Dec 2014

Christine Cosentino

Monika Marons Zwischenspiel: Erinnerungsarbeit an einem Ort “ungekannter Verheißung”

Nach wie vor warten in der DDR aufgewachsene Autoren mit künstlerischen Gestaltungen ihrer gesellschaftlichen Erfahrungen von Rissen und Brüchen, Hoffnungen und Enttäuschungen auf. Auf den verschiedensten Tonlagen äußerten sich in letzter Zeit Autoren wie Volker Braun, Julia Schoch oder Christoph und Jakob Hein. Kürzlich ergriff auch die 1941 in Berlin geborene Autorin Monika Maron wieder das Wort. Ihr bis dato letztes Werk, der Roman Zwischenspiel [1] (2013), steht in einer Reihe autobiografisch durchwirkter Fiktionen, die mit ihrem Debütroman Flugasche (1981) beginnen, einem Roman, der in der DDR nicht veröffentlicht werden durfte. Dem folgten Werke wie Stille Zeile Sechs (1991), Animal triste (1996), Pawels Briefe (1999), Endmoränen (2002) oder Bitterfelder Bogen (2009), um nur einige zu nennen. Der Autorin Maron – zu DDR-Zeiten die aufmüpfige Stieftochter des Innenministers Karl Maron – ging und geht es in ihrem autobiografisch grundierten Werk um die Bewältigung historisch-biografischen Schutts, um Neuorientierungen und um psychische und existenzielle Probleme. Ein einschneidender Wendepunkt in ihrem Leben war ihre Einreise in die Bundesrepublik noch vor der Wende im Jahre 1988. Nach langer Zeitspanne, rund 25 Jahre später, erschien das Zwischenspiel, und der Leser ist geneigt, der Ich-Erzählerin zu glauben, die untertreibend bilanziert: “[Die DDR …] ein anderes Leben, an das ich mich kaum erinnern konnte” (11). Doch der Titel dieses neuen Werks täuscht. Traditionell ist ein Zwischenspiel ein Intermezzo, ein kompositorisches Element, das einem Hauptteil untergeordnet oder zugeordnet ist. Doch das scheinbar Untergeordnete, Episodenhafte, die kleine, unbedeutende Begebenheit am Randes eines Geschehens entpuppt sich in Marons neuestem Werk als das Hauptstück, ein Zwischenspiel von größter Relevanz, in dem Vergessenes und erfolgreich Verdrängtes aus dem quälenden “Erinnerungskeller” (16) an die Oberfläche geholt und neu durchdacht wird.

In diesem also nur scheinbar episodenhaften Zwischenspiel erwacht die fiktive Ich-Erzählerin, die sechzigjährige Museumsangestellte Ruth, eines Morgens aus einem Traum, an den sie sich nicht erinnern kann, der aber ein “bedrückendes Gefühl” (7) und “dumpfes Unbehagen” (7) hinterläßt. Kurz danach geschieht das Ungewöhnliche. Die empirische Welt um sie herum zerfließt ins Impressionistische, die Erzählerin verliert die Orientierung, der geregelte Ablauf der Zeit ist suspendiert: “Es rumorte in den Verliesen meiner verbannten Erinnerungen” (12). Das Herausfallen aus dem Kontinuum des Alltäglichen und Gleiten in einen surrealen Zwischenzustand – der Gedanke an Kafkas Verwandlung bietet sich an – verändert die Wahrnehmung der Protagonistin und macht es möglich, aus der Distanz der Jahre Vergessengeglaubtes aus dem Unterbewußtsein hervorzuholen. Brüche im Leben der Ich-Erzählerin Ruth, Fehlentscheidungen, Schuld, Verrat, persönliche Verantwortung und existenzielle Ängste werden in Szenen und Bildern neu reflektiert. Dem Leser bietet sich ein autobiografisch durchwirktes Geflecht von Geschehnissen, in dem die Konsequenzen von Entscheidungen neu untersucht und relativiert werden. Das Zwischenspiel ist letztlich Bilanz, Monolog, Selbsterkenntnis oder – wie der Kritiker Christoph Schröder es faßt – “eine Aufklärung im Inneren.”[2] Man könnte ebenfalls von Selbsthilfe sprechen, die es der Ich-Sprecherin nach Einsicht in Ursache und Enstehungsgeschichte ihres Fehlverhaltens und des Fehlverhaltens anderer Personen ihr selbst gegenüber ermöglicht, mit ihren Schuldgefühlen und dem Verrat anderer zu Rande zu kommen. Das Zwischenspiel ist eine Auseinandersetzung der Erzählerin mit den “vielen Ichs in ihrem Leben”, Ichs, von denen sie sich distanziert zu haben glaubte, für die sie letztlich aber immer noch verantwortlich ist. In einem surrealen Park stellt sie sich dieser Problematik: “Was ist so ein Ich eigentlich, dachte ich, wenn dem alten Ich das junge so fremd ist, als gehörte es gar nicht zu ihm. Wo bleiben die ganzen Ichs überhaupt, die man in seinem Leben war und denen man das letzte immerhin verdankt?” (17). Zuzustimmen ist Iris Radischs treffender Bemerkung, die Begegnungen im Park seien “Geistergespräche, die die Erzählerin mit den Toten ihres Lebens – vielleicht auch nur mit den vielen Verpuppungen ihres Inneren – führt.”[3]

“Die Verwandlung des Alltäglichen in seine impressionistische Variante” (31) geht schubweise vor sich. Zunächst bereitet sich die Protagonistin auf die Beerdigung ihrer Freundin Olga vor, die vor langer Zeit in der DDR fast ihre Schwiegermutter geworden wäre, hätte Ruth da nicht in letzter Minute einen abrupten Rückzieher gemacht. Gedanken daran beschwören – zunächst durchaus im empirischen Kontext – bekannte Personen und Konflikte herauf. Dann sieht sie, auf den Balkon tretend, einen Wolkenfetzen über sich, der ruckartig die Laufrichtung ändert. Und plötzlich flirrt die Welt vor ihren Augen, sie erscheint verpixelt, bestenfalls impressionistisch. Eine optische Täuschung oder Sehstörung? Die Welt löst sich ins Irreale auf, und Olga erscheint vor ihr, die Schlüsselfigur, mit der all die Personen in Beziehung stehen, denen Ruth auf der Beerdigung nicht begegnen will, denn es gibt Unausgegorenes, Unerledigtes. Olga – gütig, warmherzig, vernünftig, lebensklug und heilend – wird der Erzählerin auf ihrer irrealen Erkundungsreise durch einen “befremdlichen Park”[4] zur Stütze, Ratgeberin und Wegweiserin. Olga, die einmal Schauspielerin werden wollte, gleicht Agnes, der Tochter des indischen Gottes Indra aus August Strindbergs Traumspiel, Agnes, die die Möglichkeiten und Begrenztheiten menschlicher Existenz erforscht. Olga identifiziert sich mit dieser Rolle. Mitleidig bilanziert sie: “Es ist schade um die Menschen” – ein Schlüsselsatz, der zu einem Hauptmotiv in Strindbergs Traumspiel, aber auch in Marons Zwischenspiel wird. “Schuld bleibt immer, so oder so,” (34) meint Olga lakonisch, eine desillusionierende, aber auch tröstliche Einsicht, die im besten Fall zu Nachsicht mit den Menschen führen kann. Gegen ihren Willen landet Ruth nicht auf der Beerdigung ihrer Freundin Olga, sondern in einem Park, in dem ihr bekannte, auch verhaßte Tote herumspazieren, um “in ihrem Körper die Symptome längst überwundener Seelenzustände zu aktivieren” (104). Dieser “Ort ungekannter Verheißung” (39) ist die Konkretisierung einer inneren Welt, in der es um Versöhnung, Verständnis oder Erlösung geht.

Im Park begegnen ihr Personen, die einmal in irgendeiner Beziehung zu ihr standen, in privat-persönlicher, politischer oder beruflicher Hinsicht; Bernhard, den sie fast geheiratet hätte, sein Freund Bruno, Erich und Margot Honecker, ein Hund, den sie Nicki nennt, ein Mann, der das Böse symbolisiert und immer wieder Olga, auf deren Beerdigung sie in der realen Welt hätte sein sollen, in deren Einflußbereich in einer Traumwelt sie stattdessen Unbewältigtes zu bewältigen versucht. Sie hatte Olgas Sohn Bernhard kurz vor der Hochzeit verlassen, weil er ein krankes Kind, Andy, einen Pflegefall, mit in die Ehe gebracht hätte: “Damals war ich mir monströs vorgekommen, herzlos, gemein, niederträchtig. Den Mann mit seinem kranken Kind verlassen; einfach abhauen mit dem gemeinsamen Kind” (16). Für die gemeinsame Tochter Fanny und sich selbst wollte sie ein “normales” Leben, so überzeugte sie sich selbst. “Ich gehe und dreh mich nicht um” (17), entschied sie damals. Sie reiste mit ihrem späteren Mann Hendrik und ihrer Tochter Fanny in den Westen aus. Doch es rumort in den “Verliesen [ihrer] verbannten Erinnerungen” (12), zumal nicht nur sie an Bernhard und seinem kranken Kind schuldig geworden ist, sondern er auch an ihr. Als sie nämlich Jahre später nach dem Fall der Mauer in ihren Stasi-Akten nachliest, erfährt sie, daß Bernhard unter dem Namen Modigliani in den Westen reiste, um seine Tochter Fanny über den DDR-kritischen Schriftsteller Hendrik, ihren Stiefvater, auszuspionieren. Olga, die weiß, daß nichts im menschlichen Handeln voraussetzungslos geschieht, zeigt Verständnis für Ruths eigennützige Flucht. Sie präsentiert dann aber die Gegenseite, die Perspektive des Sohnes Berhard, der zum Spitzel wurde, um Kontakt zur Tochter aufrechtzuerhalten, seinem Kind, das ihm durch die Ausreise entzogen wurde. Schuld steht gegen Schuld. Doch die Zusammenhänge werden aus dem Abstand der Jahre noch einmal auseinandergeknüpft, dann wird ein Fazit gezogen: “Manchmal, sagte [Olga], gibt es das Richtige einfach nicht und man hat nur die Wahl zwischen dem einen und dem anderen Falschen, und dann weiß der Mensch sich nicht zu helfen” (136).

“Schuld und Unschuld erscheinen” – so der Kritiker Jürgen Verdofsky – “als zwei Seiten derselben Sache, halten aber keinen metaphysischen Trost bereit.”[5] Doch die Tatsache, daß sich die Tochter Fanny von ihrem Vater nicht distanziert hat, daß ihr der Vater mehr wert ist als dessen Verrat, daß aus ihrer, der Tochter Sicht, die Stasi kaum noch als bedrohlich empfunden wird, relativiert oder entschärft die Schuldzusammenhänge. Ruth erkennt, daß das Leben ihrer Tochter “fünfundzwanzig Jahre später begonnen hatte als meins und die Dinge daher für sie etwas anderes bedeuteten als für mich und dass dieses miese kleine Wort Stasi für sie, Fanny, nicht ausreichte, um ihren Vater für alle Zeiten unter seiner Schuld zu begraben” (154). Doch, so bilanzierte Olga anfangs, “Schuld bleibt immer, so oder so”; “Es fragt sich nur, wie man damit lebt und was man daraus macht,”[6] führt Jörg Magenau diesen trüben Gedanken fort. Ruth macht die Probe aufs Exempel. Sie überdenkt ihr eigenes Handeln aus neuer Sicht, reflektiert über Zwänge und Entscheidungen in auswegslosen Situationen, und sie renkt ein, gelassener, mit größerer Nachsicht sich selbst gegenüber. Es wird zum klärenden Dialog mit der Tochter kommen, zu einer Annäherung, indirekt auch zu Bernhard: “Vielleicht würde ich auch sagen, daß ich Bernhard nicht unter seiner Schuld verschwinden lassen wollte, weil er trotz allem, und zwar durch mich, ihr Vater war, vielleicht sollte ich ihr das sagen” (155). An diesen versöhnlichen Worten läßt sich Monika Marons poetisches Prinzip ablesen, das sie in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Nationalpreises 2009 wie folgt formulierte:

Das vermag Literatur im glücklichsten Fall: im einzelnen Menschen verstehen, was uns allen innewohnt, und die Umstände erkennen, die es zutage fördern können (meine Hervorhebung). Die Literatur als intuitiver Weg der Erkenntnis, die in der Sprache ihre Zuspitzung oder ihren Ausgleich findet, die in den Exzess oder zur Versöhnung (meine Hervorhebung) führt – so würde ich vage benennen, was mich zum Schreiben von Büchern antreibt.[7]

Eine andere “Schuld-Verrat” Konstellation kristallisiert sich aus Ruths Begegnung mit dem verstorbenen  Intellektuellen Bruno heraus, dem genialen Freund ihres Schriftsteller-Mannes Hendrik, der in der DDR nicht veröffentlichen durfte und mit Ruth und ihrer Tochter Fanny in den Westen ausreiste, wo er zunächst als DDR-Dissident gefeiert wurde. Bruno, der Freund mit dem wahren Talent, blieb in der DDR und trank sich zu Tode. Die Beziehung zwischen den beiden Schriftsteller-Männern gehörte zu Ruths unangenehmen Erinnerungen, “denn die Freundschaft zwischen Hendrik und Bruno habe ich lange nicht durchschaut” (57). Jetzt erfährt sie mehr darüber, denn aus dem alkoholisierten Freund Bruno quillt es pathetisch hervor: “Hendrik, sagte Bruno fast zärtlich. Dann noch einmal heftig: Hendrik, der Verräter. Abgehauen, als er den Erfolg witterte. Der große Exeget der Freundschaft, die ihm dann das Bier nicht wert war, mit dem er darauf angestoßen hat. ‘Mein Freund, ich brauche dich wie eine Höhe, in der man anders atmet.’ Und als er sich die Lungen vollgepumpt hatte und meinen Kopf geplündert, hat er sich davongemacht und auf die Freundschaft geschissen” (53). Bruno, der Außenseiter, rebellierte gegen den DDR-Staat, indem er ihm sein Talent und seine Nützlichkeit verweigerte. Mit Recht nennt ihn Christoph Schröder einen “Oblomow”[8] in Anlehnung an den russischen Autor Gontscharow und seinen Anti-Helden Oblomow. Dieser sieht seine Gesellschaft als krank und verweigert sich ihr, indem er fast den ganzen Tag im Bett bleibt. Bruno und Hendrik waren dicke Freunde, doch in Saufnächten füllte der minderbegabte Hendrik Heft um Heft mit Brunos genialen literarischen Ideen, die er im Westen als seine eigenen verkaufte. Er machte Karriere – bis die Quelle der Inspiration versiegt war. Illusionslos resümiert Bruno: “Die Sache mit der Schuld ist wie ein Hütchenspiel. Es gewinnt immer, der sie verteilt. Ich habe nicht einmal an der Literatur schuldig werden wollen und darum keine Zeile geschrieben, und schwupp, lag die Schuld unter Hendriks Hütchen” (112). Doch dieses Fazit kommt aus dem Munde eines Trinkers. Man muß es ernst nehmen, aber auch wieder nicht.

Die Ich-Erzählerin Ruth teilt Brunos Haß auf den DDR-Staat. Wie ein roter Faden ziehen sich Bezüge auf den zweiten Ehemann ihrer Mutter durch die Handlung, auf den Genossen Keller/Maron, der zeitweilig DDR-Innenminister war. Er, so glaubt sie, hatte ihre Kindheit vergiftet, hatte ihren Kopf mit ideologischem Müll verkleistert, und so blieb “in dem Verhältnis zwischen Mutter und Tochter eine nicht heilende Wunde” (22). Auch damit muß sich Ruth in ihrer “Aufklärungsarbeit im Inneren” auseinandersetzen. Verzahnt damit ist das Auftreten zweier grotesker Figuren, denen aus dem Abstand der Jahre mit Wut allein nicht mehr zu begegnen ist. Ruth begegnet Margot und Erich Honecker, die starrsinnig und rechthaberisch den Sozialismus verteidigen. Über den Genossen Keller und die Honeckers heißt es:

Und als der Genosse zuerst in Depressionen versank und kurz darauf einem Herzinfarkt erlag, empfand ich das als gerechte Strafe für sein anmaßendes Sekretärsleben, mit dem er meine Mutter und damit meine Kindheit verdorben hatte. Es dauerte ein paar Jahre, ehe mir mein Triumph zuwider wurde. Erst als den senilen, krebszerfressenen, entmachteten Männern der Prozeß gemacht wurde, verging mir die Lust auf das Siegen; und auch die Wut (104).

Es überrascht nicht, daß die Heldin in dieser Atmosphäre der Schuldgefühle und des Unerledigten auf eine Figur trifft, die sie zu kennen glaubt, einen Menschen, der sich als das Böse definiert. Sie erinnert sich an ein Porträt eines namenlosen Mannes aus dem Mittelalter, dessen hohlwangiges, bleiches Gesicht mit verschiedenen Hälften sie verwirrt und erschreckt: “Je nachdem, welche Seite seines Gesichts ich betrachtete, konnte ich den Mann für stolz und selbstbewußt halten oder für kalt, sogar kaltblütig” (164). Sie erkenne sich in ihm, meint der Böse, “weil ihr eigenes geknebeltes und gefesseltes Böse sich verbünden will mit mir” (170). Dazu kommt es jedoch nicht, denn die Ich-Erzählerin analysiert Schuldzusammenhänge und wartet mit einem Gegenpol auf: sie begegnet einem Hund, den sie in Erinnerung an ihre Kindheit Nicki nennt, eine Kreatur, die Ruth Liebe schenkt, die Gutes symbolisiert, weil sie “unfähig [ist], das Falsche zu tun” (144). Doch der Schatten von drohendem Bösen bleibt bestehen, denn das Zwischenspiel endet mit einer trüben Aussicht, einer bedrohlichen, apokalyptischen Vision eines karnevalesken Totentanzes. Goyas Bild “Das Begräbnis der Sardine” nimmt vor ihrem inneren Auge groteske Formen an und entringt ihr die Worte: “Wenn das die Zukunft sein soll, du lieber Gott” (189).

Hunde waren bereits in dem Roman Endmoränen Thema und Motiv von Marons Überlegungen gewesen. So auch im Zwischenspiel. Im Park gesellt sich Ruth ein großer, honigfarbener Hund mit blauen Augen zu, der ihr nicht mehr von der Seite weicht und sich mit ihr fürchtet, wenn Böses auf sie zukommt. Diese Begegnung enthält eine Botschaft für die Ich-Sprecherin. Sie erinnert sich an die Memoiren des ungarischen Autors Tibur Dery, Niki oder die Geschichte eines Hundes, in denen es um Freundschaft und Versöhnung zwischen Mensch und Hund geht, “stellvertretend für alle Tiere, die von den Menschen mit rücksichtsloser Gewalt und Überheblichkeit, bei völliger Missachtung der Autonomie des Lebens, behandelt würden” (122). Ruth glaubt an eine Fügung, “die mir die Gegenwart des Hundes beschert hatte, nicht an eine göttliche, auch das Wort schicksalhaft war zu gross, aber ich musste zugeben, dass etwas Religiöses, wenigstens etwas dem Religiösen Ähnliches meinem Gefühl anhaftete” (122). In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen, Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche (2005), in denen es um poetologische Konzeptionsversuche beim Entstehen des Romans Endmoränen geht, kommt einem Hund ebenfalls eine spezifische Rolle zu: “Er bewirkt etwas in der Person, die mit ihm lebt.”[9] Die Person ist hier Johanna, die sich abgekapselt hat, aber in der Sorge um einen struppigen herrenlosen Hund ihren “haustierähnlichen und gänzlich unnützen Zustand”[10] im Käfig depressiver Teilnahmslosigkeit überwindet: “Ein “wunderlicher Anfang” (Endmoränen, 253) für die neuermutigte, kontaktsuchende Heldin. Die Goethesche Folie – des Pudels Kern – ist erkennbar. Im Zwischenspiel geht es gesteigert um das im Hunde-Motiv angelegte Versöhnende oder “Religiöse”. In den Poetikvorlesungen  heißt es, ein Hund sei unfähig zur Schuld und “[habe] wonach der aus seiner transzendenten Verankerung gerissene Mensch sich sehnt: etwas, zu dem er gehört, das größer ist als er selbst. Und daß wir einem anderen Geschöpf das sein können, was wir selbst zwischen Philosophie und Sterndeutung vergeblich suchen, rührt uns bis an den tiefsten Punkt unserer Seele” (36-37). Auch im Zwischenspiel trägt der Hund Nicki in seiner Symbolik von Liebe und Rührung wesentlich zum Geist von Verständnis und Versöhnung bei.

Marons Zwischenspiel gleicht – so führt Ulrich Rüdenauer aus – “einer Epiphanie”[11], zwar nichtals Selbstoffenbarung einer Gottheit, möchte man hinzufügen, vielmehr auf der Folie des Hunde-Motivs als etwas “dem Religiösen Ähnliches” (122). Für die Ich-Sprecherin bedeutet das Nachsicht, Verzeihen und Versöhnung, ohne daß politische oder persönliche Geschehnisse verharmlost werden. Widersprüche und Schuldzusammenhänge bleiben bestehen, aber sie müssen akzeptiert und ausgehalten werden. Es scheint, daß der Protagonistin ernst ist bei dieser Vergegenwärtigung, denn bei ihrer Rückkehr in die wirkliche Welt stellt sie nüchtern und sachlich fest: “Mein Auto fand ich unter der Laterne, das Nummernschild konnte ich klar und deutlich erkennen” (191).

 

Endnoten

[1] Monika Maron, Zwischenspiel (Frankfurt M.: Fischer, 2013). Zitate im Text der Arbeit.

[2] Christoph Schröder, “Zwischenspiel von Monika Maron: Ost-Berlin spürt eines Morgens eine Lähmung,” Der Spiegel 30. Oktober 2013.

[3] Iris Radisch, “Ein Tag im totgesagten Park,” Die Zeit 31.10. 2013.

[4] Beatrice Eichmann-Leutenegger, “Traumspiel in einem befremdlichen Park,” Neue Zürcher Zeitung 5. Dezember 2013.

[5] Jürgen Verdofsky, “Über die Schuld im Leben: Marons Roman ‘Zwischenspiel’,” Badische Zeitung 16. November 2013.

[6] Jörg Magenau, “Ein beharrliches Flirren vor Augen,” taz. die tageszeitung 31. Oktober 2013.

[7] Monika Maron, “Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Nationalpreises 2009 am Dienstag 16. Juni 2009. Deutsche Nationalstiftung.

[8] Christoph Schröder, “ ‘Zwischenspiel’ von Monika Maron,” Der Spiegel 30. Oktober 2013.

[9] Maron, Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche (Frankfurt M.: Fischer, 2005) S. 38.

[10] Maron, Endmoränen (Frankfurt M.: Fischer, 2002), S. 83.

[11] Ulrich Rüdenauer, “ Die Tücken des Hütchenspiels,” Süddeutsche Zeitung 23.10. 2013.

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