Aug 2016

Über das „Gefühl des Glücks …einfach raus zu sein“: Von Ostberlin an die Ostküste Amerikas. Ein Gespräch mit Wolfgang Müller, dem langjährigen Herausgeber des transatlantischen Online-Journals Glossen

von Frederick Lubich

Müller
Wolfgang Müller vor der Küste von Virginias Eastern Shore:
Der Kapitän von Glossen im wohlverdienten Ruhestand

 

 

Frederick Lubich: Lieber Wolfgang, von den letzten drei Generationen, die von Deutschland in die Vereinigten Staaten ausgewandert sind, gehören wir beide altersmäßig mehr oder weniger zur zweiten Generation. Im Gegensatz zur ersten Generation, deren Vertreter vor allem als Verfolgte des Dritten Reiches hier in Amerika eine neue Heimat gefunden haben, sind wir nach dem Krieg in einem geteilten und mit sich verfeindeten Deutschland aufgewachsen. Vergleicht man unsere Lebensgeschichten, so weisen sie sowohl Gegensätze wie auch Gemeinsamkeiten auf, die zusammengesehen auch immer wieder die Geschichte Nachkriegsdeutschlands repräsentativ illustrieren können, und so möchte ich zu Beginn unseres Gesprächs auch einige ihrer Leitmotive stichwortartig miteinfließen lassen. Du bist in Ost-Deutschland aufgewachsen und vor allem vom dortigen politischen System sozialisiert worden. Ich bin in West-Deutschland aufgewachsen und in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren nicht zuletzt auch von der bundesrepublikanischen Studentenbewegung mitgeprägt worden. Erzähl von Deiner Jugendzeit.

Wolfgang Müller: Trotz der besonderen Situation in Berlin, wo man bis zum Bau der Mauer am 13. August 1961 wie selbstverständlich zu Fuß, per Straßenbahn, S-Bahn und U-Bahn von Ost- nach Westberlin und umgekehrt gelangte, waren einerseits meine Familie und deren Umfeld und andererseits auch der Staat DDR der prägende Nexus, in dem ich aufgewachsen bin.
Der etwa zehn Jahre jüngere Uwe Kolbe hat mit dem Titelgedicht seines ersten Lyrikbandes Hineingeboren(1980) auch mein Verhältnis zu diesem Vaterland ziemlich genau getroffen:

Hineingeboren

Hohes weites grünes Land,
zaundurchsetzte Ebene.
Roter
Sonnenbaum am Horizont.
Der Wind ist mein
und mein die Vögel.

Kleines grünes Land enges,
Stacheldrahtlandschaft.
Schwarzer
Baum neben mir.
Harter Wind.
Fremde Vögel.

    Ich benutze das Wort „Vaterland“, weil Ostberlin und DDR das Land meines Vaters war, denn obwohl meine Eltern und die meisten meiner Verwandten nach dem Krieg erst einmal am Rande der Hufeisensiedlung in Britz wohnten, also im amerikanischen Sektor Berlins, bin ich in Ostberlin aufgewachsen. Das lag daran, dass mein Vater als „alter Genosse“ – er war seit 1930 Mitglied der KPD – es vorzog, in den russischen Sektor umzuziehen, als er die Anordnung der amerikanischen Militärverwaltung an alle Polizisten bekam – mein Vater war auf Anweisung des kommunistischen Antifa-Komitees Polizist geworden – entweder aus der kommunistischen Partei auszutreten und in die SPD einzutreten oder Arbeit und Dienstwohnung zu verlieren. Ironischerweise musste er nach dem Umzug in den russischen Sektor ein von der SED initiiertes Parteiverfahren über sich ergehen lassen, weil diese neue KPD mit anderem Namen ihre Leute dort belassen wollte, wo die Macht der „Imperialisten“ angesiedelt war, und die lag u.a. bei der Polizei im Westen.
Für mich war dieser Umzug bis in die fünfziger Jahre weitgehend unbedeutend, weil Kinder in Ost-und Westberlin anfangs sehr ähnlich aufwuchsen, nämlich auf den Straßen und in den Ruinen der Stadt, wo sie nach „Schätzen“ suchten, nach Waffen stöberten, gefundene Gewehrpatronen auseinandernahmen und das Pulver anzündeten, Kippen sammelten, um sie dann in Zeitungspapier neu gerollt zu rauchen, in Lebensmittelläden Bonbons klauten, auf der Straße Fußball und Hopse spielten, auf die nicht vorhandenen Väter warteten und auf die Mütter, die sich irgendwie und irgendwo ein wenig Geld verdienten, bis sie gegen Abend nach Hause kamen. Und dann waren da die Albträume von Luftangriffen und brennenden Häusern, die viele der Kriegs- und Nachkriegskinder heimsuchten.
Im Gegensatz zu anderen Kindern hatte ich insofern Glück, als ich einen Vater hatte, der noch dazu seinem Sohn gegenüber sehr sanft und tolerant war. Allerdings war er Stalinist und glaubte an das neue, sozialistische Deutschland Stalinscher Prägung im Osten, das über kurz oder lang, so meinte er in Übereinstimmung mit den „ehernen Gesetzen“ der Geschichte auch im Westen entstehen würde. Stalin war eben sein Held. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass er alle Zeitungsartikel zum Tode Stalins aus der Parteizeitung Neues Deutschland ausschnitt und in einem Pappkarton aufbewahrte.
Meine politische „Erziehung“ in der Familie erfolgte aber nie durch politische Standpauken, sondern eher ganz nebenbei durch Gespräche und Diskussionen im Freundeskreis meiner Eltern, und durch das, was die Schule und die staatseigenen Medien an Propaganda über das Land, in dem wir lebten, verbreiteten.
Soweit sie den Krieg überlebt hatten, wohnten viele dieser Freunde, die meine Eltern seit den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren aus dem linken Ruderverein „Freiheit“ kannten, im russischen Sektor. Andere waren im Westen Berlins zu Hause. Wenn sich die alten Freunde, zu denen auch einige Verwandte gehörten, trafen, wurde es oft spannend für mich, besonders wenn sie sich im verqualmten Wohnzimmer von Onkel Willy bei Schnaps und Bier über Politik stritten, z. B. über die Machtergreifung Hitlers und den Reichstagsbrand. „Als der brannte, hätten wir zuschlagen müssen“, sagte Onkel Ernst immer. „Wir hatten doch die Waffen in unseren Bootshäusern.“ „Quatsch“, widersprach mein Vater, „da war es schon zu spät. Wenn ihr uns nicht vorher schon verraten hättet, wäre diese ganze braune Scheiße nicht über uns gekommen.“ „Wer hat denn hier wen verraten“, entgegnete Onkel Ernst dann wütend. „Wer hat denn mit den Nazis beim großen Streik der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) gemeinsame Sache gemacht? Wir, die Sozialdemokraten oder ihr Kommunisten?“ Obwohl ich von all dem noch nicht sehr viel verstand, schon weil ich überwiegend mit dem Ansehen der bunten Bilder aus Westberliner Illustrierten beschäftigt war, blieben solche und andere Sätze fest in meinem Gedächtnis haften.
Richtig politisch wurde das Leben für mich jedoch erst später, als die DDR am 13. August 1961 eine Mauer um Westberlin errichtete, die mein Vater in der Nähe des Brandenburger Tors in Kampfgruppenuniform und russischer Maschinenpistole verteidigte, obwohl ihm klar war, dass er von nun an weder seine Schwestern noch seine Mutter im Westen besuchen durfte.
Wie auch die meisten Schüler meiner Oberschulklasse, war ich empört über den Mauerbau und gleichzeitig traurig. Denn vor dem 13. August waren viele von uns wie selbstverständlich unbehelligt in Westberliner Kinos gegangen, den Kudamm rauf- und runtergeschlendert und nun einem wichtigen Teil unserer Freiheit beraubt. Für Teenager ein unerträgliches Gefühl.
Aber da sich die politischen Zügel bis circa 1965, dem Jahr in dem ich mein Abitur machte, etwas lockerten, entstand bei mir und vielen Altersgenossen schließlich die Überzeugung, dass der Sozialismus in der DDR im Vergleich zum Kapitalismus das bessere Gesellschaftssystem sei, wenngleich es nicht wirklich „unseres“ war. Wolf Biermann brachte dieses Gefühl in einem frühen Lied auf den Punkt: „Er ist für den Sozialismus / und den neuen Staat / aber den Staat in Buckow / den hat er gründlich satt.“

 

Frederick Lubich: Du schreibst in Deinem Lebensabriss über Deine Jugend als eine Zeit der „politischen Bauchschmerzen“, die Du als „philosophischen Existentialismus“ diagnostiziert hast. Auch wir in West-Deutschland waren Mitte der sechziger Jahre noch vom französischen Existentialismus beeinflusst. So gründeten wir zum Beispiel an meinem Gymnasium eine Arbeitsgruppe für Philosophie, in der wir die Werke von Sartre und Camus lasen und mehr oder weniger begeistert debattierten. Ich kann mir andererseits gut vorstellen, dass Deine Existentialismus-Studien eher heimlich, still und leise unter der Bettdecke stattfanden.

Wolfgang Müller: Die politischen Bauchschmerzen waren tatsächlich chronisch, bezogen sich aber mit ein oder zwei Ausnahmen weniger auf den Existentialismus sondern eher auf die Diskrepanz zwischen dem, was uns von der Partei, den Zeitungen und der Schule erzählt wurde und der realen ökonomischen, kulturellen und politischen Situation, in der wir uns zurechtfinden mussten.
Eine Ausnahme, mit Bezug auf den Existentialismus, hatte bei mir mit einem Deutschaufsatz in der 11. Klasse zu tun, in dem wir ein Zitat aus dem Wallenstein interpretieren sollten: „Denn Recht hat jeder eigene Charakter, der übereinstimmt mit sich selbst. Es gibt kein andres Unrecht als den Widerspruch.“ Was erwartet wurde, war so etwas wie, dass jemand Unrecht hat und tut, wenn er gegen die Gesetze des Staates und der Partei verstößt, doch ich schrieb bewusst und sogar mit einem Gefühl des Stolzes genau das Gegenteil, weil ich mit diesen Worten der Gräfin Terzkys aus Schillers Stück gefühlsmäßig übereinstimmte. Damit kam ich, ohne es zu ahnen, Grundkonzepten des Existentialismus wie Selbstentwurf, Freiheit und Selbstbestimmung sehr nahe, was glücklicherweise meinen Deutschlehrer nicht störte.
Zu einem echten Problem wurde die “falsche Interpretation”, als ich den Aufsatz einem gleichaltrigen Mädchen aus der Ostberliner Käthe-Kollwitz-Oberschule gab, ohne zu ahnen, dass sie ihn weitergeben würde und er schließlich bei der Schulkommission des Stadtbezirks und schließlich bei der Partei-, Schul- und FDJ-Leitung der Kantschule im Berliner Stadtteil Lichtenberg, meiner Oberschule, landete. Jedenfalls wurde ich eines Tages aus dem Staatskundeunterricht herausgerufen und zum Schuldirektor beordert. Auf der Treppe zu seinem Zimmer kam mir mein Deutsch- und Klassenlehrer entgegen, der mir mit ernstem Gesichtsausdruck riet, dass es nicht gut wäre, in ein Maschinengewehrfeuer zu laufen. Aha, dachte ich, der Aufsatz. Als ich in das Amtszimmer des Direktors kam, saßen dort schon mindestens zwölf Personen um einen langen Tisch herum. Ich setzte mich auf den mir angebotenen Stuhl und wartete auf die Dinge, die da kommen sollten. Unsere Mathematiklehrerin, die gleichzeitig Freundschaftsratsvorsitzende, also “Chefin” der Freien Deutschen Jugend (FDJ) an der Schule war, eröffnete eine Art politischer Befragung mit der Bauchschmerzenfrage: “Wolfgang, wir haben gehört, dass Du gewisse ‚politische Bauchschmerzen’ hast. Erklär uns doch bitte, worum es sich dabei handelt.” Meine Güte dachte ich, soviel Aufwand und so viel Personal wahrscheinlich wegen dieses Aufsatzes, und was hatte das alles mit dem Maschinengewehrfeuer zu tun? Verwirrt versuchte ich, mich an ein paar “meiner politischen Bauchschmerzen” zu erinnern, aber mir fiel in meiner Aufregung einfach nichts ein, und von meinem Aufsatz wollte ich nichts erzählen, weil es auch meinen Deutschlehrer gefährdet hätte, der ihn akzeptiert hatte. Also am besten ablenken, Thema ändern, dachte ich mir. Schließlich „gestand“ ich ein, dass mir nicht klar war, warum die Rote Armee Mitte September 1939 von Osten her in Polen einmarschiert war. Die Lehrer und die anderen Leute am Tisch schauten einander verwundert an. Mit solcher Art Bauchschmerzen hatten sie nicht gerechnet. Ich hatte diese unangenehme geschichtliche Tatsache, glaube ich, auch erst einen Tag vorher im Radio gehört oder irgendwo gelesen. Da niemand so recht wusste, wie auf dieses Geständnis zu reagieren sei, wurde der Geschichtslehrer gebeten, mir die Sache zu erklären, was er dann schlecht oder recht auch tat.  An seine Erklärung kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich ließ mich auf jeden Fall freundlich lächelnd von ihm überzeugen. Und auf die weitere Frage der Pionierleiterin, einer Frau Lehmann, ob ich denn keine anderen „politischen Bauchschmerzen“ hätte, antwortete ich mit einem munteren “Nein”. Daraufhin wurde ich wieder in meine Klasse zurückgeschickt. Also kein Maschinengewehrfeuer, kein “Toter”, dachte ich. Erst später wurde mir klar, dass sie mich bei dieser Ansammlung von Personal, von dem ich mindestens die Hälfte nicht kannte, auf der Stelle auch von der Schule hätten relegieren können.
So endete diese absurde „Sache mit dem Existentialismus“ für mich eher harmlos. Als ich später erfuhr, dass eine Schülerin aus einer Parallelklasse ein Jahr davor wegen Tendenzen zum Existentialismus von der Schule verwiesen worden war, fühlte ich mich ein wenig wie der Reiter über den Bodensee in der Ballade von Gustav Schwab.
Es gab für eine kurze Zeit an der Schule auch andere, ernstere Diskussionen, z. B. über Pazifismus, als Bernhard Wickis Die Brücke für ein oder zwei Wochen in einigen DDR-Kinos lief. Pazifismus war ja besonders für die Jungs ein großes Thema, weil wir wussten, dass uns nach dem Abitur eine „Einladung“ von der Nationalen Volksarmee (NVA) ins Haus flattern würde. Außerdem gab es Diskussionen über Goethes Faust in der Studentenzeitung Forum, in den Weimarer Beiträgen und sogar bei uns im Deutschunterricht, weil Walter Ulbricht die DDR für eine Art Faust III hielt und er diese Interpretation des großen Weimarers der Bevölkerung verklickern wollte, um zu zeigen, dass die DDR selbst durch das klassische deutsche Erbe legitimiert war.
Diskussionen im eher privaten Kreis entfalteten sich um Havemanns Vorlesungsreihe “Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme”, die er im akademischen Jahr 1963/64 an der Humboldt Universität hielt, aus der dann das Buch Dialektik ohne Dogma hervorging, in dem er auf der Grundlage physikalischer Erkenntnisse für Freiheit und einen undogmatischen Marxismus plädierte. Ich hatte das große Glück, mir über einen Freund, der schon studierte, eine Abschrift dieser Vorlesungen beschaffen zu können, die ich nach dem Lesen auch in der Schule weitergeben wollte, was aber nicht gelang, weil mir der Direktor, das Manuskript abschwatzte, als er es unter meinem Arm gesehen hatte. Er wolle es nur auch einmal lesen und würde es mir dann zurück geben. Natürlich habe ich es nie wiederbekommen. Bis heute weiß ich nicht, ob er mich schützen oder die Schule vor ideologischer Unterwanderung bewahren wollte.
Besonders schmerzhafte chronische „Bauchschmerzen“ hatten wir wegen des Verbotes der Rockmusik an den Oberschulen, die via American Forces Network (AFN), Radio Luxemburg, Sender Freies Berlin (SFB) und Radio im Amerikanischen Sektor (Rias) über die Mauer schwappte. In diesem „imperialistischen Kulturmüll“ sah die Partei die Gefahr einer Unterwanderung der marxistischen Ideologie, übrigens mit recht, denn wer hörte sich schon die Rolling Stones, die Beatles, die Zombies oder die Animals in den westlichen Rundfunkstationen an und zog sich am nächsten Morgen für die Schule das blaue FDJ-Hemd über. O-Ton Walter Ulbricht 1965: „Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.“

Frederick Lubich: Im Schützengraben des Kalten Krieges: In Deiner Altersgruppe in Ost-Deutschland mussten viele immer wieder Anwerbungsversuche der Staatssicherheit über sich ergehen lassen – Du allein hast drei durchgemacht – , in meiner Altersgruppe in West-Deutschland war es umgekehrt vor allem die sogenannte Außerparlamentarische Opposition, in der viele von uns aktiv waren, während einige darüber hinaus in den Sympathisantenkreis der Roten Armee Fraktion gerieten oder der Mitgliedschaft in dieser terroristischen Untergrundorganisation verdächtigt wurden. Wie hast Du Deine Jugendzeit politisch erlebt und überlebt?

Wolfgang Müller: Alle Fragen, die Du hier angeschnitten hast, sind ein „weites Feld“, um ein Wort von Theodor Fontane zu gebrauchen. Sowohl die APO, die Studentenbewegung und nach 1970 auch die RAF wurden von den Leuten meines Jahrgangs, die ich so kannte, nicht besonders ernst genommen. Zu den Gründen dafür gäbe es sehr viel zu sagen. Sicher scheint mir, dass uns unsere Altersgenossen im Westen mit wenigen, aber für mich wichtigen, Ausnahmen auch nicht ernst nahmen bzw. uns gar nicht wahrnahmen. Sie interessierten sich zwar für die blutigen Konflikte in fernen Ländern, was aber ein paar Kilometer weiter hinter der Mauer geschah, war für sie nicht so interessant; und wer wusste schon, dass man im Osten u. a. für ein paar Gedichte oder einen politischen Witz ins Gefängnis kommen konnte und dass wir „flächendeckend“, wie sich herausgestellt hat, von den „Kämpfern an der unsichtbaren Front“ observiert wurden. Dieses beiderseitige Desinteresse ist übrigens trotz der wenigen Tage der Utopie nach dem Fall der Mauer im November 1989 weitgehend geblieben.
Apropos Stasi, es stimmt schon, von 1965 bis zu meiner Flucht im April 1974 wollte man mich drei Mal anwerben. Das dritte Mal war besonders unangenehm, weil nach meiner Ablehnung der ominöse Satz fiel: „Wenn Sie in ihrem Leben einmal Schwierigkeiten bekommen, glauben Sie nicht, dass unser ‚Organ’ damit etwas zu tun hat.“ Die Schwierigkeiten kamen dann natürlich, aber das ist eine längere und auch wieder eher eine absurde und eigentlich auch komische Geschichte. Außerdem fand ich nach dem Fall der Mauer einen so genannten Operativen Vorgang (OV Konvent, 1969) bei dem es um verschiedene Treffen zuerst in einer Kirche und dann in meiner kleinen Dachwohnung zwischen einer Jugendgruppe der evangelischen Kirche in Bremen und einigen Jugendlichen aus dem Osten ging, die Mitglieder der Brandenburgischen Kirche waren, der ich übrigens nicht angehörte. Ich war so etwas wie ein „Quotenagnostiker“, der von zwei Teilnehmern, die meine Freunde waren, zu dem ersten Treffen „mitgeschleppt“ worden war. Natürlich war bei diesen Treffen auch die Stasi, durch einen Medizinstudenten, vertreten. Nach dem man die Akten einsehen konnte, stellten meine Freunde und ich mit einigem Erstaunen fest, dass die Stasi uns ursprünglich wegen „staatsfeindlicher Gruppenbildung“ belangen wollte, auf die 10-12 Jahre Zuchthaus standen. Am Ende kam es aber „nur“ zu einer Anklage wegen „staatsfeindlicher Hetze“ gegen einen meiner Freunde, der an der Humboldt Universität öffentlich seine Gedichte vorgelesen hatte, die dem Staat nicht genehm waren. Er erhielt „nur“ 2 ½ Jahre „Knast“ und wurde, nachdem er die Hälfte dieser Zeit abgesessen hatte, von der Bundesrepublik freigekauft.
Allerdings würde ich weder die Anwerbungsversuche noch den OV mit dem Kalten Krieg in Verbindung bringen; vielleicht eher mit dem „Krieg“ der SED gegen die eigene Bevölkerung und ihrer Angst vor Machtverlust durch „unsere Menschen“, wie sie ihre Bevölkerung nannte. Die Jahre 1953, 1956 und 1968 steckten den Usurpatoren der Macht bis zur Implosion der DDR ganz schön in den Knochen.

Frederick Lubich: Dein Vater war seit 1930 Mitglied der Kommunistischen Partei und zog nach Kriegsende mit der Familie von West-Berlin nach Ost-Berlin. Hat er in späteren Jahren diese ursprünglich so idealistische Entscheidung bereut?

Wolfgang Müller: Nein, mein Vater hat nie bereut, in den Osten gegangen zu sein, obwohl er der neuen, der DDR-Generation von Kommunisten immer auch ein wenig skeptisch gegenüber stand. Z. B. hat er an Feiertagen nie die DDR-Fahne aus dem Fenster gehängt, obwohl er mehrfach dazu aufgefordert worden war. Bei uns hing die rote Fahne aus dem Fenster. Er hatte nur einmal richtige, schwere „politische Bauchschmerzen“; und das geschah nach einer Nacht im Jahre 1961, in der die große bronzene Stalinstatue in Ostberlin abgerissen wurde, und die Straße, in der sie stand, nicht mehr Stalinallee hieß. Im Übrigen war er nicht nur stalinistisch, sondern wie Du schon sagtest, auch idealistisch und romantisch veranlagt. Er glaubte an die „große Sache“, obwohl es im Konsum oder der HO, oft weder das eine noch das andere Lebensmittel gab, wie ihm meine Mutter schimpfend berichtete. Aber das sah er nicht selbst; es war seine Frau, die einkaufen ging.

Frederick Lubich: „Wer in die Fremde will wandern, der muss mit der Liebsten gehen“. So wusste es schon der Freiherr von Eichendorff in seinem Gedicht „Heimweh“ und in seinem so doppeldeutigen Text „Schöne Fremde“ schwärmte er angesichts der verheißungsvollen Fremde(n) geradezu das Blaue vom Himmel. Wir beide sind seinem romantischen Rat prompt gefolgt, haben auf den Ruf der Vielversprechenden gehört und sind schließlich in der Tat an ihren schönen, südlichen Ufern hier in der Neuen Welt gestrandet. Du hast Deine einstige Entführerin in Ost-Berlin, ich die meine in Alt-Heidelberg kennengelernt. Aber wie konnte sich eine junge Amerikanerin aus der Hochburg des westlichen Kapitalismus überhaupt erst einmal hinter den Eisernen Vorhang in die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik verirren?

Wolfgang Müller: O je, das ist eine lange Geschichte. Vielleicht nur so viel: Jane, die junge Amerikanerin aus Iowa, hatte in ihrem „Junior Year Abroad Program“ Kurse zur europäischen Integration und Osteuropa in Belgien belegt und besuchte über Ostern 1969 ihre Schwester, die in Westberlin Deutsch studierte und bei einem Besuch in Ostberlin einen Freund von mir kennengelernt hatte, einen Greifswalder, der damals in Ostberlin Theologie studierte, übrigens der gleiche Freund, der bei dem Treffen mit den Bremern dabei war. So wurde die Schwester mit mir und unserem ganzen Freundeskreis bekannt. Was lag da näher als Jane in diesen Freundeskreis einzuführen. Und dann war da diese Party im Ostberliner Paulinum, wo der Freund studierte, auf der ich Jane kennenlernte. Die Verständigung war anfangs etwas mühsam, weil sie kein Deutsch konnte und mein Englisch sich weitgehend auf politisches Vokabular beschränkte, also auf die Wörter, die man in DDR-Lehrbüchern fand, wie z. B. „Klassenkampf“, „Arbeitslosigkeit“, „kapitalistische Länder“, „Imperialismus“, „sozialistisches Weltsystem“, „diplomatische Anerkennung der DDR“ usw. Dieses Vokabular eignete sich nicht besonders gut zum Flirten. Aber dafür konnte ich ein wenig Gitarre spielen, „House of the Rising Sun“ und Sachen dieser Art. Kurz und gut, wir verliebten uns in einander auf den „ersten Blick“, genauso, wie man es aus einigen Filmen kennt. Wegen ihres Studiums in Belgien und ihres Engagements in der Anti-Vietnamkriegsbewegung war sie schon auch sehr neugierig auf die DDR, die ich/wir eher langweilig aber auch bedrohlich fanden. Es dauerte nicht sehr lange, bis wir beschlossen, zusammen zu bleiben und vereinbarten, dass sie nach ihrem Collegeabschluss versuchen würde, erst einmal ein Jahr in der DDR zu verbringen. Nach vielen Mühen, Schwierigkeiten, Lachen, einigen Tränen und am Ende einem glücklichen Zufall gelang das. Sie bekam befristete Stellen als Englischlehrerin am Institut für Sprachausbildung, an der Akademie der Wissenschaften und schließlich eine unbefristete Stelle an der Humboldt Universität. Doch uns wurde sehr bald klar, dass wir aus politischen und persönlichen Gründen nicht in der DDR bleiben konnten, zumal man uns nicht erlaubte, dort zu heiraten. Am Ende blieb nur noch die Flucht.

Frederick Lubich: Du hattest mit Deiner „Liebsten“ obendrein eine abenteuerliche Romanze, was ihre geradezu schon filmreife Hollywood-Dramatik betrifft. Erzähl uns Genaueres.

Wolfgang Müller: Nach einem reichlich naiven Versuch via Bulgarien auf einer Fähre nach Istanbul zu kommen und einem am Ende aussichtslosen Plan mit Hilfe eines gefälschten amerikanischen Reisepasses von der CSSR aus ein westliches Land zu erreichen, hatten wir Ende 1973 die „Rohfassung“ eines Fluchtplanes, den wir nach zwei, drei Fehlversuchen so verbessern konnten, dass wir glaubten, eine kleine Chance zu haben: Ich müsste in Berlin als amerikanischer Soldat durch den Checkpoint Charlie in den Westen gelangen. Das bedeutete unter anderem, dass Jane irgendwie eine amerikanische Uniform für mich bekommen und sie in den Osten schmuggeln musste. Außerdem musste sie herausbekommen, wann die Wachablösungen am Checkpoint Charlie stattfanden. Und, vielleicht am wichtigsten, dieser Plan würde sich nur realisieren lassen, wenn ein Doppelgänger, ein echter amerikanischer Soldat, gefunden werden würde. All das und am Ende auch die Flucht selbst gelang, obwohl nicht alles so lief, wie wir uns das vorgestellt hatten. Zum Beispiel wurde es ein Problem ¬– ich konnte ja nicht mit dieser Uniform das Haus verlassen, in dem ich wohnte –, dass ich die amerikanische Uniform nicht dort anziehen konnte, wo es vereinbart worden war. Als Alternative blieb nur eine der Toiletten im Pergamonmuseum, wo ich auch den amerikanischen Soldaten treffen sollte, der mich zum Checkpoint Charlie fahren würde. Doch leider ging der Sachenwechsel dort nur mit Schwierigkeiten, weil eine der beiden Toiletten wegen Reparatur geschlossen war und vor der anderen eine Schlange von Leuten wartete. Nachdem mich Ned, der amerikanische Soldat und spätere Freund, mit seinem VW-Bus an der Ostseite des Checkppoins absetzte, wurde es zu einem weiteren Problem, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich durch den Checkpoint laufen musste, um zum Westausgang zu gelangen, denn ich war ja nie den umgekehrten Weg in den Osten gegangen. So lief ich in Richtung Wachturm. Als ich dem näher kam, hörte ich durch das untere offene Fenster einen Offizier aufgeregt mit irgendjemandem telefonieren; offenbar war mein Doppelgänger entdeckt worden. Es gab also für die Grenzsoldaten der DDR einen amerikanischen Soldaten zu viel in Ostberlin. Da ich aber, mir nicht gleich bewusst, nun fast schon am Ausgang war – ein anderer Offizier, der vor dem Wachturm stand, hatte wohl meine Verwirrung bemerkt und mir befohlen, nach links zu gehen, wo tatsächlich der Ausgang war – , hatten die Grenzsoldaten nur etwa dreißig Sekunden bis eine Minute, um zu entscheiden, ob ich oder mein Doppelgänger „echt“ war. Ich hatte Glück, sie trafen die falsche Entscheidung. Mein Doppelgänger aber wurde ein paar Stunden festgehalten, bis die amerikanische Militärpolizei von russischen Offizieren gerufen wurde und die amerikanische Identität des Doppelgängers bestätigte. Ned fuhr mich dann noch zu einer nahe gelegenen U-Bahnstation, wo Jane und einige Freunde schon auf uns warteten. Ich glaube, wir beide fielen mehr aus dem Bus als wir ausstiegen und lagen uns und mit den Wartenden dann alle lachend und weinend in den Armen.

Frederick Lubich: Du hast nach Deiner Flucht in den Westen sowohl an der Freien Universität in Berlin als auch an der Universität in Madison, Wisconsin studiert. Was waren Deine ersten Erfahrungen im Westen und vor allem an seinen Institutionen der höheren Bildung?

Wolfgang Müller: Ich kannte Westberlin natürlich schon von vor der Mauer. Trotzdem, alles war nach fast dreizehn Jahren seit dem Mauerbau sehr anders. Die Stadt war unwahrscheinlich aufregend und anregend für mich, ich habe diese Zeit in „meiner Stadt“ sehr genossen. Hinzu kam ein Gefühl des Glücks „raus zu sein“ aus Ostberlin, „einfach raus zu sein“ und der immer wiederkehrende Gedanke, „die können mir nichts mehr anhaben“ – was allerdings so nicht stimmte, denn die Stasi operierte in Westberlin so frei wie im Osten. Gleichzeitig war Westberlin aber auch rein physisch eine große Belastung. Das Laute dieser modernen Stadt, die Schnelligkeit, die grellen Farben, die ständige Werbung und die prachtvollen Angebote in den Läden machten mich einfach schwindlig. Am Anfang hielt ich es z. B. in großen Läden und Kaufhäusern einfach nicht aus und musste sehr schnell wieder hinausgehen. Auch die dumme, und natürlich nicht erfüllbare Erwartung, dass einer meiner Ostberliner Freunde oder sogar meine Eltern an dieser oder jener Straßenkreuzung um die Ecke kommen würden, machte mir zu schaffen. Wahrscheinlich erfuhr ich nun den Schmerz der Trennung durch die Mauer von der anderen Seite her.
Nach meiner Flucht hatte ich zwei drei „temp jobs“ und studierte fast zwei Semester Japanologie und Germanistik an der FU. Doch das war eine große Enttäuschung. Ich erwartete, dort Freunde zu finden, mit denen man gut wissenschaftlich arbeiten konnte, die sich vielleicht auch dafür interessierten, warum ich aus Ostberlin abgehauen war, wie es im Osten war und die mich und Jane eventuell sogar einmal zu einer Party einladen würden usw., aber ich war für meine Kommilitonen eine Art Arbeiterverräter, ein dummer Ostler, ein Fremder eben, der noch nicht einmal wusste, wie man mit einer Ditto-Maschine eine Seminararbeit vervielfältigte, was übrigens stimmte, weil man das im Osten als Student nicht durfte.
Nach unserer Heirat in Berlin Steglitz beschlossen wir, in ihre Heimat überzusiedeln und landeten in Madison, wo ich ein Germanistikstudium aufnahm. An der am schönen Mendotasee gelegenen staatlichen Universität habe ich sowohl die Vorlesungen als auch die Seminare von hochqualifizierten Professoren wie z. B. Jost Hermand, Reinhold Grimm, David Bathrick und Klaus Berghahn sehr genossen. Im Allgemeinen gab es dort genau das Klima, das ich mir immer gewünscht hatte, eine erfrischende Offenheit neuen Ideen gegenüber und eine große Ernsthaftigkeit beim Studium. Trotzdem gab es damals auch eine Gruppe von Studenten, die denen in Berlin ähnlich war, was mich anfangs sehr irritierte, aber mehr als ausgeglichen wurde von vielen anderen Studenten, an die ich mich entweder noch gern erinnere oder mit denen Jane und ich noch heute befreundet sind.

Frederick Lubich: Du hast Dich in Deinen akademischen Studien vor allem mit der Literatur der DDR beschäftigt. Was waren dabei Deine wesentlichen persönlichen und professionellen Erkenntnisinteressen?

Wolfgang Müller: Die lagen in verschiedenen Dingen. Obwohl ich eigentlich mit der DDR „fertig“ war, gab es ein Jahr nach der Flucht doch auch noch emotionale Bindungen an diese „böse“ Heimat. Die Literatur aus der DDR war eine Art Nabelschnur, die noch nicht getrennt war. Zum einen wurde die Literatur aus der DDR gerade zur Zeit unserer Ankunft in den Staaten zu einem „hot item“. Es war sozusagen ein neuer Trend in der Germanistik. Und ich kannte mich auf diesem Gebiet aus. An vielen Universitäten hörte ja Anfang der siebziger Jahre die deutsche Literatur bei Thomas Mann auf, an anderen machte sie bei der westdeutschen Nachkriegsliteratur halt. Literatur aus der DDR war kaum bekannt und wurde bis dahin auch nicht unterrichtet. Der Durchbruch zur Literatur aus der DDR kam vor allem von Germanistinnen, die sich besonders für Autorinnen wie z. B. Christa Wolf, Irmtraud Morgner, Sarah Kirsch, Maxi Wander und Brigitte Reimann interessierten, was teilweise daran lag, dass sie sich von diesen Autorinnen Anregungen für ihren eigenen Kampf gegen die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen auch in der Germanistik versprachen.
Mein eigenes Interesse an der Literatur aus der DDR lag jedoch vor allem auch an ihrer politischen Wirkung innerhalb der DDR, war also eher politischer Natur, denn obwohl die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus für mich schon mit der Zerschlagung des Prager Frühlings gestorben war, lebte meine gefühlte Solidarität mit denen, die diesen Staat mit kleinen Schritten von innen her verändern wollten, weiter. Daher interessierte ich mich für Autoren wie Volker Braun, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Christa Wolf, Ulrich Plenzdorf, Wolf Biermann, Heiner Müller, u. a., die man, so unterschiedlich sie auch waren, zu den „Reformern“ zählte. Meine Interesse für gerade diese Autoren enthielt aber auch eine große Ungerechtigkeit, weil es viele Autoren ausschloss, die nicht nur, wie die „Reformer“, Schwierigkeiten mit Verlagen und der Partei hatten, sondern erst gar nicht veröffentlichen durften, wie z. B. Jürgen Fuchs und Hans Joachim Schädlich, und so entweder mundtot gemacht, mehr oder weniger zur Ausreise gezwungen wurden oder in Gefängnissen landeten. Doch diese Ungerechtigkeit wurde mir erst einige Jahre nach meinem Studium so richtig klar.

Frederick Lubich: Wie kam es zur Gründung des Online-Magazins Glossen, das sich seit Ende der neunziger Jahre als eines der führenden deutsch-amerikanischen Journale etablierte?

Wolfgang Müller: Die Gründung von Glossen war zwei Dingen geschuldet. Erstens erschien mir die traditionelle Germanistik, die vor allem werkimmanent, biographisch, psychologisch oder in irgendeiner Form politisch grundiert war, als zu eng. Mir ging es bei der Literatur vor allem um den Nexus Kultur, die länderübergreifend auch andere Ausdrucksformen einschloss, also vor allem Musik, Malerei, Film und auch Wissenschaft, ein Nexus, in dem wir uns als Menschen und in dem sich Künstler und Autoren aus den deutschsprechenden Ländern bewegen. Dazu kam, dass das Internet Möglichkeiten eröffnete, die die traditionellen germanistischen Zeitschriften überhaupt nicht oder nur in einem begrenzten Rahmen hatten. Germanistische Beiträge, wenn sie im Internet publiziert wurden, konnten dagegen auf einmal ohne viel Aufwand relevante Bilder, Musik, Interviews, „film clips“, Illustrationen usw., sichtbar und hörbar machen. Wenn man z. B. den einen oder anderen Text Hans Joachim Schädlichs in einem germanistischen Artikel analysiert, ist es sehr hilfreich, ein Bild von Hieronymus Bosch „einzubauen“ oder die “Klaviersonate Opus 25, Nummer 5 in fis-Moll” von Muzio Clementis hörbar zu machen. Hinzu kommt, dass ein im Internetjournal publizierter Text für Leser in aller Welt sehr schnell und an jedem Computer, heute auch Smartphone, zugänglich ist, was den Besuch einer Bibliothek oder die Benutzung der Fernleihe erspart.
Mein großes Glück war, dass sich gleich am Anfang Mitarbeiter wie Christine Cosentino, Wolfgang Ertl und andere fanden, die ähnlich dachten, ohne die Glossen nicht möglich gewesen wäre. Schwierig war es am Anfang natürlich trotzdem. Allein das Erlernen von HTML, das Internet steckte ja 1996/97 im Vergleich zu heute noch in den Kinderschuhen und kostete einen großen zeitlichen Aufwand. Auch waren elektronische Publikationen weder bei Dekanen noch bei “Faculty Personnel Committees” besonders beliebt, weil ihnen nicht klar war, wie man diese Publikationen bei Beförderungen oder “Tenure”-Entscheidungen bewerten sollte. Doch Letzteres ist nun fast schon “History”.

Frederick Lubich: Wie siehst Du die Zukunft der deutsch-amerikanischen Germanistik und insbesondere ihrer einschlägigen, literarisch und literaturwissenschaftlich orientierten Journale?

Wolfgang Müller: Ich denke mir, dass die Entwicklung zu elektronischen Veröffentlichungen weitergehen wird und dass sie mit neuen Technologien immer besser werden. Wenn man zum Beispiel Glossen Nr. 1 mit Glossen 40 vergleicht, erkennt man einen enormen Unterschied in der Gestaltung, die vor allem an der verbesserten Technologie aber auch der Entwicklung einer eigenen, einer besseren Ästhetik liegt.
Außerdem wird es, so hoffe ich jedenfalls, auch durch elektronische Journale zu engeren Kontakten zwischen Autoren, Künstlern, Literaturkritik und Literaturwissenschaft kommen. Die Germanistik kann und darf sich nicht vor allem auf die Akademie als ihr Wirkungsfeld beschränken. Ein breiteres Publikum müsste mit einem breiten Angebot angesprochen werden, will man nicht fortfahren, im eigenen Saft zu schmoren. Mit wenigen Ausnahmen schreiben ja selbst heute noch Spezialisten weitgehend für andere Spezialisten. Oder, schlimmer noch, man schreibt vor allem für die Administratoren akademischer Institutionen, denen es vor allem um die Beurteilung zwecks Beförderungen, „Tenure“-Entscheidungen oder den Ruf der Institution geht.

Frederick Lubich: „Ach, die Heimat hinter den Gipfeln, wie ist von hier so weit“, um noch einmal das Gedicht „Heimweh“ von Eichendorff zu zitieren, des wohl unbestrittenen Altmeisters des deutschen Fernwehs und Heimwehs. Hast Du ab und zu Heimweh und wonach? Und woran denkst Du vor allem, wenn Du heute an Deutschland denkst?

Wolfgang Müller: Heimweh? Sicher! Übrigens halte ich mich auch an romantische Gedichte, zum Beispiel an eins von Wilhelm Müller, das u. a. von Franz Schubert vertont wurde, nämlich, Du weißt schon, „Das Wandern ist des Müllers Lust“ aus dem Liederzyklus Die schöne Müllerin. Und wenn wir dieses Interview in Glossen veröffentlichen würden, könnten wir dieses Lied, am besten gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau, gleich zu Gehör bringen. Ich gestehe aber auch, dass mir in diesem Lied ab und an ein anderes mitzuschwingen scheint, nämlich Schuberts „Lindenbaum“ aus der Winterreise.

Frederick Lubich: Wie lautet Deine „existentielle Bilanz“, wenn Du heute auf Deine deutsch-amerikanische Lebensgeschichte zurückblickst?

Wolfgang Müller: Ach Frederick, das sage ich Dir später, hoffentlich viel später. Noch ist die Zeit für ein Schlusswort nicht gekommen.

Frederick Lubich: Wenn Du auf der Insel Chincoteague an der Atlantischen Küste von Virginia Deine Sommermonate mit Segeln verbringst, welche Gedanken sprühen Dir dann so durch den Kopf?

Wolfgang Müller: Hoffentlich komme ich nicht in eine Flaute. Ich habe nämlich keinen Motor an Bord.

Frederick Lubich: Ich möchte diesen Gedankenaustausch nicht zuletzt zum Anlass nehmen, Dir als Mitbegründer von Glossen und als sein jahrzehntelanger „Managing Editor“ für Deine unermüdliche Herausgeberschaft herzlich zu danken und Dich zu Deinem bewundernswerten transatlantischen Brückenschlag zu beglückwünschen. Seit der Gründung von Glossen im Jahre 1997 hast Du zusammen mit deinen beiden Mitherausgebern Wolfgang Ertl und Christine Cosentino immer wieder hervorragende Texte und Features herausgebracht, zu deren Autoren und Autorinnen so prominente Namen zählen wie Alexander Kluge, Auma Obama und Herta Müller, um hier nur einige der bekanntesten zu nennen. Mit seinen insgesamt vierzig Ausgaben hat Glossen dem internationalen Gedankenaustausch über die Jahre und Jahrzehnte hinweg einen ganz großen Dienst erwiesen. Interessierte Leser können weitere Hintergrundinformationen zu Glossen auch einem Essay entnehmen, der unter dem Titel „Glossen – Online Journal: Das transatlantische Journal geht doch nicht unter. Ein Blick zurück und in die Zukunft“ im Herbst 2015 im PENinfo erschienen ist und im Frühjahr 2016 auf den Webseiten von Weltruf und AATG nachgedruckt wurde.

Wolfgang Müller: Ich freue mich sehr über die Anerkennung für Glossen und die „alte Garde“ ihrer Mitarbeiter, die aus Deinen Worten und Deinem sowie dem Willen vieler neuer Mitarbeiter spricht, die sich um Dich geschart haben! Und selbstverständlich freue ich mich sehr, dass es mit Glossen und neuen Themen und neuen Ideen weitergeht!

Frederick Lubich: Wir hoffen, Glossen, Heft 41 im Hochsommer dieses Jahres herausbringen zu können. Was Heft 42 für Winter 2016/2017 betrifft, so würde ich als „Interim Managing Editor“ von Glossen gerne den aktuellen Themenkomplex der Flüchtlingsströme durch Europa und den möglicherweise bevorstehenden Mauerbau gegen illegale Immigranten an der Südgrenze von Nordamerika unter dem Arbeitstitel „Von Mauerbau und Mauerschau: transatlantische Kassandrarufe“ zur Diskussion stellen und diesbezüglich verschiedene Stimmen aus der Alten und Neuen Welt einladen, dazu im weitesten Sinne Stellung zu nehmen. Die Beiträge können der bewährten Konzeption von Glossen entsprechend auf Deutsch oder Englisch geschrieben und auch gerne poetischer, polemisch-parodistischer sowie kreativ-visueller Natur sein.

Wolfgang Müller: Man muss kein Prophet sein, um zu sehen, dass die gegenwärtige Flucht und Abwanderung von Millionen von Menschen aus ihren ursprünglichen Heimatregionen und Wohnbereichen, sei es nun aus Südamerika, Afrika, Asien und Südeuropa in bisher friedlichere und reichere Länder eines der großen Themen unseres Jahrhunderts ist und auch weiterhin bleiben wird. Die soziologischen und kulturellen Verwerfungen, die dabei entstehen, werden sowohl einen enormen Gewinn für alle aber auch neue Konflikte mit sich bringen. Ich denke mir, dass eine Zeitschrift wie Glossen eine große Aufgabe darin finden könnte, diese post-nationalen und hoffentlich auch postnationalistischen Veränderungen, die sich in den Medien, der Literatur und Kunst niederschlagen werden, dokumentierend und kommentierend zu begleiten. In diesem Sinne wünsche ich Euch viel Erfolg; auf kurze Sicht natürlich für die nächsten Glossen aber selbstverständlich auch darüber hinaus. Wir werden auf lange Sicht eine Menschheit werden, ja werden müssen und, so hoffe ich, letztlich auch werden wollen. Auch wenn es im Augenblick aus einigen Hauptstädten manchmal sehr anders klingt, gibt es dazu keine Alternative.

*A previous version of this interview was published by the PEN Center of German Speaking Writers Abroad (www.exilpen.net) in summer 2016.

 

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