Dec 2017

Erinnerungen an den Exilanten und Literaturwissenschaftler Egon Schwarz (1922-2017)

von Reinhard Andress

portrait of Egon Schwarz

Egon Schwarz, © Irène Lindgren

Wir haben uns relativ spät kennen gelernt, erst im Jahre 2000, was ich immer bereut habe. Natürlich wusste ich davor von Egon Schwarz – wie hätte das in den Achtzigerjahren als Graduate Student der Germanistik an der University of Illinois auch anders sein können? Ich las seine literaturwissenschaftlichen Ausführungen etwa zu Hesse, Rilke, Thomas Mann, Schnitzler oder allgemeiner zur Exilliteratur und dachte mir, so möchte ich eines Tages schreiben können: nicht verschroben esoterisch übertheoretisierend, sondern elegant, verständlich und einleuchtend eingebettet in einen sozio-historischen Kontext. Ob ich das je geschafft habe, weiß ich nicht, aber ich weiß auf alle Fälle, dass Egons Literaturwissenschaft mir immer ein Vorbild blieb.

Ich kam dann 1993 als Assistant Professor an die Saint Louis University, während sich Egon an der benachbarten Washington University als ehrwürdiger und hoch verehrter Professor befand, was ich natürlich auch wusste. Doch zögerte ich – dummerweise, wie sich herausstellte – die Verbindung zu ihm aufzunehmen. Zu groß war wohl die Ehrfurcht eines angehenden Germanisten vor einer internationalen Koryphäe unseres Fachgebietes. Zufälligerweise brachte uns Frank Baron endlich zusammen. Es gab eine Konferenz für Exilstudien an der University of Kansas, Egon und ich sollten beide dort Vorträge halten, und Frank fragte an, ob ich Egon von St. Louis nach Lawrence fahren könnte. Ich erinnere mich auch gern an die Fahrt durch die Weiten von Missouri nach Kansas, die Egon ausfüllte, indem er mir eine faszinierende Welt langsam erschloss, die so weit über seine Literaturwissenschaft hinausging. Und so kam eine Bekanntschaft, bald Freundschaft in Gang, die für mich mit intellektuell unglaublich reichhaltigen Begegnungen verbunden ist, ob bei gemeinsamen Projekten, den unzähligen, unterhaltsamen Gesprächen oder vorzüglichen Mahlzeiten, ob in St. Louis in seinem gemütlich-magischen Haus mit dem üppigen Garten, in Mexiko, Berlin oder bei uns in Chicago, wo auch meine Studenten ihn als sehr wichtigen und weisen Zeitzeugen erleben konnten. Die Gesprächsthemen waren vielfältig: vom Österreich des fin-de-siècle bis hin zu allen Epochen der deutschen Literatur, Exil, Weltreisen oder Tagespolitik. Als wir uns zum letzten Mal im Oktober 2016 in Chicago sahen, las ich ihm – er schon halb erblindet – Artikel aus der New York Times vor. Wir entsetzen uns über Trump, der ihm nun wenigstens erspart bleibt.

Einerseits war es seine charmant-witzige und spannende Art zu erzählen, die einen zum gebannten Zuhörer machte. Ich erinnere mich noch deutlich an unser Übersetzungsprojekt, die deutsche Version von Benno Weiser Varons spanischem Exilroman Yo era europeo, den wir als Ich war Europäer übertrugen. Weiser Varon war ein Wiener Jude, den das Exil nach Ecuador und dann weiter in die USA und nach Israel verschlug, für das er jahrelang als Diplomat tätig wurde. In Wien war er Egons Spanischlehrer gewesen. Während eines Freisemesters und Nachmittagsstunden bei Egon zu Hause in St. Louis regte ihn meine Rohübersetzung des Romans immer wieder zu informationsreichen Ausflügen in die Geschichte Wiens zur “Anschluss”-Zeit und in das Thema Exil an. Er hatte die Zeit ja schließlich selbst erlebt. Erst durch Egon begriff ich besser die vielen Phasen des Exils, die wiederum meine Exilstudien stark beeinflussten. Und natürlich gab Egon dann der Übersetzung den stilistischen Schliff, ohne den eine Veröffentlichung 2008 wohl kaum möglich gewesen wäre.

Andrerseits war es aber bei Egon auch eine bei älteren Menschen seltene Gabe, genau zuhören zu können und auf den Gesprächspartner einzugehen, die so viele Menschen für ihn gewannen. Er besaß Integrität im höchsten Maße. Als ich so manche Krisen durchmachte, ob privat oder beruflich, er stand mir großzügig mit Rat und Tat bei und wurde zu einem väterlichen Freund, den ich sehr vermissen werde.

Bei einem unserer vielen Gespräche ging es einmal um die Frage, was wohl von unserer ganzen Literaturwissenschaft bleiben würde. Längerfristig herzlich wenig meinte er, doch gab er der Hoffnung Ausdruck, es könnte seine Autobiografie überleben. Diese ist zunächst 1979 unter dem Titel Keine Zeit für Eichendorff erschienen, 2005 in einer Neuauflage als Unfreiwillige Wanderjahre. Im Jahre 2008 wurde sie mit dem Cotta-Preis ausgezeichnet. Übersetzungen ins Englische als Refuge. Chronicle of a Flight from Hitler (2002) und ins Spanische als Años de vagabundo forzado. Huyendo de Hitler a través de tres continentes (2012) liegen ebenfalls vor. Für mich stellt es einen Höhepunkt meiner Laufbahn da, als ich im Frühjahr 2012 auf einer Tagung der Asociación Latinoamericana de Estudios Germanísticos einen Vortrag über Egons Autobiographie hielt und ihn damit vorstellte, bevor er selbst sowohl aus den deutschen und spanischen Versionen vor einem zahlreichen Publikum vorlas.

Was für ein Leben das auch war! 1922 in Wien als Jude geboren, zwang ihn der nationalsozialistische “Anschluss” seiner Heimat in ein Exil, das zunächst nach Bratislawa (Pressburg) führte, dann in ein völkerrechtlich ungeklärtes Niemandsland zwischen Ungarn und Slowakien, weiter nach Prag, Paris und schließlich nach Südamerika, wo er in Bolivien, Chile und Ecuador zehn Jahre unter abenteuerlichen Umständen verbrachte. Nie verließ ihn das starke soziale Bewusstsein, das er sich dort aneignete; nie verließ ihn das Bedürfnis, sich weiter zu bilden, was dazu führte, dass er alles verschlang, was er an Lesbarem fand. Es waren wiederum Glücksumstände, die ihn nach Kriegsende in die USA führten, wo er 1954 ein Doktorat in deutscher Philologie an der University of Washington bekam und sieben Jahre lang an der Harvard University lehrte, bevor es an die Washington University in St. Louis weiterging. Von vielen Gastprofessoren in der ganzen Welt unterbrochen, lehrte er dort zweiunddreißig Jahre lang, zuletzt als „Rosa May Distinguished Professor in the Humanities in Arts and Sciences“. Er schrieb über zwanzig Bücher und Hunderte von Artikeln und Essays, u.a. für die FAZ, die NZZ oder Die Zeit.  Dabei entwickelte er sich zu einem einmaligen Literaturhistoriker und zum Mitbegründer der deutschen Exilstudien, so etwa mit seinem Buch Verbannung (1964), das dokumentarisch eine Phänomenologie des durch Hitler verursachten Exils unternimmt. Sein letztes Buch, Wien und die Juden (2014), stellt eine Sammlung seiner besten Aufsätze zu dem Thema dar. Vielfach wurde er geehrt: so mit Ehrendoktoren der Universität Wien oder der Örebro Universitet, mit der Joseph von Eichendorff-Medaille oder dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst.

So glänzend, einsichtig und weise ist die Autobiographie geschrieben, dass ich sie auch meine Studenten lesen ließ, wobei wir, wie erwähnt, Egon auch zweimal als Gast im Unterricht hatten. Wenn ihn auch mehrere Generationen von den Studenten trennten, er gewann sie auch für sich.  Eine Studentin schrieb mir: “Thank you, Professor Andress, for the opportunity to meet such an amazing man. I am so grateful to have had the privilege of reading his autobiography and discussing it with him. A huge honor!” Frappierend war für mich vor allem immer der Schluss, zu dem Egon gegen Ende der Autobiographie kommt:

Zu verkünden, daß Hitler für mich gut war, wäre eine Verhöhnung der Millionen, die er auf dem Gewissen hat und zu denen ich, in jeder Phase des faschistischen Vernichtungszuges durch die Welt, leicht hätte gehören können. Dennoch ist es eine Tatsache, daß ich durch die explosionsartigen Ausbrüche des Hitlerismus in die freie Luft geschleudert wurde, wo ich einen längeren Atem und einen weiteren Ausblick gewonnen habe, als wenn ich in der heimatlichen Enge geblieben wäre. Manche Menschen werden, wenn sie ihnen widerfährt, von der Durchtrennung der Wurzeln, die sie an ihr Fleckchen Umwelt binden, gefährdet oder gar zerstört. Mir hat sie zunächst auch nicht gerade wohlgetan, aber auf die Dauer hat sie Kräfte befreit, die sonst unerweckt für immer in mir geschlummert hätten. Anders als andere Emigranten, die der Heimat nachtrauern, heiße ich daher die Emigration gut und bekenne mich zu ihr, nicht weil sie mir just passierte und man für gewöhnlich sein Leben billigt, sondern beinah als Prinzip, als einen Prozeß, dem ich meine Befreiung und, so sonderbar das auch anmuten mag, die Gewinnung meines Gleichgewichts zu verdanken glaube.

Natürlich war der Weg dorthin nicht leicht, ohne freien Willen den historischen Stürmen der Zeit ausgesetzt, doch auch um den freien Willen kämpfend, ein Thema, das motivisch ebenfalls einen breiten Raum in der Autobiographie einnimmt. Aber welch eine mutig-optimistische Einstellung letztendlich und trotz allem – und eine Einstellung, die sein Leben so stark prägte!

Um auf das Gespräch mit Egon zurückzukommen, in dem es um die Was bleibt-Frage ging: Lesen wir seine Unfreiwilligen Wanderjahre, bzw. lesen wir sie noch einmal. So halten wir diesen einzigartigen Menschen am besten für uns fest und verhelfen ihm zu einem Weiterleben.

[Reprinted from PEN-Newsletter Summer 2017]

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