Jan 2011

Richard Wagner

“Dass ich nicht Zubehör bin des Landes”
Über die kürzeste Geschichte von Hans Joachim Schädlich

Die kürzeste Geschichte von Hans Joachim Schädlich, die ich kenne, steht in seinem Debütband Versuchte Nähe. Sie hat anderthalb Seiten. Das wäre in etwa der Umfang eines Klappentextes zu einem Roman. Wenn man bedenkt, wie selten Romane das halten, was der Klappentext verspricht, ist der Vergleich nicht ganz falsch. Trotzdem trifft er den Kern der Sache nicht. Soll der Klappentext doch die Neugier für den Roman wecken, der wiederum von der Kurzgeschichte, wenn sie gut genug ist, überflüssig gemacht werden kann.

Die kürzeste, mir bekannte Geschichte von Hans Joachim Schädlich “Schwer leserlicher Brief” handelt von einem Ausreiseantrag, ein Thema, für das Autoren sonst Romane verbrauchen.

Nein, die Kurzgeschichte ist nicht das Gegenteil des Romans, wie man an dieser Stelle annehmen könnte, sie ist bloß seine Widerlegung. Sie tröstet nicht, und sie beflügelt auch nicht. Sie kann einem zwar jeden Zweifel nehmen, aber sie schützt einen vor nichts. Weil die Kurzgeschichte sich ihre Kürze leisten können muss, hat sie die Kunst des kurzen Prozesses zu beherrschen. Trivial gesagt: Kurzgeschichten können grausam sein.

Weil, wenn nicht gelten soll, was meine Sache ist, ich an falschem Ort wohne, lässt Schädlich den Protagonisten seiner Geschichte sagen.

Im Grunde ist alles schneller erzählt, als man denkt, und nichts, was passiert, hält für den Leser länger vor als eine Anekdote. Der Akteur in der Geschichte Hans Joachim Schädlichs ist ein Mann, der den schwer erkrankten Vater im Westen besuchen möchte und dessen Antrag ohne Angabe von Gründen abgelehnt wird. Daraufhin entscheidet er sich zur Ausreise, was er ursprünglich gar nicht vor hatte. Von kurzem Aufenthalt wäre ich zurückgekehrt, heißt es lapidar.

Der Staat hat mit seinem Einspruch den Bürger zum Untertan gemacht. Es geht schließlich nicht darum, ob dieser Staat jemandem eine Reise genehmigt oder verweigert, es geht darum, dass es den Staat grundsätzlich nichts angeht, ob, und wann, und wie, und unter welchen Umständen, der Bürger auf Reisen geht. Ein Staat, der seine Bürger zu Untertanen macht, ist kein Rechtsstaat, er ist eine Diktatur. Um das zu erklären, sollte eine Kurzgeschichte ausreichen.

“Ich kenn mich nicht aus in Akten”, sagt die Person bei Schädlich. “Aber so viel weiß ich: dass ich nicht Zubehör bin des Landes, nicht bleiben muss, wo ich geboren bin.“

Beide, Roman und Kurzgeschichte, handeln, wenn man so will, von einer Eskalation. Die Kurzgeschichte benennt die Gründe, der Roman schildert sie nicht selten auf Teufel komm raus. Der so genannte DDR-Roman folgt zwar nicht in allem der Staatsräson, er versucht sie uns aber gelegentlich ans Herz zu legen, und wird so zur bloßen DDR-Literatur.

Ja, die Kurzgeschichte ließe sich durchaus als Genre der Aufklärung bezeichnen, obwohl sie eine spätere Erfindung ist. Geht man davon aus, dass ihren Kern die Anekdote bildet, so wäre sogar die Enzyklopädie, genau genommen, eine Kurzgeschichtensammlung. Gerade auf die Anekdote aber ist die Diktatur schlecht zu sprechen. Vor allem auf deren Zuspitzung zum Witz.

Die vorliegende Kurzgeschichte aus dem Jahr 1976 erklärt uns klipp und klar, warum die DDR kein Rechtsstaat war, warum sie keine Legitimation besaß. Anderthalb Seiten reichen dafür aus. Schädlichs exemplarische Geschichte gehört, wie man früher gesagt hätte, in die Schulbücher.

Dass man beim Schreiben ans Lesen denkt, ist ein Skandal. Ein unvermeidlicher. Den Brief, den der Titel der Geschichte in Erwähnung bringt, gibt es in vier Kopien. Drei davon sind für die einschlägigen Adressen der Staatsmacht bestimmt, die vierte, so der Autor, für das Gedächtnis, nur entzifferbar durch den Absender. Es ist der letzte Durchschlag. Das, was dem Helden der Geschichte bleibt. Und plötzlich ist es nicht nur die Diktatur, von der hier die Rede ist, sondern auch ihr Nachleben.

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