Jan 2011

Christine Cosentino

Einige Gedanken zu Christa Wolfs Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud und Kathrin Schmidts Du stirbst nicht: Selbstfindungsanalysen im Gewand der fiktiven Autobiographie

Zwei von östlichen Autoren geschriebene Werke machten in den letzten Jahren auf sich aufmerksam. Im Jahre 2009 veröffentlichte Kathrin Schmidt ihren mit dem Buchpreis ausgezeichneten Band Du stirbst nicht. Roman [1], den man mit gutem Gewissen als fiktive Autobiographie bezeichnen kann. Ein Jahr später erschien Christa Wolfs “Roman” Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud [2] auf dem Büchermarkt, der –- wie auch immer erzähltechnisch unkonturiert — ebenfalls in diese Kategorie hineinspielt. Ein Vergleich dieser beiden Werke ist nicht uninteressant. In Schmidts Buch ist die DDR nur ein kleiner Teil des Erfahrungsbereichs der 1958 geborenen Autorin; bei Wolf (Jahrgang 1927) dagegen wird der untergegangene Staat — der komplexen politischen Weltanschauung der Autorin entsprechend — das emotionale Zentrum des Geschehens. Vorrangiger Anlaß für das Entstehen von Stadt der Engel ist die Auseinandersetzung der Autorin mit ihrer Stasi-Akte; in Schmidts Du stirbst nicht wiederum löst ein sehr persönliches Erlebnis, das Erleiden eines Hirnschlags der Autorin/Protagonistin im Jahre 2002 eine existentielle Krise aus, die von Sprach- und Erinnerungsverlust gekennzeichnet war.

Beide Werke umkreisen die Problematik einer prekär gewordenen Identität und können als Krisenbücher, Bücher der Suche, Selbstfindung oder Neudefinierung, kurz, Bücher über das Überleben bezeichnet werden. In diesen Selbstbefragungen oder Selbstanalysen geht es um emotionale Erschütterungen und den Wunsch, Vergessenes oder Verdrängtes wieder zu beleben und neuzubewerten. Sicherlich handelt es sich hier, das muß gesagt werden, um oberflächliche Ähnlichkeiten. Angesichts der ausgeprägt starken autobiographischen Komponenten in diesen beiden Erinnerungsbüchern ist es jedoch die romaneske Erzähltechnik, die ins Auge sticht und den Leser zu einem Formvergleich anregt, ja, im Falle Christa Wolfs nolens volens auch zum Hinterfragen des Ausgesagten provoziert. Schreibt Schmidt einen klinisch nüchternen Bericht über das Überleben, so gestaltet sich bei Wolf der Erzählstrom selbst als Thema, “weil wir anders, ohne die wohltätige Gabe des Erzählens, nicht überlebt hätten und nicht überleben könnten.”(13) Kathrin Schmidt stellt das Ringen mit der Krankheit dar und wie sich die Protagonistin im Heilungsprozeß menschlich wandelt; Christa Wolf wiederum versucht, eine Neudefinierung der Ich-Sprecherin durch den Erzählakt zu gestalten. Es ist das Bekenntnis einer Schriftstellerin — so ein Kritker — “die sich vor allem verwandelt durch das Erzählen selbst, das Erzählen von einer ganzen Epoche.” [3]

Von September 1992 bis Mai 1993 hielt sich Christa Wolf als Stipendiatin mit einem Forschungsprojekt über eine Emigrantin an der Getty-Stiftung in Los Angeles auf. Dieser Aufenthalt garantierte zumindest eine räumliche Distanz zu Literaturstreit und zu der Zeit der Einsichtnahme in ihre umfangreiche Opferakte, ebenfalls, überraschend, in eine schlanke, wenn auch letztlich unerhebliche Täterakte, die Entsetzen in ihr auslöste, denn sie konnte sich an Kollaboration mit der Stasi nicht erinnern. Wolf studierte die Akten, bevor sie in die USA abreiste. Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr während ihres Aufenthaltes in Los Angeles von der Täterakte. Aus Tagebüchern, Notizen und Erinnerungen rekonstruiert Wolf dann in einer Zeitspanne von nahezu zwanzig Jahren, also ungefähr von 1992/93-2009, diese für sie schmerzhafte Phase, die im Zeichen von Schuld, Scham und Verzweiflung stand. Die Autorin, deren ganzes literarisches Lebenswerk um das Thema von Gedächtnisprüfungen kreiste, mußte sich fragen: “Kann man das vergessen? Daß sie mir einen Decknamen gegeben haben? Daß ich einen Bericht geschrieben habe.”(205) Ihr US-Aufenthalt gibt Gelegenheit zur Selbsterforschung und führt — so darf der Leser annehmen — zu Akzeptanz des Geschehenen und Genesung.

Wolf analysiert das für sie Horrende im Kontext ihrer weltanschaulichen Überzeugungen, die auf drei historisch-politischen Erfahrungen basieren: der Nazizeit, der DDR, der BRD. Im Zentrum ihrer Lebensprägung steht jedoch die DDR, auf die sie aus der Perspektive der Nazizeit und der Bundesrepublik zurückblickt. Sie entwirft das Bild einer DDR, die sie bei aller Kritik am realen Sozialismus und im Angesicht des Fehlens einer Alternative zum Sozialismus immer noch als das potentiell “bessere Deutschland” einschätzt, ein Konzept, das an jene Frühzeit nach dem Zweiten Weltkrieg anschließt, in der die DDR in den Augen vieler als Hort utopischer Hoffnungen galt. Kurz, Wolf erlebt Los Angeles und Amerika auf der Folie der DDR und ihres eigenen Verstricktseins in Stasiaktivitäten. Welche künstlerische Form die angemessenste für die Gestaltung von Akteneinsicht und Selbstbefragung gewesen wäre, soll hier nicht zu Diskussion stehen und sei dahingestellt. Fest steht, daß Wolf die für sie traditionelle Form vielschichtiger Konturenverwischung wählte, mit der sie zu DDR-Zeiten die Zensur zu umgehen versuchte.

In dem vom Verlag formulierten Klappentext des Buches taucht die Genrebezeichnung “Roman” auf. Im Titel oder Untertitel wird jedoch nicht darauf hingewiesen. Allerdings weist die Autorin in einer Anmerkung vor Beginn der Handlung darauf hin, daß alle

Figuren in diesem Buch, mit Ausnahme der namentlich
angeführten historischen Persönlichkeiten […] Erfindungen
der Erzählerin sind. Keine ist identisch mit einer lebenden oder
toten Person. Ebensowenig decken sich beschriebene Episoden
mit tatsächlichen Vorgängen.

Das erstaunt, denn die beschriebene fiktive Figur in Stadt der Engel gleicht der veritablen Christa Wolf aufs Haar. Behält man im Auge, daß das dem Titel beigegebene Versatzstück “the overcoat of Dr. Freud” Psychoanalyse, also Spurensuche, befreiende Erinnerung und ein Sich-Stellen suggeriert, dann wächst das Erstaunen des Lesers, denn in erklärenden Interviews bezeichnete Wolf ihre spezifische Schreibmethode wiederholt als “Gewebe, wo die Fäden ineinanderwirken und übereinanderliegen. […] Mit einer solchen Struktur kann man auch vieles Ungesagte und Nicht-Sagbare ausdrücken.” [4] Das gilt für das Schreiben von Literatur, und mit dieser Methode des angedeuteten Ungesagten hatte Christa Wolf zu DDR-Zeiten Meisterwerke geschaffen. Die Autorin verqickt den Schreibprozeß aber ausdrücklich mit der Psychoanalyse, der Dreiheit “Erinnern, wiederholen, durcharbeiten,” [5] d. h. mit dem Mantel des Dr. Freud, “eine[r] warme[n] Schutzhülle” (155). Sie reflektiert: “Was mag dieser Mantel alles in seinem Innenfutter versteckt halten und nach und nach freisetzen?” (177) In einem der vielen erklärenden Interviews, die sich auf den Roman beziehen, erklärte Wolf nachdrücklich: “Ich halte viel von der Psychologie, z. B. von einer guten Therapie. Ich würde trotzdem denken, daß die Literatur, wenn sie wirklich in die Tiefe geht, noch umfassender eine Psyche erforschen kann.” [6] Schreiben als Therapie, dem allerdings das therapeutische Gespräch, das Sich-etwas-von der-Seele-Reden, mit Freunden, im besonderen mit ihrem Hauptgesprächspartner Peter Gutman, vorausgeht: “Es geht mir besser, wenn ich darüber reden kann.” (289)
Im Prozeß der schonungslosen Selbstbefragung im Handlungsgefüge wirkt die Gewebe-Methode multipler Differenzierungen allerdings kontrolliert; erinnernde “therapeutische” Aussagen weichen ins Vage aus. Die Methode verrätselt, und so bezeichnet dann auch ein Kritiker Wolfs Gewebe-Struktur in Stadt der Engel als “fadenscheinig” [7]. Der Gedanke an nicht-gestaltetes Ungesagtes, doch wohl Unangenehmes, Bedrückendes erhärtet sich, wenn die Autorin in diesem Kontext ihre Identität hinterfragt. Das bezieht sich einmal auf den Wechsel zwischen den Erzählstimmen Ich (der Gegenwartsebene) und Du (der Erinnerungsebene), der keinen merklich distanzierenden Abstand erkennen läßt, zum anderen auf die vielen “Ichs”, von denen die Erzählerin geplagt wird:

Wer soll dieses Ich sein, das da berichtet. Es ist ja nicht nur,
da? ich vieles vergessen habe. Vielleicht ist noch bedenklicher,
da? ich nicht sicher bin, wer sich da erinnert. Eines von den vielen
Ichs, die sich, in schneller oder langsamer Folge, in mir abgelöst haben,
die mich zu ihrem Wohnsitz gewählt haben. (214)

Der Leser wird sich fragen, wer dieses Ich ist, das einerseits schonungslose Aufrichtigkeit für sich reklamiert, andererseits innerhalb der Erinnerungsarbeit den selbstgewählten Decknamen Margarete niemals erwähnt. Scharfe Kritik von westlicher Seite ließ nicht auf sich warten. Lothar Müller z.B. erklärte die Gedächtnislücke in den gestalteten Erinnerungen mit ideologisch motivierten Verharmlosungen, und Joachim Güntner bemängelte die “weich abgefederte Selbstbefragung” [8] der Autorin. Jedoch auch ein ansonsten wohlwollender Kollege aus DDR-Tagen, Wolfgang Thierse, bemerkte Unzulängliches, Lückenhaftes: “Margarete […] Wer hatte den Namen gewählt. Das bleibt offen.” [9] Warum also führt der reklamierte “schonungslose”, “selbstentäußernde” Erinnerungsprozeß nicht so recht zum Kern? Ist das strenge moralische Selbstverständnis der Autorin/Ich-Erzählerin bzw. ihr Ruf gedächtnisschürfender Sensibilität und Wahrheitssuche der Grund, der die mystifizierende Erinnerungsakrobatik verursacht? Oder ist es — wie ein Kritiker es faßt — das “dominierende Über-Ich” [10] der Autorin? War Scham der Grund, Verdrängung, Selbstschutz, Angst vor dem Stigma oder einfach wirkliches Vergessen, weil die Sache nicht für wichtig gehalten wurde und weil ja auch die Stasi noch in den Anfängen steckte?

Wie bereits ausgeführt hat Wolfs Stadt der Engel so auffallend autobiographische Züge, daß man nicht umhin kann, letztere Fragen in der Biographie der Autorin verankert zu sehen. Das würde bedeuten, daß man das Werk mit dem Etikett der Autobiographie bzw. der fiktiven Autobiographie belegen müßte, ein Genre, das voll von Fallstricken für Autor und Leser ist, d.h. voll von selektierten Teilwahrheiten, Selbsttäuschungen, bewußten/unbewußten Schönfärbereien, Auslassungen, Verdichtungen. Günter de Bruyn faßte es 1995 in Ausführungen über Wahrheit und Dichtung nüchtern: “Jeder macht sich eine Lesart seines Lebensweges, vielleicht auch seine Lebenslegende zurecht.” [11] Drastischer formulierte es im Jahre 1990 der amerikanische Theoretiker Timothy Dow Adams:

All autobiographers are unreliable narrators, all human beings
are liars […] I believe autobiography is the story of an attempt
to reconcile one’s life with one’s self and is not, therefore, meant
to be taken as historically accurate but as metaphorically authentic.[12]

Doch Wolfs Buch versteht sich als Fiktion, als Roman. Die spezifische verrätselnde Gewebestruktur, die die Autorin für die Gestaltung ihrer Lebensbilanz wählte, erhöht das unverbindliche Vage zusätzlich.

Die Ich-Erzählerin erreicht im Laufe der Handlung den Punkt, wo sie den Mantel des Dr. Freud nicht mehr braucht. Sie zieht das Fazit: “Im Übrigen ist die Zeit der Klagen und Anklagen vorbei,und auch über Trauer und Selbstanklage und Scham muß man hinauskommen.”(93) Sie scheint sich im therapierenden Sprech- und Schreibakt also gewandelt zu haben, ja, sie findet in der Stadt der Engel ihren eigenen Schutzengel, eine schwarze Bedienstete mit dem vielsagenden Namen “Angelina”, von der sie größeres Entspanntsein, Leichtigkeit und spöttisches Lächeln in kritischen Situationen zu lernen scheint. Handelt es sich folglich um eine Neudefinierung des erzählenden Ichs, eine Aussöhnung, das Erkämpfen eines neuen Selbstbewußtseins oder aber um anhaltende Verunsicherung? Der verschwommene Erzählstil beläßt es bei der Offenheit.
Wolfs Buch ist eine Inventur ihrer Erfahrungen in der Zeit des Faschismus, der Zeit des “Antifaschismus” in den Anfangsjahren der DDR, dann des Übergangs in den bundesdeutschen Erlebnisbereich. Die letzte westliche Phase beginnt mit dem Verriß ihres ersten, im vereinigten Deutschland veröffentlichten Werkes Was bleibt (1990), einer Erzählung, in der die Autorin ihre eigene demütigende Stasiobservierung gestaltet. Das Werk löste den ost-westlichen Literaturstreit aus und kam auf der Folie der eigenen Verstrickung der Autorin im Jahre 2010 erneut ins Gespräch. Generell ist Die Stadt der Engel als Lebensbilanz der berühmten Ich-Erzählerin/Autorin zu begreifen, stellt somit eine faszinierende subjektive Dokumentation der DDR-Historie dar und zwar so, wie die veritable Christa Wolf sie erlebt hatte: voll Hoffnung und Illusionen, Irrtümern, Naivität, Loyalität, Zwiespalt und Enttäuschung. Sie erinnert sich an biographische Episoden in den fünfziger Jahren, in denen die noch sehr junge stalinistische Genossin als illegale Wahlhelferin in Westberlin agitierte und verhaftet wurde; sie berichtet über die sich verstärkenden Verhärtungen in der Kulturpolitik der DDR, über die um ihren Roman Nachdenken über Christa T. kreisenden Denunziationen, denen sie 1969 auf dem 6. Schriftstellerkongreß ausgeliefert war; oder sie erinnert die Protestaktion gegen die Biermann-Ausbürgerung im Jahre 1976. Die Ich-Erzählerin/Autorin skizziert einen Prozeß langsamer, schmerzvoller Desillusionierung, einen Prozeß, der zeigt, wie sie, die kritische, trotzdem loyale DDR-Bürgerin, die ihr Land in vielen Funktionen öffentlich repräsentiert hatte, von den Staatsorganen rigoros isoliert und durch die Jahre hinweg bespitzelt wurde. Und sie berichtet mit Begeisterung von jenem für sie erhebenden Moment im November 1989, in dem noch einmal für einen kurzen Moment die Utopie eines “wahren” Sozialismus greifbar nahe war. Von dieser Warte einstiger Hoffnungen ist das von Kritikern oft monierte Statement der Ich-Erzählerin: “Wir haben dieses Land geliebt.”(73) durchaus verständlich. Auch die im Grunde belanglose Täterakte aus tiefster Vergangenheit hätte im spezifischen Kontext der frühen Verblendung und Verirrung der Autorin sicherlich an Bedeutung verloren, wäre die für dieses Thema gewählte verrätselnde Gewebestruktur nicht zum Stolperstein für die Kritiker geworden. Vermutlich hätte auch die Anschuldigung vorrangig westlicher Kritiker — laut Wolf die schrille “Hexenjagd” — ein schnelles Ende gefunden. Das gilt ebenfalls für Wolfs häufige Hinweise in der Presse, daß die Furore um ihre Täterakte einer der Anlässe für das Entstehen des Buches gewesen sei [13]. Diese wirkten wie eine moralistische Selbstverteidigung, die sich aus dem Abstand der Jahre erübrigt hätte. So gerät das an Informationen und interessanten Einsichten reiche Buch ins Kreuzfeuer ernst zu nehmender Kritik, aber auch endloser gehässiger Querelen und Anschuldigungen, für die Christa Wolf selbst ihren Feinden die Belege lieferte.

Auf völlig anderen Tonlagen gestaltet Kathrin Schmidt in ihrem Roman Du stirbst nicht die Schwierigkeiten der Erinnerungsarbeit und die Entdeckungsreise in das eigene Selbst. Die Rekonstruktion des Ich und das Füllen der Lücken — “Sie hat kein Bild von sich”(13) — vollzieht sich in einem Zwischenbereich im Krankenhaus, in dem sie keine Kontrolle über Körper und Sprache hat. Wolfs Zwischenbereich wäre die Stadt Los Angeles, in der sie “jemanden such[t]”(48), denn “ich bemühte mich, mich so genau wie möglich kennenzulernen”(68). Kathrin Schmidts Werk ist keine Betroffenheitsliteratur. Die Autorin protokolliert ohne Sentimentalität oder Wehleidigkeit den mühsamen Prozeß der Selbstwiederzusammensetzung. Ihr Ton ist nüchtern, sachlich, nicht selten selbstironisch. Der Kontrast zu Wolfs von demonstrativem Leiden getönten Text könnte nicht größer sein. Man erinnere sich, daß Wolfs Erinnerungsaufarbeitung in Los Angeles im therapeutischen Schreibakt verankert ist. Schmidts Erinnerungsarbeit dagegen ist kein quälender Prozeß, denn, so äußerte sie sich in einem Interview: “Das wurde nie Selbsttherapie..[…] Das muß daran liegen, dass ich das verarbeitet hatte, als ich anfing zu schreiben. Und die Distanz war groß genug, dass ich völlig unbelastet schreiben konnte.” [14]

In den Wolfschen Erinnerungen vermißt man auf weite Strecken Distanz und Gelassenheit; der vorherrschende Ton ist stark emotional eingefärbt, vermutlich deshalb, weil die Reflexionen primär Ich-erschütternde politische Krisen und Wendepunkte in der DDR-Geschichte betreffen. Für die ebenfalls DDR-geprägte Autorin Schmidt dagegen, die sich im November 1989 in Berlin für das Projekt “Vereinigte Linke” am runden Tisch engagierte, ist es ein Hirnschlag und der damit verbundene Zusammenbruch, der ihrem Werk eine völlig andere Dynamik gibt. Sie kommentiert lakonisch: “Die DDR ist nicht mehr das eigentliche Thema. Ich war in einer Situation, die mich nicht mehr nach dieser Herkunft fragen ließ […] Das war so existentiell, dass das keine Rolle mehr spielte.” [15] Hinzu kommt, daß bei Schmidt kein traumatischer Identitätsbruch mit der Wende verbunden war. Sie sieht es nüchtern: “Bei mir kam anders als bei vielen nicht die tiefe Resignation. Ich habe gedacht, wenn das jetzt auf Anschluss hinausläuft, ist das zwar nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe, aber wir sind dann zumindest in der Weltgeschichte angekommen, in der sich alle aufhalten, und sind nicht mehr unter dieser Glocke.” [16]

Schmidts Roman Du stirbst nicht weist viele autobiographische Parallelen auf. Sie berichtet in der dritten Person Singular und nennt ihre Protagonistin Helene Wesendahl. Doch hinter der fiktiven Figur erkennt man deutlich die biographische Folie der Kathrin Schmidt. Die 1958 in Gotha geborene Autorin war alt genug, die DDR-Zeit bewußt als Erwachsene zu durchleben. Was fehlt, ist der utopische politische Glaube und der Schmerz des Verlusts. Sie studierte Psychologie und machte 1981 ihr Diplom. Jahrelang arbeitete sie als Kinderpsychologin in Berlin. Dann begann sie, Gedichte zu veröffentlichen. 1998 erschien ihr erster Roman, Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. Im Jahre 2005 folgte ihr zweiter Roman Sebalds schwarze Katzen, das erste literarische Produkt nach einem mit Sprach- und Gedächtnisverlust verbundenen Hirnschlag. Der Roman Du stirbst nicht verarbeitet die Rückeroberung der Welt der Kathrin Schmidt, der Welt einer Ehefrau, einer Mutter, einer Schriftstellerin. Auch die Genesung der Protagonistin Helene Wesendahl schöpft unverkennbar aus dem Erfahrungshintergrund der Autorin, denn es gibt viele Ähnlichkeiten: Autorin und literarische Figur sind gleichaltrig, sind DDR-geprägt, haben Psychologie studiert, sind Schriftstellerin und Mutter von fünf Kindern; beide erleiden im Jahre 2002 eine Hirnblutung und müssen sich nach Erinnerungs- und Sprachverlust ihr Leben neu zusammensetzen. Beide erkämpfen sich in diesem Prozeß eine “freiere” Sprache und einen “Gesinnungs- und Verhaltenswandel”. Andere Geschichten jedoch, die sich um dieses biographische Grundgerüst ranken, sind frei erfunden, so z.B. der angedeutete Wunsch der Protagonistin, sich von ihrem Mann zu trennen. “Ich hatte nie vor, mich von meinem Mann zu trennen. Auch eine Liebesgeschichte zu einer Transsexuellen gab es so nicht,” erklärt Schmidt. Alles andere sei authentisch: “Ich habe eigentlich die ganze Krankheitsgeschichte nach dem Erwachen aus dem Koma eins zu eins abgebildet. Auch wenn ich davon abstrahieren wollte, konnte ich kein Fitzelchen wegnehmen, weil sie einfach da war als Erfahrungshintergrund.” [17] Der Roman ist das distanzierte Protokoll des Erlebten.

Die Schriftstellerin Helene Wesendahl erwacht auf der Intensivstation eines Krankenhauses aus dem Koma. Sie hat die Sprache verloren, kann keine Zusammenhänge mehr herstellen, hat ein zersplittertes Bewußtsein; Wörter und Erinnerungsfetzen gehen ihr splitterhaft durch den Sinn, doch die Bedeutung hat sich von den Wörtern gelöst. Sie benennt die Dinge anders und verwechselt Wörter. Dann kommen in einem langwierigen Rehabilitierungsprozeß die Erinnerungen und auch die Sprache zurück. Minutiös wird der Zustand des Ausgeliefertseins und der Aphasie geschildert: die Ängste und die Hilflosigkeit der Patientin, deren Zucken, Stammeln und Sabbern, deren völliges Angewiesensein auf das Krankenhauspersonal, auf Rollstuhl und Rollator. Monatelang sucht sie in ihrem Gedächtnis und langsam findet sie die verlorene Zeit wieder. Sie nähert sich — schockiert — ihrer prekär gewordenen Identität. Wollte sie sich nicht in einer Ehekrise von ihrem Ehemann Matthes trennen, Matthes, der sie jeden Tag besucht und fürsorglich betreut? Und was war ihr Verhältnis zu der transsexuellen Frau Viola, die sie ein Jahr vor dem Hirnschlag kennenlernte; Viola, die einst Viktor war, der sich zu einer neuen Identität bekannte und zur Frau wurde, ein neues Wesen, das mit Macht die Fundamente ihrer Ehe erschütterte? Was zog sie an diesem Menschen an? Viola/Viktor ist im Handlungsgefüge eine konkrete Person, die stirbt, als Helene im Krankenhaus liegt. Vielleicht ist diese Figur aber auch als personifiziertes Konzept entworfen, als Gestaltung eines Wunschbildes, des Muts, aus der Rolle zu fallen und sich zu etwas Neuem zu bekennen? Ging es der Autorin Schmidt bzw. ihrer Protagonistin Wesendahl um die Veranschaulichung des Geschlechterkampfes, um die Problematik der Rollenverteilung in der Ehe? Ging es ihr um ein in den Dimensionen von “Mann” und “Frau” sich verhärtendes festgefahrenes Denken, das der Lösung bedarf? Die Entscheidung ist dem Leser überlassen.
Doch deutlich erkennbar ist, daß sich in der Phase der Rekonvaleszenz und in der Rückeroberung der Welt die Identität der Protagonistin wandelt. Sie reflektiert über frühere Verhaltensmuster, ändert dann z.B. die Beziehung zu ihrem Mann: “Sie sieht ihn sein Sauer-Scharf-Süppchen schlürfen. Kein Gedanke an einen Vorwurf. Wieder so ein Gesinnungs- und Verhaltenswandel. Oder hat es damit zu tun, dass die Leine gekappt ist, an der sie einander in Schach hielten?”(323) Sie bilanziert: “Einssein zu zweit, ohne Leine und Besetzung des anderen.”(326) Die eingeübte “Matthesordnung” existiert nicht mehr, und was früher wichtig war, verliert an Bedeutung. Auch dazu gibt es eine Parallele im Leben der Kathrin Schmidt,denn auf die Frage, ob die Krankheit sie leichter und heiler gemacht habe, antwortete sie:

In gewisser Weise schon. Ich habe ja noch Schwierigkeiten, Wörter
zu finden. Das Sprechen ist schon noch anders als vorher. Weil ich
irgendwie viel bewußter sprechen muß, nach Wörtern suchen muß.
Andererseits ist das Sprechen aber auch freier als früher, weil ich
mir kaum noch Gedanken mache, wie das, was ich sage ankommt.
Da habe ich früher lieber gleich den Mund gehalten. Das ist völlig
weg. Ich weiß heute, worauf es ankommt, und worauf es nicht
ankommt. Was andere sagen, ist mir heute ein bißchen egaler als früher. [18]

Das Sichbefreien vom kalkulierten, berechneten Wort suggeriert Wachstum und Reife: in der Ehe, in der Familie, in der Gesellschaft, und — last but not least — in der Bestätigung der künstlerischen Identität. Schrieb Schmidt selbsttherapeutisch und unter Mühen den Roman Sebalds schwarze Katzen (2005), um sich als Schriftstellerin neu zu beweisen, so verfaßt Helene Wesendahl — ebenfalls noch im Krankenhaus — einen gut formulierten Text zu Büchners Lenz.

Christa Wolf und Kathrin Schmidt warten mit fiktiven Autobiographien auf, die sie als Romane bezeichnen. Wolf kommentiert im Spiegel-Interview, “dass [sie] gerade bei den Teilen, die diese Konflikte [die Auseinandersetzung mit der eigenen Person und die öffentlichen Reaktionen darauf] schildern, nahe an den tatsächlichen Ereignissen entlang erzähle.” [19] Doch sie wählte eine künstlerische Form, mit der sich Nicht-Sagbares, Ungesagtes vermitteln läßt. Der therapeutische “Overcoat des Dr. Freud” hätte aber auf Sagbares und Gesagtes zielen müssen. Die verwischende Struktur führt zu Vagem. Auch Schmidt berichtet über eine im Biographischen verwurzelte Krise; sie bildete diese aber im Wesentlichen “eins zu eins ab.” Da sie die therapeutische Selbsthilfe bereits im Schreibprozeß des Romans Sebalds schwarze Katzen abgeschlossen hatte, stand sie der Gestaltung ihrer Identitätskrise in Du stirbst nicht mit einer Haltung von mit Distanz, Humor und Spott gegenüber, eine Haltung, die jegliches Selbstmitleid ausschaltete. Der Ton ist offen, ohne Zimperlichkeiten, nüchtern und klar. So entsteht das minutiöse Protokoll einer Heilung, die der Leser mit Staunen nachvollziehen kann. Schmidt macht “Unsagbares” sagbar. Im Falle Christa Wolfs scheiden sich die Meinungen der Kritiker. Für Leser, die ihr nicht wohlwollen, verschwindet Unangenehmes, Aufwühlendes hinter einer halbfiktionalen Fassade im unkonturierten Nebulösen.

Endnoten

1 Kathrin Schmidt, Du stirbst nicht. Roman , 7. Auflage (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009). Zitate daraus befinden sich im Text der Arbeit.

2 Christa Wolf, Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (Berlin; Suhrkamp, 2010). Zitate daraus befinden sich im Text der Arbeit.

3Volker Weidermann, “Der ungeteilte Himmel”, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Feuilleton 13. Juni 2010.

4 Susanne Beyer und Volker Hage, “Wir haben dieses Land geliebt”, Der Spiegel 24 (2010), S. 135-138; hier 136.

5 Siehe z.B. Frauke Meyer-Gosau, “Was hilft?,” Literaturen Juli/August 2010. S. 66-67; hier 66.

6 Hanns-Bruno Kammertöns und Stephan Lebert, “Was war der Geschmack ihrer Kindheit, Frau Wolf?” Zeit-Magazin 27, 1.7. 2010, S. 24-28; hier 28.

7Arno Widman, “Wahrheit und Wahn. Eine Flucht, die sich als Suche ausgibt: Zu Christa Wolfs ‘Stadt der Engel’,” Frankfurter Rundschau 14. Juni 2010.

8 Joachim Güntner, “Weich abgefederte Selbstbefragung,” Neue Zürcher Zeitung 22. Juli 2010.

9 Wolfgang Thierse, “Fremd zieh ich wieder aus,” Der Freitag. Kultur 24. Juni 2010.

10 Oliver Prohlmann, “Wie konnte ich das vergessen?” Der Tagesspiegel 14. Juni 2010.

11 Günter de Bruyn, Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie (Frankfurt a. M.: Fischer, 1995), S. 38.

12 Timothy Dow Adams, Telling Lies in Modern American Autobiography (Chapel Hill, 1990), S. ix.

13 Siehe u. a. Der Spiegel 24, 136.

14 Elmar Krekeler, “Wie ich die Sprache wiederfand. Buchpreis-Trägerin Kathrin Schmidt über ihren Roman ‘Du stirbst nicht’,” Die Welt 14. 10. 2009.

15 Jörg Magenau, “Auf der Suche nach dem verlorenen Leben. Porträt”, Literaturen April 2009. S. 54-58; hier 55.

16 Kathleen Fietz, Kristina Pezzei und Detlev Schilke, “Ich wusste schnell wieder, wer ich bin. Montageinterview,” TAZ 4. 1. 2010.

17 Walter Fabian, Schmidt, “Kathrin Schmidt im Gespräch. Das ist ein anderes Schreiben, als es vorher war”, Poet, Herbst 2009. S. 175-183; hier 181.

18 Krekeler, “Wie ich die Sprache wiederfand….”

19 “Wir haben dieses Land geliebt …,” 137.

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