlich auf ihre Hände. Selbstverständlich würde ich sie feingliedrig nennen. Die schönen, ovalen Nägel waren sauber kurzgeschnitten. Mein Blick glich ungefragt das Bild mit dem Ton ab, obwohl ich keinen Gedanken auf Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit verschwendete.
Ihr hätte auch schon einmal einer das Leben gerettet. Das sei in Afghanistan gewesen, auf einem Markt. Ein junger Mann sei als Attentäter schon ausgemacht gewesen von den Soldaten, blitzschnell richteten sich von überall her Schnellfeuergewehre auf ihn. Er verharrte aber unschlüssig, umstellt, wie er war. Sie habe sich eins der Gewehre geben lassen, es in seinem Gesichtsfeld auf den Boden gelegt und sei so unbewaffnet auf ihn zu gegangen. Er habe die Hand am Auslöser gehalten. Als sie Schritt für Schritt näher kam, habe er am ganzen Körper gezittert. Sie hätten sich nur in die Augen geschaut. Schließlich habe sie ganz nah vor ihm gestanden. Er habe die Hand vom Auslöser genommen und begonnen, den Sprengstoffgürtel abzulegen. Kurz darauf wurde er festgenommen. Im Verhör sagte der Achtzehnjährige später, er hätte um das Leben der Frau, um ihr Leben gefürchtet.
Es waren dieselben Augen, genau die Augen, in die ich gerade schauen durfte. Ja, durfte, denn ich genoss es. Aus ihnen sprachen Ruhe, Selbstgewissheit, Kraft, Vertrauen, Sicherheit. Und all das übertrug sich auf mich, in dem entspannten Beieinander einer Zugfahrt vor allem wahrnehmbar als Schönheit, als ein einziger Luxus. Reihe ich die Eigenschaften ihres Blicks aneinander, entsteht eine Phalanx von Klischees. Aber der Person gegenüber brauchte es keins, kam kein Stereotyp auf, überhaupt kein Bedürfnis nach Bezeichnung. Deshalb zweifelte ich auch keinen Moment und glaubte, was ich hörte.
Wieder ein Anruf auf ihrem bronzefarbenen Telefon. Ich hatte keinen Klingelton gehört. Das Gerät war das einzige, was an ihr hätte auffallen können. Sie bediente es sehr diskret. Wenn sie es benutzte, verschwand es beinahe in ihrer Hand, sonst lag es ganz dicht bei ihr, ein flaches Kästchen wie eine metallische Zigarettenschachtel für zehn Orientzigaretten.
Sie fragte mich nach meinem Beruf. Als ich den wie üblich auf zweierlei Weise bezeichnet, finanzamtliche von wirklicher Beschäftigung, den ehrenhaften Beruf des Schriftstellers von einem Leben als Dichter unterschieden hatte, wechselte sie mit einem mehr gestischen als lautlichen Seufzer zum Feld der schönen Künste. Sie mache neben ihrem Beruf auch Musik. Auf die Frage nach dem Instrument sagte sie, dass sie Harfe spiele. Jedoch ginge es ihr damit wie allen, bei denen ein Beruf zugunsten des anderen zu kurz kommt. Ich musste es so verstehen, dass sie es sich auch anders herum vorstellen könnte. Obwohl es schon eine Anmaßung war, so weit zu deuten, nur weil ihr Lächeln kurz ins Melancholische changierte. Sie sei mit Musikern befreundet, unter anderem mit den Wiener Symphonikern. Später übrigens kam sie kurz durcheinander und überlegte, doch nein, es seien die Symphoniker, nicht die Philharmoniker. Sie komme fast nie zum Musizieren. In Kabul übrigens… „Wissen Sie, in Kabul gab es ein Opernhaus. Ja, wirklich, man denkt es nicht, es gab eines. Das ist zerbombt worden, aber die Instrumentenkammer blieb durch ein Wunder erhalten… Ich habe einem Mann den Arm amputiert, der war Geiger dort. Wegen meiner eigenen Beziehung zur Musik, deshalb habe ich gesagt, wenn er aufwacht, benachrichtigt mich. Man sagte mir Bescheid, ich ging hin. Er weinte. Ich sah ihn an und weinte auch. Unsere Gesichter waren sich ganz nah. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass ich wusste, wie es ihm als Musiker jetzt ging. Ich habe um ihn geweint, auf sein Gesicht hinab. Später hörte ich, seine Frau wolle mich sehen. Ich dachte zuerst, was wird sie wollen, in dem Land, dessen Sitten so streng sind, was will sie von der ausländischen Frau, die ihrem Mann einen Augenblick so nah war? Wird sie eifersüchtig sein? Ich war etwas bang. Wir trafen uns. Sie hatte Blumen dabei. Sie hatte von der Frau gehört, die um ihren Mann geweint hatte. Sie wollte sich bedanken.“
Hier im Abendland – es jubilierte in mir, als sie das Wort benutzte – wäre alles so anders. Wenn man viel im Ausland sei, unter extremen Bedingungen Menschen erlebte, dann verstehe man manchmal gar nicht mehr, wie und warum es hier so anders sei. Einmal, erzählte sie – ob ich die Lister Meile kenne, ob ich Hannover kenne; nein, sagte ich, nur die Passerelle am Hauptbahnhof, die Uni, eigentlich nichts –, einmal sei sie früh da durch gekommen und eine alte Frau hätte laut um Hilfe geschrien. Eine jüngere habe sie festgehalten und auch geschrien. Die Passanten hätten kaum aufgeschaut, während es doch früh zur Geschäftszeit war, die Läden offen, die Straße voll. Typisch! Sie sei also hingegangen. Wie sich herausstellte, war die jüngere Frau Apothekerin und die Achtzigjährige, mit der sie kämpfte, hatte etwas aus ihrer Apotheke gestohlen. Sie selbst habe nun erst die Polizei gerufen und dann in dem Kabbeln der kräftigen Alten den Arm schmerzhaft umgedreht, so, dass das Gelenk sich verdrehte. (Sie machte es mir vor.) Die habe gezetert und, als die Polizei kam, sie bezichtigt, sie habe sie verletzt. Ihre Bodyguards hätten bezeugen müssen, wer sie sei. Hier im Abendland… Ich ahnte, sie hatte etwas anderes gemeint, etwas ganz anderes erzählen wollen. Ich fühlte es, ich wusste es ganz bestimmt. Denn ich stecke selbst voll von schiefen, banalen, falschen Beispielen. Wenn es gut geht, erkennen wir einander ausgerechnet an denen.
Vor Jahren hätte sie mit der Familie in Norwegen Urlaub gemacht. Ein Hubschrauber sei am Himmel aufgetaucht, ihr Sohn habe sich hingeworfen, im Schnee den Engel gemacht und sich gefreut, dass der Hubschrauber einmal nichts mit seiner Mutter zu tun hätte. Da wäre ihr Beeper losgegangen. Es ging um einen Einsatz bei dem Tsunami, damals in Südostasien. Sie wurde nach Thailand gerufen. (Wir schrieben also Dezember 2004.) Ihre Kinder hätten innerhalb von wenigen Stunden durchgesetzt, dass sie auch mitfliegen konnten. Das hätte sie sehr beeindruckt. Sie wären jetzt, nach dem Medizinstudium, aber noch vor den letzten Abschlüssen, auch mit in Japan gewesen.
Wie sie sich manchmal nach Alltag sehne, nach einem Leben hier, unter normalen Bedingungen, nach ruhigen Tagen mit der Familie, nach Ferien. Ich fragte fast nichts, nicht nach dem Mann, den sie kurz erwähnt hatte, der offenbar dem gleichen Beruf nachging, nicht genauer nach den beiden Kindern, die vom Alter her nah beieinander sein dürften. Mehrfach hatte sie Pressekonferenzen erwähnt, hie und da und dort, früh und spät, erneut die Bodyguards. Ich fragte nicht, ich war kein Journalist. Ich zweifelte keinen Moment, und so gab es keinen Grund zu insistieren, nachzuhaken. Der Zufall hatte uns zusammengeführt. Für meine Verhältnisse hatte ich sowieso schon eine Grenze überschritten. Und ich war auf eine Person getroffen in einem Augenblick, wo sie offensichtlich Schranken aufzuheben bereit war. Ich erzählte ihr, dass ich Sarajevo kenne und, wie einfach die Verhältnisse überhaupt oft liegen, wenn man vor Ort ist, da beispielsweise die von Bergen umgebene Stadt betrachtet und die in der Stadt verteilten Hochhäuser, das leichte Spiel der Heckenschützen, der „Sniper“ im Nu begreift – allein in den ersten zwei Jahren der Belagerung starben über 250 Zivilisten, Frauen, Kinder, oft beim alltäglichen Überqueren der Hauptverkehrsstraße. Ich musste auch noch mit ihr teilen – es sprudelte wieder –, wie sehr mich damals die Fernsehbilder aus Srebrenica erwischt hätten, das Weinen der hilflosen Blauhelmsoldaten vor laufender Kamera… Da hatte ich vielleicht etwas wahrgenommen von der Welt, in der sich die Frau bewegte, die mir hier mit ihrem Glas Tee gegenübersaß und nun leise weitersprach.
Sie sei, erzählte sie, als radikale Pazifistin zum Militär gekommen. Am ersten Tag im Dienst (sie lachte bei der Erinnerung) hätte sie hinten auf der Uniformjacke ein Verkehrsschild mit rot durchgestrichenem Gewehr aufgenäht getragen. „Ja, wirklich, so war das, ich konnte nicht anders!“ Noch am selben Tag musste sie beim Kommandeur antreten. Sie hätte ihm ihre Einstellung dargelegt und gesagt, sie könnte auch wieder „zu Neudeck“ gehen, sprich: zum Team der Cap Anamur. Kurz darauf war sie, statt entlassen, befördert worden. Ihre Kollegen standen stramm vor ihr, wie sie danach ankam, einer nach dem anderen. Sie habe unwillkürlich lachen müssen und alle angesteckt damit. Sie konnte nicht aufhören. Dieses lange Lachen miteinander begründete von da an den Zusammenhalt in ihrer Einheit. Sie gingen kollegial und gleichberechtigt miteinander um bis zum heutigen Tag. Nach außen sei die Form gewahrt. Ringsum, die anderen Militärs, die sie schließlich beschützten, mit denen sie zusammen im Einsatz waren, das wären sehr gute Leute. Sie hätte auf diese Art, mit dem leiblichen, sechsunddreißig Väter. Da, wo sie im Einsatz sei, wäre sie die einzige Frau.
Ihr Telefonkistchen hatte sie, für mich unhörbar, erneut gerufen. Sie würde schon hier aussteigen, nicht wie geplant an der Endstation des Zuges. Wir wünschten einander eine gute Reise und auch Glück. Da stand sie, die zierliche Frau, in ihrer grünen Jacke mit der ausgebleichten Aufschrift „Notarzt“ und sagte, schon im Gehen: „Tja, das Leben ist ein Abenteuer.“
Kaum war sie außer Sicht, öffnete ich mein Notizbuch, versuchte, dem tiefen Eindruck mit der Flachheit von Wörtern nachzuhängen oder besser beizukommen, und fuhr weiter mit dem Zug einer sauberen Großstadt mit durchschnittlicher Sterberate entgegen, wie sie typisch sind für das Abendland.
Dem wäre nichts hinzuzufügen, wenn ich nicht hinterher, beim Recherchieren, gezweifelt hätte. Ihr Dienstherr ist das Militär. Arbeitet sie, trägt sie Mundschutz. Ihr Berufsstand posiert nicht vor Kameras. Ein Leben wie ihres kennt keine Normalität, offenbar nicht einmal in Pausen zwischen den Einsätzen. Ihre Welt ist die ganze, doch punktiert von Tragödien, von denen wir Bruchstücke aus den Medien kennen. Immer aufs Neue sind wir erschüttert, gewiss, doch die Bilder überlagern sich. Bei ihr ist es offenbar anders, Orte und Bilder gerinnen zu Anekdoten. Hat sich hier jemand etwas ausgedacht und auf hohem Niveau gespielt? Ich leide seit der Begegnung unter der Unglaubwürdigkeit der Begegnung selbst. Jäh stellte sich damit ein ganz anderes Thema. Ob ich mir nicht gewünscht habe, eine solche Person entstiege der Zeitung? Sie war ein Traum, ihre Ruhe und Schönheit, ihre Einfachheit. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie da saß vor dem dünnen Bistro-Tee zwischen A und B, eine vollkommene Illusion, eine Unmöglichkeit. Und doch kann ich es datieren, kann die Zugnummer heraussuchen und noch einige Details, die ich hier verschwiegen habe, weil ich ein Kind meiner Zeit bin und um die hässliche Gegenwart weiß. Diese Frau lebt mitten darin und tut, was ihr aufgegeben ist qua Talent, Wissen, Erfahrung, Engagement und dem, was man Bestimmung nennt. Ich habe unter ihrer Präsenz durchaus die tiefere Müdigkeit wahrgenommen. Sie hat sie nicht verborgen. Und ich habe sie sagen hören, wonach sie sich sehnt: nach alltäglichen Tagen mit ihrer Familie, jenseits der Kriege, irgendwo hier, im erfreulich langweiligen Abendland.
Gab es je ein Opernhaus in Kabul? Kein Zweifel. Es waren ihre Augen. Kein Zweifel.

Berlin und Sarajevo, Mai 2011

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