Apr 2012

Erwin Messmer

In Bratislava
   
Die Postbeamtin am Schalter, ein junges hübsches Ding, würdigt mich eines verächtlichen Blicks. Dass ich es überhaupt wage, ihr unter die Augen zu treten! Dieser Vorwurf findet seine prägnante Artikulation im giftig gezischten Wort Prosim. Das heisst eigentlich Bitteschön, aber das Wörterbuch ist nicht zuständig für Stimmungen. Die Hand, welche mir die verlangte Telefonkarte durch den Spalt unter der schützenden Glaswand schiebt, ist die Verlängerung ihres Unwillens, und die Finger, die meinen Geldschein in eine heftige Rutschpartie über die Schalterfläche jenseits des Glases versetzen, sind inkarnierte Verwünschungen. Nech sa paci. Diese typisch slowakische und eigentlich kaum übersetzbare Höflichkeitsformel heisst wörtlich Auf dass es Ihnen gefalle, hier aber meint sie: Und nun geh zum Teufel! Mein auf Slowakisch vorgebrachtes Dankeschön fällt schon nicht mehr in ihren Kompetenzbereich, sie hat sich abgewandt. Nach Abschluss der ihr offenbar so verhassten Transaktion ist der Kunde, den sie eben noch als Feind behandelt hat, für sie Luft.
Stunden später hat sich Bratislavas Altstadt die schillernde Maske des Sommerabends übers Gesicht gestülpt. Die Gassen beginnen im erregten Stimmgewirr des Feierabends zu schwimmen, und die kleine Postbeamtin sitzt vielleicht mit Freunden in einem der überfüllten Strassencafés, frisch geduscht und fein parfümiert. Das dezente Rouge ihrer Lippen vermischt rosa Wortkaskaden mit dem rehbraunen Glanz flirtender Augen.
Ich stecke mein zerlesenes Wörterbuch, das langsam aus dem Leim zu fallen droht, in die Tasche. Wende meine Aufmerksamkeit dem Leben zu, lasse es an mir vorbeiziehen und um mich herum sprudeln und dudeln und blödeln, lausche dieser ultimativen Fremdsprache, dieser internationalen Inselsprache des Festes, umspült vom grauen Meer des werktätigen Alltags, diesem Esperanto des Feierabends, für das es kein Wörterbuch gibt und das, durch tausend Missverständnisse hindurch, doch jeder, freilich jeder in seiner Weise, auf Anhieb versteht.

   
   

In den Friesenländern

Ostfriesland liegt in Deutschland, ziemlich weit oben, am Meer. Aber nicht an der Ostsee, sondern an der Nordsee, und nicht im Osten des nördlichen Deutschland, sondern ganz im Gegenteil: im Westen. Dennoch heisst es Ostfriesland. Zugegeben: Ostfriesland liegt auch östlich. Von Holland aus betrachtet. Aber was hat Deutschland schon mit Holland zu tun, sieht man von den ewigen Rivalitäten der beiden Fussballnationen einmal ab. Ob es auch ein Westfriesland oder ein Südfriesland gibt, ist ungewiss. Die Existenz von Nordfriesland hingegen ist verbürgt. Sein Name leuchtet sogar ein, im Gegensatz zu demjenigen von Ostfriesland. Denn auch Nordfriesland liegt an der Nordsee und zieht sich bis nach Flensburg, der nördlichsten Stadt Deutschlands, hinauf. Klar, es liegt auch südlich von Dänemark, und vielleicht lag die Versuchung nahe, das Gebiet statt Nordfriesland Südfriesland zu nennen. Aber die Nordfriesen hatten gut aufgepasst und liessen sich von den Dänen nicht übers Ohr hauen. Sie benannten ihr Gebiet aus ihrer eigenen Perspektive, wichen also in diesem Punkt von den Ostfriesen ab. Vielleicht gibt es deswegen keine Nordfriesenwitze.
Ansonsten aber weisen die beiden Friesenländer viele Gemeinsamkeiten auf. Beide liegen an der Nordsee, und beide verfügen über idyllische Inseln, die, dem Festland vorgelagert, als sogenannte Perlen der Nordsee aus den meerblauen Touristenprospekten grüssen. Zwar kann Nordfriesland zusätzlich auch noch mit seinen Halligen auftrumpfen, unverdeichten Inseln, auf denen die Dörfer, in mehrere Häusergruppen eingeteilt, von Warften herunter trotzen, künstlich aufgeschichteten Hügeln zum Schutz gegen die Sturmfluten. Dafür haben die Ostfriesen ihren Ostfriesentee, mit Sahne und Kluntje. Die spezielle, von den Ostfriesen kreierte indische Mischung ist die einzige Teeart, die klassischerweise mit flüssiger Sahne statt, wenn überhaupt, mit Milch gereicht wird. Der Tee wird über die Kluntje, weisse Kandiszuckerwürfelchen, gegossen, wobei das geübte Ostfriesenohr ein kurzes leises Knistern vernimmt. Zuletzt giesst man etwas Sahne darüber. Der Teelöffel, der listigerweise immer mitgereicht wird, darf keinesfalls benutzt werden, das wäre eine ostfriesische Teetodsünde. Zuerst trinkt man sich nämlich durch die Sahneschicht hindurch, um die Magenwände gegen die leicht aggressiven Teewirkstoffe gleichsam zu schmieren, dann folgt die Mittelstation des feinherben Tees, und zum Schluss genehmigt man sich, gewissermassen als Nachtisch, die sahnig-teeig-kluntjesüsse Restbrühe. Ein besonderer Reiz besteht darin, dass dieses Menü mehrmals wiederholt werden kann, denn der Ostfriesentee wird im Kännchen gereicht, und dieses immer auf dem Stöfchen, einem von Kerzenenergie gespeisten Wärmegestell aus Gusseisen, Kupfer oder Porzellan.
Ost- und Nordfriesland verfügen beide über schöne Dünen, die aber selbstverständlich nirgends betreten werden dürfen – eine Variante des ostfriesischen Teelöffels! Auch das Wattenmeer ist eine gesamtfriesische Spezialität, die auf der Welt einmalig daliegt. Jeden Tag zweimal, bei Ebbe, entwässert sich der Meeresboden in Ufernähe kilometerweit, die verankerten Schiffchen stehen plötzlich auf dem nackten Grund, Wasservögel hüpfen auf dem glanzgrauen Schlick und picken sich ihre Mahlzeit heraus. Barfuss lässt sich da schön in die Unendlichkeit wandern, und so mancher leichtsinnige Tourist landete da auch wirklich, – christlich gesprochen: in der ewigen Glückseligkeit – weil er sich von einem plötzlichen Küstennebel oder von der unvermittelt wieder einsetzenden Flut überraschen liess.
Wattwandern ist für den Einzelgänger eigentlich aus Sicherheitsgründen verboten. Dafür gibt’s geführte Wattwanderungen. Das kommt dem deutschen Naturell, das schon seit je zu geselligem Gruppenwesen einerseits und zu disziplinierter Reglementierungstreue geneigt hat, sehr entgegen. Man kann sich beispielsweise keine Nation vorstellen, die den Dünenschutz und die mit Betretungsverbot belegten Ruhezonen für die zum Teil selten gewordenen Vogelarten im Wattenmeer so rigoros überwachen würde wie die Deutschen. Auch die Einhaltung der täglich sich ändernden Badezeiten – nur bei Hochwasser darf gebadet werden – ist am überwachten Badestrand zwingend, will man, wie übrigens die meisten deutschen Urlauber, aufs Baden im nicht besonders prospektblauen Meer nicht gänzlich verzichten. Dafür gibt es den Strandwärter mit seiner Trillerpfeife, der ausserhalb der Badezeiten unauffällig am Strand hin und her marschiert. Während der Badezeit aber thront er auf einem an die Jagd gemahnenden Hochsitz und dirigiert die allzu übermütigen Badegäste vermittelst eines Warnhorns und wild gestikulierend buchstäblich in ihre Schranken: Abschrankungen aus Seilen nämlich, an denen auch nicht herumgeturnt werden darf. Der Strandwärter ist zur Badezeit ein Schwimmdirigent vor dem tosenden Orchester der Brandung.
Auch die Anschriften und Hinweistafeln an Geschäften und Lokalen lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Friesenländer zu Deutschland gehören. Vor der Inselfleischerei macht ein Schild darauf aufmerksam, dass es heute Kesselfrische Fleischwurst gebe. Was wohl bedeutet, dass auf dieser Insel als Inbegriff der Frische ein Kessel gilt, und dass die Wurst, ohnehin des Deutschen Leibgericht, hier tatsächlich noch aus Fleisch besteht. Ein paar Schritte weiter stossen wir auf das Teehandelskontor: ein simples Teegeschäft. Der Deutsche liebt eben respekteinflössende Vokabeln, gerade auch im Urlaub, den er mit Ernst und düsterem Verantwortungssinn bestreitet.
Obwohl die beiden Friesenländer zu Deutschland gehören, sprechen die älteren Leute dort nicht Hochdeutsch, sondern, wohl in Anlehnung an die flache Landschaft, Plattdeutsch oder schlicht „Platt.“ „Kiek in“ heisst soviel wie „Komm herein“, „klönen“ heisst „sich unterhalten“ usw. Sprachliche Tücken lauern den aus südlicheren Gefilden Hergereisten deutscher Zunge überall auf. So grüsst ihn der Ostfriese mit dem scharf hervorgestossenen Laut Moin! Es ist aber Abend. Und auf dem Reiseprospekt aus dem Hamburger Reisebüro hat er gelesen: Fähre ab Harlesiel Tiedengebunden. Ein komischer Ortsname, dieses Harlesiel Tiedengebunden, dachte er bei sich, aber schliesslich befindet man sich schon halb in Skandinavien, und da ist sprachlich alles möglich. Nach eingehendem Studium der Landkarte konstatierte der Reisende entnervt, dass dieser verfluchte Ort Tidengebunden nirgends eingetragen war. Immerhin fand er, nach nochmaliger Arbeit mit der Lupe, den winzigen Punkt Harlesiel. Tidengebunden werde demnach wohl der Ortsteil mit dem Hafen sein, mutmasste er, also endlich losgefahren, in Harlesiel kannst du dich immer noch durchfragen! Aber die Kartenleserei hat ihn soviel Zeit gekostet, dass er in Harlesiel, das aus zwei, drei Häusern und einer Schifflände besteht, gerade noch zusehen kann, wie sich das Schiff mit den winkenden Passagieren an Bord in Bewegung setzt – inselwärts. Morgen wieder, knurrt der lederhäutige Ostfriese am Schalter. Eine Unterkunft ist auf dem Festland nirgends zu finden, in der Saison erst recht nicht. Nicht für eine Nacht!, heisst es lakonisch und schon ist die Tür der Pension wieder zu. Friesisch herb, diese Ostfriesen, wie laut Werbeslogan das Bier aus Jever. Im Schlafsack unter einer Pappel den Morgen erwartend – zum Glück fährt das erste Schiff schon um sieben Uhr – prägt der südliche Gast sich das neu gelernte Wort ein: Tide heisst die Gezeiten, Ebbe und Flut. Und Tidengebunden bedeutet demnach: gebunden an die täglich sich ändernden Gezeiten. Nur bei Flut kann gefahren werden, das leuchtet ein, selbst in der sinistren Ambiance unter dem wenig ausladenden Dach dieser Pappel, durch deren undichtes Laubwerk jetzt die ersten Regentropfen dringen.

   
   
Korken. Ein Ratschlag fürs Leben

Wenn du einen Wein entkorkst, erwartungsfroh eine kleine Probe ins Glas giesst, dieses schwenkst und daran riechst, misstraue nicht deiner ersten kleinen Irritation. Denn du bist leicht zusammengezuckt, der Wein hat Korken, das war dein erster Eindruck. Und dennoch entblödest du dich nicht, nun auch noch einen Schluck davon zu nehmen, ihn prüfend auf der Zunge und im Gaumen zu verteilen und ihn unschlüssig zu schlucken. Nun, vielleicht braucht der Wein etwas Luft, das Essen steht auf dem Tisch, die Gäste sitzen da, genussbereit. Und überdies ist es eine Flasche im Magnum-Format. Teure Sache. Der Wein muss gut sein, und er ist es auch.
Du irrst dich. Stell die Flasche weg, steig in den Keller und hol dir eine neue. Doch schon servierst du den Wein, schenkst ein, man stösst an, alle trinken, niemand sagt etwas, und beim ersten und zweiten Schluck bist du erleichtert. Es war ein Irrtum, der Wein ist in Ordnung. Er ist es nicht. Nicht mehr nach dem dritten oder vierten Schluck, und beim zweiten Glas bist du bereits am Verzweifeln. Der erste Eindruck täuscht nie. Eine neue Beziehung sollte niemals ihren Gang nehmen, wenn diese erste Irrititation aufgetreten ist, ein Geschäft keinesfalls abgeschlossen werden nach diesem leichten Zusammenzucken beim ersten Händedruck mit dem künftigen Partner, und wenn die Etikette noch so verlockend aussieht.
Alles Beschönigen hilft nichts. Am Ende ist es ein Drama. Ehescheidung, Konkurs, Nachlassstundung, Betreibung, Depression, psychiatrische Klinik. Suizid ist nicht ausgeschlossen.
Du hast eine gute Nase. Vertraue ihr!

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