Apr 2012

Julian Reidy

Mehr als ein ‚unendlicher Spaß’: Figurationen von David Foster Wallace in Clemens Setz’ Erzählung Kleine braune Tiere. Von Interauktorialität, Intertextualität und Selbstmorden

 

     „The truth is that the hours before a suicide are usually an interval of enormous conceit and self-involvement.“

– David Foster Wallace

„This was not an ending anyone would have wanted for him, but it was the ending he chose.“

D. T. Max

 Schon bevor sein Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes 2011 den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, galt der 1982 geborene österreichische Autor Clemens Setz als „jüngste Hoffnung der deutschen [sic] Gegenwartsliteratur“[1] oder sogar als deren „Hoffnungskind“[2]. Im gleichen Atemzug wird Setz oft als „Nachfolger“[3] des amerikanischen Kultautors David Foster Wallace gehandelt, der sein „Vorbild[]“[4] sei[5]. Der vorliegende Aufsatz soll Clemens Setz’ literarische Bezugnahme auf David Foster Wallace anhand einer Erzählung aus Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes beleuchten, nämlich Kleine braune Tiere. Zu zeigen ist zum einen, dass und in welcher Weise die Erzählung auf Wallace anspielt. Zum andern soll untersucht werden, wie in Kleine braune Tiere der Suizid – natürlich spezifisch der Suizid des David Foster Wallace, der in Setz’ Erzählung in vielfacher Weise figuriert – konzeptualisiert wird, und zwar sowohl im Spiegel medialer Reaktionen auf Wallaces Tod als auch anhand von Positionsbezügen zweier Personen, die Wallace nahe standen: seines Freundes Jonathan Franzen und seiner Witwe Karen Green. Ausgegangen wird von der Arbeitshypothese, dass Wallaces Freitod in Kleine braune Tiere in vielschichtiger, ambivalenter und, wie im Zuge einer sehr kurzen kulturgeschichtlichen Kontextualisierung der Selbstmordproblematik offenbar wird, eben gerade nicht stereotyper Weise reflektiert wird.

Die Erzählung Kleine braune Tiere, welche der Rezensent Franz Haas nicht zu Unrecht als „wirkliche[s] Herzstück“[6] des Erzählbands betrachtet, handelt vom „Genie“[7] Marc David Regan. Dieser wurde „1986 in Manchester geboren“ und ist ein „begnadete[r] Universalpoet unter den Spieleprogrammierern“; schon als Kind wollte er „Schriftsteller“[8] werden, war im vorpubertären Alter bereits literarisch produktiv und studierte dann „Mathematik“[9]. Vor seinem Selbstmord nahm er, im Liebeskummer, „voller Verzweiflung und Selbstmitleid“, die Arbeit an einem „Computerspiel“[10] namens „Figures in a Landscape[11] auf. Das Spiel, „surreal[]“[12] und grotesk, ist originell und schwierig. Es löst schon „kurz nach Erscheinen“ im Jahr 2007 „interdisziplinäre Begeisterungsstürme“[13] aus, und erlangt „ungeheuren Einfluss […] auf die künstlerischen und intellektuellen Sphären des frühen 21. Jahrhunderts“[14]. Einer der Hauptgründe für die Faszination, welche Figures in a Landscape innewohnt, ist laut dem Erzähler das mysteriöse „letzte Level“ des Spiels: „Bis heute weiß niemand, wie man das letzte Level von Figures in a Landscape direkt im Gameplay erreicht. Man bleibt bestenfalls im vorletzten Level stecken […]“[15]. Regan nimmt das Geheimnis des letzten Levels mit ins Grab: Er begeht 2008[16] Selbstmord. Die Erzählung endet mit einem Symposion zu Regan, in dessen Verlauf es zur Kontroverse um das letzte Level kommt. Konrad Lauffer, ein etablierter Regan-Forscher, der gemäß dem Erzähler schon 2007 ein „Standardwerk“ mit dem Titel „Kafka, Lynch, Regan[17] veröffentlicht hatte, glaubt das Mysterium entschlüsselt zu haben: Im Quellcode von Figures in a Landscape verstecke sich ein bislang unentdeckter Abschnitt, der nach der Kompilierung ein neues Level – vermutlich das sagenumwobene letzte Level – ergebe, nämlich einen schmalen Raum mit blauen Wänden. Der Spieler, erkennbar an den am unteren Rand des Bildschirms schwebenden Händen, konnte nicht mehr viel tun, als sich vor und zurück zu bewegen. Zu erledigen gab es in dem Raum nichts […]. Die Lebensenergie des Spielers in diesem letzten Level war […] zu einem grauen Balken erstarrt, der niemals, auch nicht mit der Zeit, abnahm. Es war eine Welt ohne Tod, ein Jenseits, vergleichbar mit dem weißen Raum am Ende von Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssey, in dem einer der Astronauten wohnt, isst, altert, sich zum Sterben hinlegt und dann wieder aufsteht.[18]

Diese Entdeckung wird zunächst als Sensation gefeiert. Nach Lauffer aber hält eine amerikanische Musikwissenschaftlerin namens Maggie Phillips, Autorin einer Regan-Biographie, einen Vortrag, in welchem sie eine laut dem Erzähler „gewagter[e]“[19] Erklärung für das letzte Level vorbringt: Der „blaue Raum aus dem Programmcode sei zwar ganz interessant, aber es gebe doch eigentlich keinen Beweis dafür, dass es sich dabei tatsächlich um das letzte Level handle. Wahrscheinlich sei es lediglich ein Rest, ein frühes Experiment“[20]. Phillips liest einen Brief aus der Feder von Regans Freundin vor, die den Toten entdeckt hatte. Der Brief schildert die letzten Stunden des Künstlers und seinen Selbstmord:

Und da ist er gelegen, alles voller Blut, die schönen neuen blauen Fliesen [im Badezimmer, Anm. v. J. R.], alles voll. Es war furchtbar. […] Ich sage Ihnen, Ms. Phillips, alles war voller Blut, sogar der Rattenkäfig, der offen stand, und die verwirrten Tiere waren am Boden, ganz durcheinander und mit klebrigen Pfoten, denn das Badezimmer, müssen Sie wissen, ist ein ganz schmaler Raum, wo die Wände einem immer ganz nah sind, egal wo man steht. Nachdem ich begriffen habe, was geschehen ist, ist mir schlecht geworden, und dann bin ich sofort aus der Wohnung geflüchtet […]. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, ich bin immer noch böse auf ihn. Er hätte das nicht tun sollen, nicht so, auf diese Art. Und wenn ich daran denke, dass er in seiner letzten Stunde lieber seine beschissenen Nager um sich gehabt als mich – ich sage Ihnen, dann wird mir heute noch schlecht.[21]

 

Der bislang unbekannte Brief wird auf dem Symposion als „‚Entdeckung’“ gefeiert, Lauffer ist blamiert und zertrümmert vor seiner Abreise „einige Gegenstände in seinem Hotelzimmer […], das übliche Programm eben, wie es bei Paradigmenwechseln häufig zu beobachten ist“[22] – wobei nicht ganz klar wird, inwiefern diese Schilderung von Regans Todesumständen die Frage nach dem letzten Level beantwortet, beziehungsweise Konrad Lauffers Hypothese vollumfänglich entkräftet. Überhaupt entsteht nicht der Eindruck, dass Maggie Phillips vertrauenswürdiger ist als Lauffer. In ihrer Regan-Biographie zitiert sie einmal eine Notiz Regans, die laut dem Erzähler in den gesammelten Letters and Journals nicht zu finden sei[23], und der erwähnte Brief von Regans Freundin könnte, so argumentieren „Zweifler“[24], von Phillips fingiert worden sein – diese Zweifel werden in der Erzählung in der Tat nicht entkräftet. Zudem exzerpiert der Erzähler aus dem in Fn. 16 erwähnten Sammelband ein Chat-Protokoll, in welchem ein User namens Edgar11 behauptet, einen „narrow blue room filled with little brown animals“[25] entdeckt zu haben, nachdem er in die Flammen seines brennenden Hauses gesprungen sei – nur wer den von Phillips zitierten Brief kennt, kann vom „narrow blue room“ mit den „little brown animals“ (Regans Ratten) wissen; es ist also nicht ausgeschlossen, dass Phillips unter einem Pseudonym online ihre Thesen zu Regans Tod verbreitete.

Wie dem auch sei: In dieser grotesken und komplexen Erzählung ist David Foster Wallace mehrfach repräsentiert. Zunächst tritt er in derselben Funktion auf wie in den Rezensionen zu Clemens Setz’ Werk, und zwar als Vorbild. Marc David Regans „Meisterwerk[]“ sei, so der Erzähler gleich zu Beginn von Kleine braune Tiere, für „unsere[] Epoche“ ebenso paradigmatisch wie „Ulysses für den modernen, Gravity’s Rainbow für den postmodernen, Infinite Jest für den postpostmodernen“[26] Roman. Ab diesem Punkt aber kommt es zu einer Art Doppelung: Der ‚echte’ David Foster Wallace mag in der Erzählung als Autor des Romans Infinite Jest präsent sein, aber in der Figur des Marc David Regan tritt er auf noch prägnantere Weise in Erscheinung, allerdings in verklausulierter Form. Die Parallelen sind sehr zahlreich. Mit Wallace teilt Regan einen Vornamen. Wie Wallace galt auch Regan schon als Kind als „Genie“[27] mit vielseitiger Begabung: Der junge Regan wirkt als Dichter und Mathematiker und schließlich als Programmierer eines Computerspiels; der junge Wallace war ein begabter Tennisspieler, studierte später Englisch und Philosophie, wobei er sich auch mit mathematischen Arbeiten einen Namen machte[28], und erhielt 1997 ein MacArthur Fellowship. Regan hegt ein großes „Mitgefühl für Tiere“[29] und stirbt in der Gesellschaft seiner geliebten Ratten (also ‚kleiner brauner Tiere’); Wallace war ein fast schon fanatischer Hundefreund und nahm sich das Leben, während er allein mit seinen Hunden zu Hause war[30]. Die Hauptfigur in Figures in a Landscape heißt „John Brel“[31], „[m]öglicherweise“[32], so der Erzähler, in Anspielung auf den Sänger Jacques Brel, den Regan mochte – in Infinite Jest gibt es einen Charakter namens Michael Pemulis, dessen Namen Wallace höchstwahrscheinlich ebenfalls einem Musiker entlehnte[33]. Konrad Lauffers „Standardwerk“[34] über Regan trägt den Titel Kafka, Lynch, Regan – sowohl über Franz Kafka als auch über David Lynch schrieb Wallace vielbeachtete Aufsätze[35]. Zudem stirbt Regan wie Wallace im Jahr 2008 durch Suizid, wobei wie im Falle von Wallace die Leiche von der Lebensgefährtin gefunden wird. Sogar auf einer Meta-Ebene figuriert Wallace im Text: Der Titel von Setz’ Erzählung lässt sich nämlich nicht nur als Anspielung auf die dem Suizid beiwohnenden Ratten lesen, sondern evoziert auch Wallaces Verlagshaus Little, Brown Books[36]. Das Erbe beider Künstler umfasst schließlich jeweils ein gigantisches und ‚schwieriges’ Hauptwerk von „ungeheure[m] Einfluss“[37]Figures in a Landscape, respektive den in der Erzählung erwähnten Roman Infinite Jest –, das in der Fachwelt hitzig und kontrovers diskutiert wird. Alles in allem figuriert David Foster Wallace in Setz’ Kleine braune Tiere gleichsam als biographisches Subjekt, und zwar in so vielschichtiger und fast schon penetranter Weise, dass man der Erzählung ein hohes Maß an „Interauktorialität“ im Sinne Ina Schaberts attestieren muss: Hier wird in der Tat geradezu eine „menschliche Begegnung zwischen dem in einem gelesenen Text wahrgenommenen Autor und dem Autor eines nachzeitigen Werks“[38] gestaltet.

Hinzu kommt ein starker intertextueller Konnex zwischen Kleine braune Tiere und Infinite Jest. Dass die titelgebenden ‚kleinen braunen Tiere’ womöglich mit Wallaces Verlag assoziiert sind, wurde bereits erwähnt. Mit Wallace – und spezifisch Infinite Jest – ist aber vielleicht auch die wichtige Rolle der Farbe Blau in Setz’ Erzählung zu erklären. Denn wie oben erwähnt besteht nicht nur das von Konrad Lauffer angeblich entdeckte letzte Level von Figures in a Landscape aus einem „schmalen Raum mit blauen Wänden“[39], auch das Badezimmer, in dem sich Regan das Leben nimmt, ist mit „schönen neuen blauen Fliesen“[40] ausgestattet. Infinite Jest könnte hier als Prätext gedient haben: Nicht genug, dass die Farbe Blau in Wallaces Roman geradezu leitmotivisch verwendet wird und dabei konsistent negativ konnotiert ist[41], auch ein Selbstmordversuch in – ausgerechnet – einem blauen Badezimmer wird bei Wallace geschildert. In der betreffenden Szene zieht sich die drogensüchtige Joelle in Molly Notkins Badezimmer zurück, „getting ready to have Too Much“[42] (und zwar Kokain). Der Fluss außerhalb des Badezimmers ist dabei „vividly blue“[43]; „pale blue“[44] und „baby-blanket blue“[45] ist der Rauch, welcher den „chunks“ der Droge in der Alufolie entsteigt, und blau ist auch das Badezimmer: Das „intricately grimed electrical outlet“ hat den „light sharp tint of a heated sky’s blue“[46], und die Badewanne ist „lacquer[ed] in blue“[47]. Auch im weiteren Verlauf des Romans ist Blaues negativ besetzt. So wird beispielsweise die grotesk-tragische Geschichte einer Familie erzählt, deren Sohn versehentlich ein Glas „Nestlé[] Quik laced with the sodium cyanide his Dad kept around for ink for drafting“ trinkt und sogleich, „blue-faced“[48], stirbt. Der Vater findet den Jungen, versucht Mund-zu-Mund-Beatmung, und stirbt seinerseits an den Giftspuren im Mund seines Sohns, ebenfalls „bright blue“[49] im Gesicht. So geht das weiter, bis alle anderen Familienmitglieder „keeled over and blue“[50] sind. Auch in einem Flashback des zur erzählten Zeit schon toten James Orin Incandenza Jr. spielt die Farbe Blau eine wichtige Rolle: Incandenza erinnert sich daran, wie er 1963 seinem Vater helfen musste, die Gründe für das entnervende Quietschen des elterlichen Ehebetts zu eruieren. Im bemerkenswert blauen Schlafzimmer der Eltern – „blue carpet“, „blue pillowcases“[51] – erleidet der Vater aufgrund seiner nicht näher spezifizierten „illness“[52] einen Schwächeanfall. Auch hier ist die Farbe Blau mit Krankheit und Tod assoziiert. Wenig später im Roman begegnet ein veritabler Überfluss von Blauem:

 

The following things in the room were blue. The blue checks in the blue-and-black-checked shag carpet. Two of the room’s six institutional-plush chairs […]. […] [T]wo of the […] lamps […] were blue […]. […] The premie violets in an asymmetrical sprig in a tennis-ball-shaped vase on the coffee-table were arguably in the blue family. And also the overenhanced blue of the wallpaper’s sky […].[53]

 

Der beschriebene Raum ist das Wartezimmer vor dem Büro von Charles Tavis, dem Direktor der Tennisakademie, in welcher große Teile von Infinite Jest spielen. Die Wartenden – Michael Pemulis und Hal Incandenza – wurden zum Direktor gebeten, um für bestimmte Missetaten bestraft zu werden. Dieser blaue Raum ist somit ebenfalls der Schauplatz negativer und bedrohlicher Ereignisse. Schließlich erlebt Don Gately auf einem Drogentrip – verursacht durch blaue Pillen[54] – eine äußerst unangenehme Vision: „One dream consists only of the color blue, too vivid, like the blue of a pool“[55].

Schon eine kursorische Durchsicht von Infinite Jest (denn es gäbe noch mehr ‚blaue’ Stellen) zeigt also, dass die Farbe Blau in Wallaces Text oft und jeweils in mehr oder weniger stark negativ konnotierter Weise aktualisiert wird. Die Selbstmordszene in Kleine braune Tiere wird so als doppelter Verweis auf Wallace (den Autor) und Infinite Jest (sein Werk) begreifbar: Auf der Ebene der Interauktorialität ist es gleichsam David Foster Wallace selbst, der sich in Setz’ Erzählung das Leben nimmt (da Regan mit Wallace assoziiert ist und die Parameter seines Suizids, abgesehen von der Todesart, mit denjenigen von Wallaces Suizid übereinstimmen). Auf der Ebene der Intertextualität ist die Suizidszene gemäß der Wallaceschen ‚Farbenlehre’ in Infinite Jest gestaltet, also im bei Wallace negativ besetzten Blau gehalten – und zudem ist sie eng an der Schilderung von Joelles Suizidversuch in Infinite Jest entlanggeführt, der sich ja ebenfalls in einem blauen Badezimmer abspielt.

Die vielfältigen Bezüge zwischen David Foster Wallace, Infinite Jest und Kleine braune Tiere sind damit zumindest ansatzweise erklärt. Begriffe man die Erzählung des Österreichers als simple verspielte Hommage an das amerikanische Vorbild, so könnte man die Analyse an diesem Punkt denn auch beenden. Aber Setz’ Auseinandersetzung mit Wallace ist vielschichtig, und Kleine braune Tiere ist wie überhaupt Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mehr als nur ein „Abenteuerspielplatz für Germanisten“[56]. Neben Interauktorialität und Intertextualität ist nämlich noch eine weitere Facette von Kleine braune Tiere zu untersuchen, und zwar die Art, wie der Suizid von Regan / Wallace inszeniert und durch die Erzählinstanz bewertet wird. An dieser Stelle ist daher ein kurzer Exkurs über David Foster Wallaces Selbstmord und einige Reaktionen auf diese Tat angebracht. Diese sollen in der Folge mit der Konzeptualisierung des Freitods in Kleine braune Tiere verglichen werden.

Nach Wallaces Suizid am 12. September 2008 verliehen Kollegen und Leser zunächst ihrem profunden „shock“[57] Ausdruck, denn der Schriftsteller hatte sich nie öffentlich über seine schweren Depressionen geäußert. Ergänzt wurde der unmittelbare „shock“ zumeist durch Ausführungen über Wallaces Genialität und Einzigartigkeit – die Welt hatte einen besonders wichtigen Künstler vor der Zeit verloren, und so trauerte eine Redakteurin, mit der Wallace zusammengearbeitet hatte, den „books we’re not going to get to read“[58] nach, und die Autorin Laura Miller fragte gar ganz grundsätzlich: „What will we do without him?“[59] Diese Äußerungen – „shock“ und Trauer über das radikal vernichtete Potenzial des Selbstmörders – entsprechen ungefähr dem Reaktionsmuster, das Ursula Baumann in ihrer Studie über den Suizid herausarbeitet: Selbstmorde, so Baumann, lassen grundsätzlich „viele Fragen offen“ und wirken für die Hinterbliebenen immer auch existenziell „verstörend“ („What will we do without him?“), da der Suizidant die „Frage, ob das Leben lebenswert sei, […] für sich selbst negativ entschieden“[60] hat. Topisch an den Reaktionen ist zudem der implizite oder explizite Wunsch, der Suizidant hätte noch ein wenig länger durchhalten mögen, gekoppelt an die Hoffnung, dass sich dadurch seine Situation verändert hätte: Die erwähnte Redakteurin hätte sich von Wallace noch weitere Bücher erhofft, und auch der Wunsch von Wallaces Schwester Amy – „if only he could have held on a little bit longer“[61] – fällt in dieses Paradigma (allerdings zieht sie diesen Wunsch noch im gleichen Zitat verständnisvoll zurück). Man fühlt sich an Madame de Staëls Diktum erinnert, wonach „der Tugend sich entzieh[t]“, wer „sich das Leben [nimmt] im Unglück“, denn diese Handlung heißt „den Freuden sich entziehen, die diese Tugend uns würde gegeben haben, wenn wir durch ihre Hülfe über unsere Mühen gesiegt hätten“[62]. Mit ähnlichem Duktus kommentierte Bettina Brentano die Selbsttötung Karoline von Günderrodes:

 

Nein, es kränkt mich und ich mache ihr Vorwürfe […], daß sie die schöne Erde verlassen hat; sie hätt noch lernen müssen, daß die Natur Geist und Seele hat und mit dem Menschen verkehrt und sich seiner und seines Geschicks annimmt und daß Lebensverheißungen in den Lüften uns umwehen; ja, sie hat’s bös mit mir gemacht, sie ist mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr teilen wollte alle Genüsse.[63]

 

Für das Bedauern verpasster Chancen und verschwendeten Potenzials angesichts der „harten Faktizität“[64] des Suizids finden sich also geistes- und literaturgeschichtlich prägnante Beispiele. Stereotyp an den Reaktionen auf Wallaces Selbstmord ist aber auch die Tendenz, den Toten zu verklären und zu überhöhen. Miller beschwört Wallaces „kindness and generosity“[65], auch Ito lobt die „kindness“[66] des Autors, die Schwester Amy schildert ihn als kinderlieb[67], Wallaces Agentin Bonnie Nadell bezeichnet ihn als „sweet“[68], und sie alle betonen, dass diese guten Eigenschaften selbst durch Wallaces schwere psychische Krankheit kaum beeinträchtigt worden seien, wodurch der Tote in der Retrospektive natürlich um so ‚kinder’ und ‚sweeter’ erscheinen muss. Wenn man wollte, könnte man hier wiederum auf Madame de Staël verweisen, die schrieb, dass „die größten Eigenschaften der Seele […] durch das Leiden enthüllt“[69] werden – Wallaces Tat, dies implizieren die zitierten Reaktionen, war durchaus vereinbar mit seinen „größten Eigenschaften“, namentlich seinem guten Charakter und seinen herausragenden schöpferischen Fähigkeiten. In ihrer Extremform könnte diese wiederum topisch-romantische Sichtweise gar besagen, dass Wallace ‚zu gut’ für dieses Leben und für sein Leiden war und dass noch seine letzte Handlung gleichsam als eine Art Kunstwerk begreifbar sei: Als „Tat“, um es mit Alber Camus auszudrücken, die sich vorbereitet „wie ein bedeutendes Werk“[70].

Von mindestens zwei Personen, die Wallace nahestanden, gab es allerdings auch andere Positionsbezüge. Gegen Romantisierung und Heroisierung, gegen „[a]dulatory public narratives of David“, die eben immer auch mit einem gewissen Pathos implizieren, dass „this world was never meant for one as beautiful as you“[71], wendet sich zunächst Wallaces langjähriger Freund Jonathan Franzen. Ihm geht es um Differenzierung: Wallace sei nicht homogen, „unitary“, gewesen, nicht einfach nur ein „beautiful and supremely gifted human being“, sondern

 

[f]lickering beneath his beautiful and moral intelligence and his lovable human weakness was the old addict’s consciousness, the secret self, […] an entire secret life devoted to suicide. […] [T]he David whom I knew less well, but still well enough to have always disliked and distrusted, was methodically plotting his own destruction and his revenge on those who loved him.[72]

 

Franzen unterstellt Wallace, dass er in seinen schwächsten Momenten den Selbstmord wohl nicht nur als Erlösung vom Leiden, sondern auch als „career move“ begriffen habe: Das sei „the kind of adulation-craving calculation that he loathed in himself and would deny […] that he was conscious of making, and would then […] laughingly or wincingly admit that, yeah, O. K., he was indeed capable of making“[73]. Auch diese Beobachtung lässt sich kulturtheoretisch untermauern, und zwar mit einem Verweis auf Jean Amérys bekannten Essay über den Freitod, in welchem er den Begriff der „trans-suizidären Intentionen“[74] prägte: Eine Bezeichnung für mit dem Suizid verfolgte Absichten, die über die Selbsttötung hinausgehen, also eben beispielsweise Suizid als „career move“. Diese Deutung von Wallaces Freitod erinnert an Emile Durkheims bekannte Suizidtypologie, besonders an den von Durkheim so genannten „egoistische[n] Selbstmord“[75]. Bei diesem Suizidtyp führt „[e]xzessiver Individualismus […] nicht nur“ zum „Wunsch, dem Leben ein Ende zu machen, sondern er formt diesen Wunsch aus tausend Bausteinen“[76] – zu denen auch Amérys „trans-suizidäre[] Intentionen“ gehören können.  Franzen selbst analysiert in seinem Aufsatz anhand von Daniel Defoes Robinson Crusoe „how sick and crazy radical individualism really is“[77], und krankhafter Individualismus war es denn in seiner Deutung auch, der Wallace den Suizid als „career move“ erwägen ließ. „David“, so resümiert Franzen, habe sich durch seinen Freitod in einem noch näher zu erläuternden gleichsam diskursiven Sinn seinen Freunden und seiner Familie entzogen und sich der Welt der Leser und Kritiker überantwortet: Er habe „chosen to leave the people who loved him and give himself to the world of the novel and its readers, and I was ready to wish him well in it“[78]. In ähnlicher Weise äußert sich Wallaces Witwe, die Künstlerin Karen Green:

The only other time she has talked to a newspaper was at the opening of her last art show when she spoke to a journalist from the New York Times. ‘I did it on the basis that her story would not include the words ‘hanging’ or ‘discovered body,’ she says now. ‘I’m an idiot, of course they did all that. I know journalism is journalism and maybe people want to read that I discovered the body over and over again, but that doesn’t define David or his work. It all turns him into a celebrity writer dude, which I think would have made him wince, the good part of him. It has defined me too, and I’m really struggling with that.’[79]

Die Stellungnahmen von Franzen und Green haben eine andere Qualität als die oben diskutierten topischen Reaktionen auf Selbstmorde. Sie suggerieren nämlich, dass der Tod des Suizidanten für die ihm am nächsten Stehenden nicht nur eine verstörende Verlusterfahrung darstellt, sondern dass ihr Verhältnis zu ihm durch den Suizid auch transformiert wird. Franzen deutet die Krankheit seines Freundes als eine Art inneren Dämon, der Wallace den Suizid als „career move“[80] nahelegte und ihn so auf immer den Freunden entfremdet habe; er sei jetzt Teil der „world of the novel and its readers“[81] oder, in Greens Worten, ein „celebrity writer dude“, was es sehr schwer mache „to remember tender things tenderly“[82]. Diese Beobachtungen zeigen, um auch an dieser Stelle den Konnex zur relevanten Theorie herzustellen, dass eine zentrale Feststellung von Jean Améry in Hand an sich legen womöglich zu präzisieren ist: Améry spricht von der „Grundtatsache, daß der Mensch wesentlich sich selbst gehört – und dies außerhalb des Netzes gesellschaftlicher Verstrickungen, […] das ihn zum Leben verurteilt“[83]. Dass es selbstbestimmte Suizide gibt und dass dem Menschen die Verfügungsgewalt über das eigene Leben zusteht, ist unbestritten. Die Schilderungen von Franzen und Green zeigen aber, dass der Suizidant – in diesem Falle einer mit hohem Bekanntheitsgrad – zumindest nach der vollzogenen Tat eben nicht mehr „sich selbst gehört“: Ein Selbstmord wie derjenige von David Foster Wallace wird gedeutet, kritisiert und interpretiert, und das hat signifikante und noch zu spezifizierende Konsequenzen für die Hinterbliebenen.

Wir konnten zeigen, dass David Foster Wallaces Freitod einerseits eher stereotype Reaktionen zeitigte – Verstörung, Verklärung des Toten, den Wunsch, er hätte noch durchhalten und zuwarten mögen –, dass andererseits aber Jonathan Franzen und Karen Green eine Problematik artikulierten, die in der einschlägigen Literatur (so beispielsweise bei Améry) kaum reflektiert wird: Der Suizid eines bekannten Künstlers wie Wallace, so Franzens und Greens Beobachtung, erschwert den Trauerprozess der Hinterbliebenen stark, da er die Qualität ihrer Beziehung zum Suizidanten verändert. Der Tote wird gerade durch die Art seines Todes gleichsam zum Diskursobjekt – Franzen spricht von den verzerrenden „adulatory public narratives“ über Wallace –, und die Rede über ihn schafft Interferenzen, die den Erinnerungsprozess stören, welcher für die Trauerarbeit gemäß Freud essenziell ist:

 

Worin besteht nun die Arbeit, welche die Trauer leistet? […] Die Realitätsprüfung hat gezeigt, dass das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erläßt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen. Dagegen erhebt sich ein begreifliches Sträuben […]. Dies Sträuben kann so intensiv sein, dass eine Abwendung von der Realität und ein Festhalten des Objekts durch eine halluzinatorische Wunschpsychose […] zustande kommt. Das Normale ist, dass der Respekt vor der Realität den Sieg behält. Doch kann ihr Auftrag nicht sofort erfüllt werden. Er wird nun im einzelnen unter großem Aufwand von Zeit und Besetzungsenergie durchgeführt und unterdes die Existenz des verlorenen Objekts psychisch fortgesetzt. Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen.[84]

 

Die Aufarbeitung der „einzelne[n] […] Erinnerungen und Erwartungen“ an den Toten gestaltet sich für Franzen und Green schwierig, weil die Erinnerungen selber im Zuge der öffentlichen Reaktion auf Wallaces Tod unzuverlässig geworden sind – die Situation wird mithin noch komplexer als sie ohnehin ist, denn quälend ist nicht mehr ‚nur’ der Verlust des geliebten Menschen, sondern auch der öffentlich geführte Diskurs über diesen Verlust, sowie natürlich das Wissen um die Tatsache, dass der geliebte Mensch diesen Diskurs durch den Suizid bewusst in Kauf genommen hat. In Karen Greens Worten:

 

‘I think I’m supposed to buck up and be the professional widow,’ she says, with another quick laugh, ‘and I have found that very hard. Very hard. I mean one day you are a couple living in a little house and watching The Wire box-set for the third time, and letting the dogs do their antic stuff, and then suddenly you are supposed to be functioning as the great writer’s widow. That wasn’t how we lived when David was alive. I felt about him like I would if I had been married to a sweet school teacher. So I ignored everything for a long time. Until now, really.’[85]

 

Das Verdienst der Erzählung von Clemens Setz – um nach diesem langen Exkurs wieder auf unseren eigentlichen Gegenstand zu sprechen zu kommen – besteht nun vielleicht darin, dass sie diese verschiedenen Facetten der Selbstmordproblematik ihrerseits reflektiert. Regans Freundin, die einzige betroffene Angehörige, die zu Wort kommt, ist „böse“ auf den Suizidanten, ist aus der gemeinsamen Wohnung „geflüchtet“ und „möchte auch nie wieder dorthin zurück“[86]. Diese wiederum eher stereotype Reaktion – die Freundin empfindet Regans Selbstmord im Wesentlichen als Zurücksetzung ihrer Person, auch weil Regan „in seiner letzten Stunde lieber seine beschissenen Nager um sich gehabt hat als mich“[87] – wird ergänzt durch die Schilderung des durch und durch grotesken Symposions über Regan. Im Rahmen dieser wissenschaftlichen Tagung widerfährt nämlich Marc David Regan dasselbe wie David Foster Wallace: Er wird zum puren Diskursobjekt; die ‚private’ Dimension seines Todes verschwindet mit der Freundin aus der Erzählung und wird ersetzt durch die nie enden wollende Befragung seines Lebens und seines Werks durch Wissenschaftler wie Lauffer und Phillips.

Das von Lauffer angeblich entdeckte letzte Level von Figures in a Landscape steht metaphorisch für diesen Zustand: Der Spieler befindet sich, wie gesagt, in einem „schmalen Raum mit blauen Wänden“, der offenkundig mit Regans Suizid im blauen Badezimmer assoziierbar ist, und kann „nicht viel mehr tun, als sich vor und zurück zu bewegen“ – „[e]s war eine Welt ohne Tod, ein Jenseits, vergleichbar mit dem weißen Raum am Ende von Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssey, in dem einer der Astronauten wohnt, isst, altert, sich zum Sterben hinlegt und dann wieder aufsteht“[88]. Und obwohl Maggie Phillips Lauffer mit ihrem Vortrag sogleich blamiert, ist, wie bereits erwähnt, auch der Wahrheitswert ihrer Thesen strittig: Selbst die Authentizität des von ihr zitierten Briefs kann sie laut dem Erzähler nicht belegen, sondern eben nur „behaupte[n]“[89] – das Symposion führt nicht zu befriedigenden Einsichten in Regans Kunst und die Umstände seines Todes. Am Ende der erzählten Zeit, die auf das Ende des Symposions fällt, ist Regans ‚Diskurswerdung’ perfekt, und paradoxerweise weiss man weniger über den ‚echten’ Regan als zu Beginn: Er ist gleichsam verschwommen und eingegangen in den todeslosen ‚blauen’ Raum (pseudo-)wissenschaftlicher Debatten und Spekulationen, an Symposien und natürlich „[i]m Internet“[90]. Davon zeugen auch die vom Erzähler laufend zitierten (und gut erfundenen) Titel wissenschaftlicher Publikationen zu Regan[91]. Setz zeichnet hier den Prozess der ‚Rezeption’ und Interpretation von David Foster Wallaces Suizid in sehr luzider Weise nach: Der Freitod einer ohnehin öffentlichen Person wie Wallace oder eben Regan verursacht nicht nur den typischen privaten Schmerz, sondern kann einen Diskurs über den Toten und die Motive des Suizids in Gang setzen, dem eine große Eigendynamik innewohnt. So entstehen, um Franzens treffenden Begriff zu übernehmen, „narratives“, welche dem Toten womöglich keineswegs gerecht werden (man denke an Karen Greens Bedauern über Wallaces Transformation zu einem „hip dead writer dude“) und den Hinterbliebenen die Trauerarbeit erschweren. Interessant ist aber auch, dass Setz’ Erzähler Regans Selbstmord abschließend ganz ähnlich interpretiert wie Franzen den Suizid von David Foster Wallace: Als eine Art „career move“ nämlich. Angesichts der Verschwörungstheorien über Regans Ableben und das letzte Level von Figures in a Landscape sinniert der Erzähler, „dass es zu [Regan] gepasst hätte“, sogar noch den eigenen Tod zu fingieren, denn „[w]enn er schon seinen echten Tod nicht überleben konnte, wollte er wenigstens sehen, wie eine mögliche Nachwelt aussehen würde“ – auch Regan, dies die Implikation, ging wohl nicht ohne „trans-suizidäre[] Intentionen“[92] in den Tod.

Im Zuge unserer Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass es sich bei Clemens Setz’ Erzählung Kleine braune Tiere im Grunde um eine enorm facettenreiche und komplexe Auseinandersetzung mit der Person, dem Werk und dem Suizid des David Foster Wallace handelt. Der Amerikaner figuriert so prominent und vielgestaltig in der Erzählung, dass man geradezu mit Goethe von „wiederholten Spiegelungen“ sprechen könnte, die „das Vergangene nicht allein lebendig erhalten, sondern sogar zu einem höheren Leben empor steigern“[93]. Wallace firmiert in der Erzählung nämlich nicht nur als Teil einer Referenzstruktur – wodurch er „lebendig erhalten“ würde –, sondern sein Leben und Schaffen wird auf mehreren Ebenen reflektiert, sodass es eben gleichsam zur von Goethe postulierten ‚Steigerung’ kommt: Wallace ist zum einen, wie wir anhand von Ina Schaberts Begriff der Interauktorialität zeigen konnten, als biographische Entität, als realer Autor in Setzens Text präsent – über Daten, biographische Parallelen zwischen Regan und Wallace, Anspielungen, aber auch ganz explizit über die Erwähnung von Infinite Jest zu Beginn von Kleine braune Tiere. Zum andern weist Setz’ Erzählung starke intertextuelle Bezüge zu Infinite Jest auf, die wir am blauen Farbmotiv festmachen konnten, welches in beiden Werken eine tragende Rolle spielt. Als besonders ergiebig erwies sich aber die Beobachtung, dass Kleine braune Tiere nicht zuletzt eine Art Meta-Reflexion (oder ‚wiederholte Spiegelung’) über Wallaces Selbstmord zur Darstellung bringt. Wir konnten zunächst aufzeigen, dass der Tod des amerikanischen Autors nicht nur kulturgeschichtlich stereotype Reaktionen von Lesern, Kritikern und Angehörigen zeitigte: Hinterbliebene wie Wallaces Witwe Karen Green und sein Freund Jonathan Franzen konstatierten außerdem eine Art Verlust zweiter Ordnung, als Resultat der medialen Verarbeitung oder ‚Diskursivierung’ von David Foster Wallace. Ein kurzer Rekurs auf Freuds Begriff der Trauerarbeit demonstrierte, wie verheerend sich solche retrospektive Stilisierungen oder „narratives“ auf die Trauer- und Erinnerungsarbeit von Freunden und Angehörigen eines (prominenten) Suizidanten auswirken können. Clemens Setz, so der Befund am Ende dieses Aufsatzes, antizipierte Greens und Franzens Gedankengänge (denn Kleine braune Tiere ist vor Franzens Aufsatz und dem Artikel über Karen Green erschienen): Er zeichnete am Beispiel von Marc David Regan – erwiesenermaßen eine an Wallace geschulte Figur – die Eigendynamik nach, die ein derart vielbeachteter Freitod zu entwickeln vermag.

Kleine braune Tiere mag ein verspielter, vielleicht gar etwas manieristischer Text sein, dessen penetrante Autoreferenzialität und verschachtelte Anspielungsstruktur den Leser schwindeln lassen – er ist aber definitiv nicht nur eine Attraktion, ein ‚unendlicher Spaß’, auf einem „Abenteuerspielplatz für Germanisten“[94], sondern insgesamt eine sehr hellsichtige Auseinandersetzung mit einem der wichtigsten und tragischsten Künstler unserer Zeit, und zwar eingedenk der Ambivalenz dieses Künstlers, und unberührt von jeglichen verfälschenden „narratives“.

In seinem Aufsatz über Wallace nimmt Jonathan Franzen von seinem Freund Abschied, indem er dessen Asche auf der Alejandro-Selkirk-Insel verstreut und nach seiner oben geschilderten kritischen Bearbeitung von Wallaces Selbstmord seinen Frieden mit dem Freund macht: „I felt done with anger, merely bereft“[95]. Das erste Werk, das Karen Green, die Künstlerin, nach dem Tod ihres Ehemannes schuf, war eine „forgiveness machine“[96] (die sie allerdings selbst nicht benutzte). Kleine braune Tiere ist vielleicht nichts anderes als Clemens Setz’ eigene kleine Abschiedsgeste, die sich neben diejenigen von Franzen und Green einreiht. Auch bei Green, Franzen und Setz wird Wallace also letzten Endes zum Diskursobjekt, zum Anlass, Inhalt und Thema von Kunstwerken – aber eben nicht in stereotyper oder verfälschender Weise, sondern stets im Kontext kritischer Reflexion; die drei Künstler erheben Wallace nicht auf ein Podest und machen ihn auch nicht zu einer Karikatur, sondern zum Gegenstand facettenreicher Denkfiguren – ‚wiederholter Spiegelungen’. In diesem Zusammenhang wirkt Setz’ literarischer Abgesang auf Wallace umso berührender, weil Setz Wallace ja gar nicht kannte. Aber er kannte ihn eben doch, kannte ihn, wie Laura Miller, „as a reader knows a writer“, und vielleicht erging es Setz wie ihr: „I thought I could see [Wallace], even if he couldn’t see me, even if he couldn’t (clearly) see himself“[97].

 


 

Endnoten

[1] Radisch, Iris. 2011, „Einsam sind die Hochbegabten“, DIE ZEIT, 10. März.

[2] Kegel, Sandra. 2011, „Am Riesenrad des Lebens gedreht“, FAZ, 17. März. Es sind aber auch gut begründete kritische Voten zu Setz zu vernehmen, die mit Recht auf die durchaus vorhandenen sprachlichen Mängel seiner Texte verweisen. So beispielsweise Wilke, Insa. 2011, „Unter Holzpuppen“, Frankfurter Rundschau, 14. März.

[3] Ebd.

[4] Radisch: keine Paginierung.

[5] Aus seiner Bewunderung für Wallace macht Setz kein Hehl, was besonders aus seinen Beiträgen für den Blog www.unendlicherspass.de deutlich wird. Setz’ gesammelte Postings finden sich unter diesem Link: http://www.unendlicherspass.de/author/clemens-setz/ (3.6.2011).

[6] Haas, Franz. 2011, „Seelenabgründe aus dem Erzählbaukasten“, NZZ, 29. März.

[7] Setz, Clemens J. 2011, Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, Suhrkamp, Berlin. Hier: S. 257.

[8] Ebd.: S. 258.

[9] Ebd.: S. 259.

[10] Ebd.: S. 261.

[11] Ebd.: S. 256.

[12] Ebd.: S. 269.

[13] Ebd.: S. 271.

[14] Ebd.: S. 277.

[15] Ebd.: S. 278.

[16] Das geht in der Erzählung aus dem Publikationsdatum eines Sammelbands zu Regan: „Vor zwei Jahren“, heisst es, „kurz nach Regans Tod, wurden Auszüge aus Diskussionen auf Foren und Fan-Webseiten zum ersten Mal in Buchform veröffentlicht (In Search of Lost Levels, Oxford University Press, 2008)“ (ebd: S. 278f.).

[17] Ebd.: S. 271, Anm. 13.

[18] Ebd.: S. 280f.

[19] Ebd.: S. 282.

[20] Ebd.; Hervorhebung im Original.

[21] Ebd.: S. 284f.

[22] Ebd.: S. 286.

[23] Ebd.: S. 276, Anm. 17.

[24] Ebd.: S. 283.

[25] Ebd.: S. 279.

[26] Ebd.: S. 256.

[27] Ebd.: S. 257.

[28] Im Essay „Derivative Sport in Tornado Alley“ beschreibt Wallace, wie er „all of a sudden a jones for mathematics“ entwickelte als er sein Studium an „my dad’s alma mater“ aufnahm (Wallace, David Foster. 1998, „Derivative Sport in Tornado Alley“ in A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again, Abacus, London.

Hier: S. 3).

[29] Setz: S. 263.

[30] Wallaces Schwester Amy ist überzeugt, dass Wallace seinen Hunden Bella und Werner einen Kuss gab und sich bei ihnen entschuldigte, bevor er sich erhängte, siehe Lipsky, David. 2010, Although of Course You End up Becoming Yourself. A Road Trip With David Foster Wallace, Broadway Books, New York. Hier: S. xix.

[31] Setz: S. 263.

[32] Ebd., Anm. 6.

[34] Setz: S. 271, Anm. 13.

[35] Siehe Wallace, David Foster. 1998, „David Lynch Keeps His Head“ in A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again, Abacus, London; Ders. 2005, „Some Remarks on Kafka’s Funniness from Which Probably Not Enough Has Been Removed“ in Consider The Lobster, Abacus, London.

[36] Ich bedanke mich bei Julia Strebelow für den freundlichen Hinweis.

[37] Setz: S. 277.

[38] Schabert, Ina. 1983, „Interauktorialität“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, vol. 57, no. 4, S. 679-701. Hier: S. 679.

[39] Setz: S. 280.

[40] Ebd.: S. 284.

[41] Das mag natürlich auch mit der idiomatischen Bedeutung von ‚blue’ im Englischen zusammenhängen, viz. ‚to feel blue’. Verschiedene Fundstellen der Farbe Blau arbeitet auch Greg Carlisle in seiner Arbeit zu Infinite Jest heraus, allerdings ohne die Farbe als Leitmotiv zu benennen und ihre negative Konnotation zu konstatieren (siehe Carlisle, Greg. 2007, elegant complexity. A Study of David Foster Wallace’s Infinite Jest, Sideshow Media Group, Los Angeles & Austin. Hier beispielsweise S. 154; 449).

[42] Wallace, David Foster. 102006, Infinite Jest, Back Bay Books, Little, Brown and Company, New York et al. Hier: S. 238.

[43] Ebd.: S. 236.

[44] Ebd.: S. 239.

[45] Ebd.

[46] Ebd.

[47] Ebd.

[48] Ebd.: S. 436. Als Laie würde ich überdies annehmen, dass eine mit Cyanid gemischte Tinte blau, beziehungsweise cyanblau oder preussischblau ist.

[49] Ebd.: S. 437.

[50] Ebd.

[51] Ebd.: S. 493.

[52] Ebd.: S. 500.

[53] Ebd.: S. 508f.

[54] „[They] began truly binging on Blues, flirting with an O. D.“ (Ebd.: S. 934).

[55] Ebd.

[56] Kegel: keine Paginierung.

[57] Ito, Robert. 2008, „The Last Days of David Foster Wallace“, Salon, 26. Sept.

[58] Zit. n. ebd.

[59] Miller, Laura. 2008, „In Memory of David Foster Wallace 1962-2008“, Salon, 14. Sept.

[60] Baumann, Ursula. 2001, Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar. Hier: S. 276.

[61] Zit. n. Ito: Keine Paginierung.

[62] De Staël, Anne-Louise Germaine. 2007, „Betrachtungen über den Selbstmord“ in Der Selbstmord. Briefe, Manifeste, literarische Texte, Hrsg. Roger Willemsen, Fischer, Frankfurt am Main. Hier: S. 85.

[63] Ebd.: S. 245.

[64] Baumann: S. 276.

[65] Miller: Keine Paginierung.

[66] Ito: Keine Paginierung.

[67] Siehe ebd.

[68] Zit. n. ebd.

[69] De Staël: S. 85.

[70] Camus, Albert. 62004, Der Mythos des Sisyphos, Rowohlt, Reinbek. Hier: S. 12.

[71] Franzen, Jonathan. 2011, „Farther Away. Robinson Crusoe, David Foster Wallace, and the Island of Solitude“, New Yorker, 18 Apr., S. 80. Hier: S. 92.

[72] Ebd.

[73] Ebd.: S. 91.

[74] Améry, Jean. 1976, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Klett-Cotta, Stuttgart. Hier: S. 17. Das prägnanteste Beispiel, das Améry für die „trans-suizidären Intentionen“ nennt, ist ein literarisches: Das von Schnitzlers Leutnant Gustl, an dem eben nicht primär die Bereitschaft interessant ist, in den Tod zu gehen – also gleichsam die ‚suizidäre Intention’ –, sondern gerade die „trans-suizidäre[] Intention“, in diesem Falle die psychische Deformation, die ihm einen schwammigen Ehrbegriff und die kaiserliche Uniform zur „unerläßliche[n] Voraussetzung allen Daseins“ werden und ihn an „andere[] Gesetze[] eines würdigen Lebens glauben liess“ (ebd.: S. 19).

[75] Durkheim, Emile. 1973, Der Selbstmord, Suhrkamp, Frankfurt am Main. Hier: S. 162.

[76] Ebd.: S. 233.

[77] Franzen: S. 94.

[78] Ebd.: S. 93.

[79] Zit. n. Adams, Tim. 2011, „Karen Green. ‚David Foster Wallace’s Suicide Turned Him Into a ‚Celebrity Writer Dude’, Which Would Have Made Him Wince“. The Observer, 10. Apr.

[80] Franzen: S. 91.

[81] Ebd.: S. 93.

[82] Zit. n. Adams: Keine Paginierung.

[83] Améry: S. 105; Hervorhebung im Original.

[84] Freud, Sigmund. 1975, „Trauer und Melancholie“ in Psychologie des Unbewussten, Hrsg. Alexander Mitscherlich et al., S. Fischer, Frankfurt am Main. Hier: S. 198f.

[85] Zit. n. Adams: Keine Paginierung.

[86] Setz: S. 285.

[87] Ebd.

[88] Ebd.: S. 280f.

[89] Ebd.: S. 285.

[90] Ebd.

[91] Beispielsweise: „Don’t speak to me, or I’ll fucking answer“: Logic and Fuzzy Logic in Figures in a Landscape; Das Nash-Equilibrium im Werk von Marc David Regan; Marc D. Regan: Absurdes Zeitalter im Digitalen Theater; „Mister, we are here to amuse your corpse“ – Eine feministische Studie zu den Frauengestalten in „Figures in a Landscape“; Violence is the Music of the Spheres – A deconstructivist Speedrun Through M. D. Regan’s Figures in a Landscape (Setz: S. 277).

[92] Améry: S. 17.

[93] Goethe, Johann Wolfgang. 2006, „Wiederholte Spiegelungen“ in Sämtliche Werke 14. Autobiographische Schriften der frühen Zwanzigerjahre, Hrsg. Reiner Wild, Carl Hanser, München.

[94] Kegel: Keine Paginierung.

[95] Franzen: 93.

[96] Adams: Keine Paginierung.

[97] Miller: Keine Paginierung.

 

 

BIBLIOGRAPHIE:

 

Primärtexte:

 

Goethe, Johann Wolfgang. 2006, „Wiederholte Spiegelungen“ in Sämtliche Werke 14. Autobiographische Schriften der frühen Zwanzigerjahre, Hrsg. Reiner Wild, Carl Hanser, München.

 

Lipsky, David. 2010, Although of Course You End up Becoming Yourself. A Road Trip With David Foster Wallace, Broadway Books, New York.

 

Setz, Clemens J. 2011, Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, Suhrkamp, Berlin.

 

Wallace, David Foster. 1998, „David Lynch Keeps His Head“ in A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again, Abacus, London.

 

Ders. 1998, „Derivative Sport in Tornado Alley“ in A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again, Abacus, London.

 

Ders. 102006, Infinite Jest, Back Bay Books, Little, Brown and Company, New York et al.

 

Ders. 2005, „Some Remarks on Kafka’s Funniness from Which Probably Not Enough Has Been Removed“ in Consider The Lobster, Abacus, London.

 

Sekundärtexte und Rezensionen:

 

Adams, Tim. 2011, „Karen Green. ‚David Foster Wallace’s Suicide Turned Him Into a ‚Celebrity Writer Dude’, Which Would Have Made Him Wince“. The Observer, 10. Apr.

 

Améry, Jean. 1976, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Klett-Cotta, Stuttgart.

 

Baumann, Ursula. 2001, Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar.

 

Camus, Albert. 62004, Der Mythos des Sisyphos, Rowohlt, Reinbek.

 

Carlisle, Greg. 2007, elegant complexity. A Study of David Foster Wallace’s Infinite Jest, Sideshow Media Group, Los Angeles & Austin.

 

Durkheim, Emile. 1973, Der Selbstmord, Suhrkamp, Frankfurt am Main.

 

Franzen, Jonathan. 2011, „Farther Away. Robinson Crusoe, David Foster Wallace, and the Island of Solitude“, New Yorker, 18 Apr., S. 80.

 

Freud, Sigmund. 1975, „Trauer und Melancholie“ in Psychologie des Unbewussten, Hrsg. Alexander Mitscherlich et al., S. Fischer, Frankfurt am Main.

 

Haas, Franz. 2011, „Seelenabgründe aus dem Erzählbaukasten“, NZZ, 29. März.

 

Ito, Robert. 2008, „The Last Days of David Foster Wallace“, Salon, 26. Sept.

 

Kegel, Sandra. 2011, „Am Riesenrad des Lebens gedreht“, FAZ, 17. März.

 

Miller, Laura. 2008, „In Memory of David Foster Wallace 1962-2008“, Salon, 14. Sept.

 

Radisch, Iris. 2011, „Einsam sind die Hochbegabten“, DIE ZEIT, 10. März.

 

Schabert, Ina. 1983, „Interauktorialität“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, vol. 57, no. 4, S. 679-701.

 

De Staël, Anne-Louise Germaine. 2007, „Betrachtungen über den Selbstmord“ in Der Selbstmord. Briefe, Manifeste, literarische Texte, Hrsg. Roger Willemsen, Fischer, Frankfurt am Main.

 

Wilke, Insa. 2011, „Unter Holzpuppen“, Frankfurter Rundschau, 14. März.

 

Internetquellen:
http://www.unendlicherspass.de/author/clemens-setz/ (3.6.2011).

 

http://www.nplusonemag.com/posthumous-gratitude (3.6.2011).

 

 

 

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