Nov 2011

Mirko Bonné

Fünf Gedichte
   

Die Vogelbeerglocke

Ein Ebereschenstrauch
steht im Morningside Park
unterhalb der Kathedrale
von St. John the Divine.

Die Beeren leuchten.
Der graue Bau, der brannte
vor zehn Jahren, ist eingerüstet.
Noch fehlt ein Jahrhundert
bis zum Glockenturm.

Die Beeren leuchten
rot im Oktober, verschmäht
von Staren der Upper West Side,
die in lauten Wolken südwärts
nach Staten Island ziehen.

Sie sind die älteren Zeugen.
Vertrau auf die Vögel: Stumm
im Wind klingt die rote Glocke
aus leuchtenden Beeren.
   
   
Ende September

Denk nur, heute Abend soll es stürmen.
Schon seit Monaten nicht war die Wut im Gras
so spürbar. Bedenklich die Heidschnucken,
ein taumelndes Pfauenauge.

Keine Krähe zu sehen. Sie sammeln sich
in der Totenstatt, um morgen mit Steinzeitflüchen
Ausflügler zu erschrecken. Nimm die Jacke,
gehn wir noch mal mit den Hunden.

Auf der Treppe der Staub, der Graue Star.
Die Land- und Seekarten von allen grünen Inseln
waren immer Gemälde. Aber was wir lieben,
liegt warm unter der Schädeldecke.

Für Adrijana Bohocki

   
   
Irgendwo in Harlem

Das letzte Haus an der Madison Avenue
ist ein verrußter Ziegelbau: Nummer 2066.
Besprüht mit Graffiti, parkt davor ein Van,
ausgeschlachtet im Regen über Harlem.

An Gusseisengittern entlang geht es hinauf
in einen kleinen Park: Bänke, Turm, Glocke.
Unter den Pappeln ein Rund, wo auf Mauern
Gestalten sitzen, hinabblickend nach Harlem.

Weit entfernt führt die hellblaue Hebebrücke
über den Fluss: Dort stehst du und wartest.
Überlegst. Oder du springst, fällst tief, tiefer
und landest bestimmt irgendwo in Harlem.
   
   

Klee

Lass das Netz
der Spinne.
Es leuchtet dem Sommer
den schläfrigen Weg.

Josua stapft
mit sieben augenbrauenlosen
Schülern des Herrn
um Jericho.

Entzifferbar
erkaltende Sonnenblumen,
Großväterzeichen,
in Grenzsteine geritzt.

Diesseitig bin ich gar nicht fassbar.
Und über das Licht
gespensternd
Starres und Unbewegtes.

Sieh die Blitze,
die Fische.
Sie messen das Reich aus
lebendiger Linien.
   
   

Libellenbrief

Fahrige Fremde, die auftaucht
im Dunst als die Verkörperung
des Dunsts, hat sie, wie ich,
die Jugend versäumt? Lernte
kein Griechisch, aß nicht täglich
einen Apfel, sondern schwirrte.

Der Bewegungen der Pappeln
folgen ihre Manöver. Augen –
Augen – Tauperlen – Tau.
Sieht sie her, wird sie zackig,
Garten ihr Schwebflug, eckig,
o Briefkasten Sonnenfleck.
   
   


Mit freundlicher Genehmigung des Autors aus dem 2013 bei Schöffling erscheinenden Gedichtband “Traklpark”.

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