Feb 2011

Rezensionen Glossen 32/2011

Hubert Winkels, Kann man Bücher lieben? Vom Umgang mit  neuer Literatur. Köln: Kiepenheuer u. Witsch 2010. 392 Seiten

Die Frage, wie sich neuer Literatur zu nähern sei, stellt sich für Literaturwissenschafter wie Literaturkritiker gleichermaßen. Während die germanistische Literaturwissenschaft indes immer wieder zögert, sich auch als Gegenwartsliteraturwissenschaft zu verstehen, setzt sich die Literaturkritik qua Profession seit jeher routinemäßig mit literarischen Neuerscheinungen auseinander. Wenn Hubert Winkels sein nun erschienenes „Lese-Buch“ (23)  im Untertitel Vom Umgang mit neuer Literatur bezeichnet, bewegt er sich also in einem bestellten Feld.

Die auf knapp 400 Seiten zusammengestellten „Erzählungen, Essays und Besprechungen“ (16) sind zunächst vergleichbar mit literaturkritischen Bestandsaufnahmen wie etwa den kürzlich erschienenen von Uwe Wittstock und Richard Kämmerlings. Diese Essay-Sammlungen von mehr oder weniger kurzen Texten und zum Teil erweiterten und überarbeiteten Versionen von Beiträgen, die bereits zuvor im Feuilleton veröffentlicht worden sind, geben einerseits einen Überblick über die deutschsprachige Literatur der letzten 20 Jahre. Andererseits vertreten sie den Anspruch, die seit den 1990er Jahren regelmäßig stattfindenden literaturkritischen Debatten um die schlechte Verfassung der Gegenwartsliteratur in Deutschland nicht nur zu resümieren, sondern in einem spezifischen Sinne auch zu einem Ende zu führen. So stellt Wittstocks Nach der Moderne (2009) fest, dass die deutschsprachige Literatur mittlerweile die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur unterlaufe und sich erfreulicherweise aus dem elitären Nischendasein zum allgemeinen Publikum hinbewege. Analog dazu sieht Kämmerlings in Das kurze Glück der Gegenwart (2011) mit Blick auf die deutschsprachige Literatur seit Mitte der 1990er Jahre eine aus seiner Sicht längst überfällige Weltzuwendung: Erzählt werde nun endlich von der und für die Gegenwart.

Kann man Bücher lieben? ist in eine Reihe mit diesen oder ähnlichen Bestandsaufnahmen zu stellen, die im Kontext weiterer Veröffentlichungen und gleichsam im Modus einer “Self-Fulfilling Prophecy” zunächst den schlechten Zustand der Literatur diagnostizieren und mit literaturprogrammatischen Forderungen koppeln, um genau diese schließlich einige Jahre später erfüllt zu sehen. Bei Winkels wird dies durch die beiden Bände Leselust und Bildermacht (1999) sowie Gute Zeichen (2005) vorbereitet und durchgeführt. Der nun vorliegende Band ist mithin bereits die dritte Zusammenschau, die der Literaturkritiker (Die Zeit) und Literaturredakteur (Deutschlandfunk) zur Vervollständigung seines ganz persönlichen Kanonisierungsprojekts der Gegenwartsliteratur nutzt. Vergleicht man Winkels’ drei Publikationen, lässt sich im Überblick vor allem eine Tendenz feststellen: Die Guten Zeichen, die sich ihm zufolge seit Ende der 1990er Jahre abzeichnen, können sich in der Zwischenzeit auf ein breites Fundament verlassen. Im Zentrum steht damit nun nicht mehr die Frage, ob Literatur sich der neuen Medienkonkurrenz stellen könne. Winkels setzt vielmehr mittlerweile voraus, dass sich deutschsprachige Literatur von ihren “alten Meriten” erholt habe und nun, mit neuem Selbstbewusstsein, eine geschärfte, spezifisch literarische Rolle in der Gegenwartsgesellschaft einnehme.

Doch noch in einer anderen Hinsicht knüpft Winkels’ „Buch der Leselust und Lebensklugheit“ (Klappentext) an bestehende literaturkritische Kontexte an. Aus Anlass einer Buchpräsentation von Volker Weidermanns Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute (2006) hat Winkels maßgeblich zu einer Feuilleton-Debatte beigetragen, an der sich unter anderen Volker Hage und Ulrich Greiner wortgewaltig beteiligt haben. Im Zentrum standen dabei die Bewertungsmaßstäbe und Kriterien der Literaturkritik, die Winkels selbst mit der Unterscheidung zwischen Emphatikern und Gnostikern pointiert bezeichnet.

Die Emphatiker sind die mit dem unbedingten Hunger nach Leben und Liebe; Gnostiker sind die, denen ohne Begreifen dessen, was sie ergreift, auch keine Lust kommt; die sich sorgen, falschen Selbstbildern, kollektiven Stimmungen, Moden und Ideologien aufzusitzen. Die Emphatiker haben den Autor im Blick, sie bewerten Haltungen, Zugehörigkeiten und genießen die Lebenskämpfe in Alltag und Politik; die Gnostiker sehen erst einmal Texte und dann frühere Texte und diese auch noch in größeren Kontexten. Sie sind zwei Absätze in der Zeitung oder drei Kapitel in Romanen lang spröde. Das kann den Emphatiker schon nervös machen.(29)

Dass Winkels seinen 2006 in der Zeit erschienenen Leitartikel als programmatischen Ausgangspunkt von Kann man Bücher lieben? einsetzt, legt es nahe, die folgenden Abschnitte anhand des Beobachtungsschemas Emphatiker/Gnostiker zu lesen. Die Essay-Sammlung ist in zehn Kapitel gegliedert: Neben Beiträgen etwa zur “Buchhaltung” und zum Anekdotischen nehmen Besprechungen von deutschsprachiger, US-amerikanischer, britischer und japanischer Literatur den Großteil ein. Zu den Texten im Schwerpunktbereich deutschsprachiger Neuerscheinungen der letzten Jahre zählen etwa Rezensionen zu Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, Wolf Haas’ Das Wetter von 15 Jahren oder Ingo Schulzes Adam und Evelyn. Im Kapitel der Schriftsteller-Portraits würdigt Winkels unter anderen Klaus Modick und Feridun Zaimoglu. Dass man Bücher lieben kann, ist dabei immer, soviel kommt in den Besprechungen zum Ausdruck, die erklärte Überzeugung Winkels’. Dass diese Liebe jenseits der Unterscheidung von Emphatikern und Gnostikern zu verorten ist, überrascht nicht, gibt es doch keinen, „der voll aufgeht in der Rolle“ (29).

Unabhängig von der Frage, was noch zu würdigen wäre oder fehlt, liegt mit der im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienenen Essay-Sammlung Winkels’ ein weiteres fundiertes literaturkritisches Angebot zur Vermessung (nicht nur) deutschsprachiger Literatur der Jahrtausenwende vor. Dem Umgang mit neuer Literatur wird dadurch zwar mit Blick auf die räumlich-materielle Ordnung von Arbeitszimmern eine weitere „Büchernot“ (17) beschert, dafür ist diese aber umso lesenswerter.

— David-Christopher Assmann


Kathrin Schmidt, Du stirbst nicht. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009. 348 Seiten.

Im Jahre 2009 veröffentlichte die 1958 in der vergangenen DDR geborene Autorin Kathrin Schmidt ihren Roman Du stirbst nicht, für den sie im selben Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Laut Klappentext macht der Roman den Orientierungs- und Sprachverlust nach einer Hirnverletzung erfahrbar, stellt Brüche in der Biographie der Protagonistin dar. Der Leser ist im Umfeld des 20. Jahrestages des Mauerfalls im Jahre 2009 zunächst geneigt, diese Erfahrung auf die Wende zu beziehen, auf den Verlust und das Neukonstruieren von Identität, den Verlust von verbindlichen Werten, auf Orientierungslosigkeit.

Tatsächlich lassen sich diese Bezüge herstellen, denn die Gestaltung der Genesung der Protagonistin Helene Wesendahl schöpft weitgehend aus dem Erfahrungshintergrund der Autorin Kathrin Schmidt. Beide sind DDR-geprägt, haben Psychologie studiert, sind Schriftstellerin und Mutter von fünf Kindern, beide erlitten im Jahre 2002 eine Hirnblutung und muβten sich nach Erinnerungs- und Sprachverlust die Welt neuerobern. Beide erkämpften sich in diesem Prozeβ eine “freiere” Sprache und einen “Gesinnungs- und Verhaltenswandel”. Dieser Interpretationsansatz ist jedoch zu eng, denn im Angesicht der schmerzhaften existentiellen Krise der Hauptfigur/Autorin ist die DDR-Erfahrung nicht mehr das eigentliche Thema. Das Buch ist die Gestaltung von einem lebensbedrohenden Hirntrauma und von der Rückeroberung einer Identität, eine Gestaltung, die weit über einen politisch-sozialen Rahmen hinausgreift. Du stirbst nicht ist ein existentiell allgemeingültiges Buch über Krankheit und Genesung und über die Liebe zum Leben.

Schmidt stellt den Prozeβ der Gesundung aus der Perspektive der fiktiven Figur dar. Sie selbst hatte beim Akt des Schreibens bereit die nötige zeitliche Distanz und wählte den Ausdrucksgestus der 3. Person Singular. Der Ton ist klinisch nüchtern, bar jeglicher Wehleidigkeit. Die Patientin erwacht ohne Sprach- und Erinnerungsvermögen und mit schweren motorischen Schäden auf der Intensivstation eines Krankenhauses. Sie fühlt sich aus der ihr vertrauten Welt hinausgestoβen und von Chaos und Leere umgeben. Sie versucht, die Augen zu öffnen, hört Stimmen und Geräusche und assoziiert diese mit bruchstüchhaft aus dem Bewuβtsein hochgespülten Kindheitserinnerungen. “Sie hat” –- so der Text –- “kein Bild von sich.”

Von Station zu Station führt Kathrin Schmidt diese Kranke. Sie führt dem Leser das mühsame Wiederfinden des Ichs vor Augen, in dem sich die Rollen einer Ehefrau, Mutter, Schriftstellerin und einer Geliebten brechen. Im momenthaften, blitzartigen Aufleuchten von Erinnerungsfragmenten dringt die Patientin in ihre Vergangenheit und damit in die Gegenwart ein. Es gelingt ihr, nach langwierigen Erinnerungsübungen einzelne Puzzlestücke zusammenzusetzen, die einen verwirrend widersprüchlichen Zusammenhang ergeben. Wie vereinbart sich die erinnerte, dem geplatztem Aneurysma vorausgegangene Ehekrise mit der Fürsorge des Ehemanns Matthes, der ihr jetzt im Krankenhaus Stütze, Anker und Mutmacher ist; und wie verhält es sich mit ihrer intensiven und zerbrechlichen Beziehung zu der transsexuellen Freundin Violoa? Krankheit und Genesung verwischen die Grenzen des Trennenden, machen Neubewertungen in ihrer Ehe möglich. Bei aller Offenheit des Romans sind die Signale in der unmittelbaren Gegenwart auf Versöhnung gestellt.

In dem generell so überzeugend gestalteten Genesungsbericht wirkt die Beziehung zu dem Mann (Viktor), der eine Frau (Viola) sein will, allerdings strapaziert. Viola/Viktor ist im Handlungsgefüge eine konkrete Person, vielleicht ist diese Figur aber auch als personifiziertes Konzept entworfen. Ging es der Autorin um die Veranschaulichung der Problematik der Rollenverteilung im Geschlechterkampf, um ein in den Dimensionen von “Mann” und “Frau” sich verhärtendes festgefahrenes Denken, das der Lösung bedarf? Es bleibt offen.

Schmidt hatte zur Zeit der Wende am von Männern dominierten Berliner Runden Tisch mitdiskutiert. Sie muβte diese Tätigkeit allerdings aufgeben, weil ihre Rolle als Mutter sie überforderte. Der Roman scheint auf das Thema der Bedingungslosigkeit in Geschlechterbeziehungen anzuspielen, denn in der letzten Phase des Krankenhausaufenthaltes sieht die Protagonistin ihren Mann Matthes und sich selbst “anders”, jenseits der “Matthesordnung”, wenig rollengebunden. Sie fragt sich: “Hat es damit zu tun, dass die Leine gekappt ist, an der sie einander in Schach hielten?”

Dieses Buch macht es dem Leser nicht leicht, weil die Autorin bzw. ihre fiktive Doppelgängerin es sich nicht leicht machen. In seiner Detailtreue ist der Bericht erbarmungslos. Minutiös wird der Zustand des Ausgeliefertseins und der Aphasie geschildert: die Ängste und die Hilflosigkeit der Patientin, deren Zucken, Brabbeln, Sabbern, deren Angewiesensein auf Rollstuhl und Rollator — eine als entwürdigend empfundene Existenz mit Hinternabwischen und Gewindeltwerden. Und doch stellt sich beim Lesen des Buches Genuβ ein, denn es demonstriert Selbst/Befreiung aus dem Zustand scheinbar hoffnunslosen “Lebendig-Begraben-Seins”. Du stirbst nicht präsentiert und reflektiert den Triumph eines Menschen über das Chaos, den Triumph einer Schriftstellerin, die ihre Sprache wiedergefunden hat: “Ich schreibe, also bin ich.”

— Christine Cosentino

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