Dec 2014

Frederick A. Lubich

Vom Berliner Salon der Weimarer Klassik zum heutigen Berlin als internationale Hipster-Hauptstadt der Clubbing-Szene – Betrachtungen zu Peter Wortsman’s Ghost Dance in Berlin – A Rhapsody in Gray und Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl und Heiko Zwirner (Hrsg.), Nachtleben Berlin – 1974 bis heute. (Review Essay)

25 Jahre ist es her, dass die Berliner Mauer gefallen ist. Rechtzeitig zu diesem Jahrestag sind mehrere Bücher erschienen, die Vergangenheit und Gegenwart dieser geschichtlich so vielschichtigen Hauptstadt Deutschlands erkunden. Zu nennen wären unter anderem Rory MacLean, Berlin. Portrait of a City through the Centuries. (New York: St. Martin’s Press, 2014, pp. 421) und Robert Beachy, Gay Berlin. Birthplace of a Modern Identity.(New York: Alfred Knopf, 2014, pp. 309). Ein drittes nennenswertes Buch ist sicherlich Berlin Now: The City after the Wall (New York: Farrar, Strauss & Giroux, 2014, pp. 326) aus der Feder Peter Schneiders, des wohl bekanntesten Berliner Schriftstellers, der diese Stadt immer wieder zum Thema seiner literarischen Arbeiten gemacht hat.

Folgender Review Essay fokussiert Deutschlands wiedervereinte Hauptstadt primär aus persönlichen Perspektiven. Zum einen aus dem Blickwinkel des amerikanischen Schriftstellers Peter Wortsman und seines neuen Erzählbandes Ghost Dance in Berlin. A Rhapsody in Gray (2013), zum andern aus den Erfahrungen und Erkundungen von rund 50 Zeitzeugen und zeitgenössischen Kulturkritikern, die Berlins Nachtleben der letzten 40 Jahre vor allem aus dem Blickwinkel ihrer vielfältigen Club- Mode- und Musikszene erinnern und erörtern und deren Beiträge von Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl und Heiko Zwirner unter dem Titel Nachtleben Berlin – 1974 bis heute (2013) gesammelt und herausgegeben wurden.

Peter Wortsman, Ghost Dance in Berlin – A Rhapsody in Gray. (Palo Alto: Travelers’ Tales, an imprint of Solas House, 2013, pp. 190.): Peter Wortsman wurde als Sohn jüdischer Emigranten aus Wien 1952 in New York City geboren und ist dort zweisprachig aufgewachsen. Er lebt auch heut noch zusammen mit seiner Familie in Manhattan. Bereits als jungen Erwachsenen zog es ihn zurück in die deutschsprachige Kultur, aus der seine Eltern vertrieben worden waren. Er studierte unter anderem als Fulbright-Hayes Stipendiat 1973-74 an der Albert Ludwig Universität in Freiburg das Fachgebiet der Märchen, als Stipendiat der Thomas J. Watson Foundation 1974-75 machte er Interviews mit Überlebenden der Konzentrationslager in Österreich, Polen, der Tschechoslowakei und Israel, und 2010 kehrte er für ein halbes Jahr als Holtzbrinck Fellow an die American Academy nach Berlin zurück. Wortsman ist Autor von Kurzgeschichten, kurzen Romanen, Gedichten und Theaterstücken sowie Übersetzer repräsentativer Werke deutschsprachiger Autoren wie Heinrich von Kleist, Heinrich Heine, Adelbert von Chamisso, die Gebrüder Grimm, Robert Musil und Peter Altenberg. Er ist für sein Schaffen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, nicht zuletzt auch für seine Reise-Erzählungen, die seit 2008 regelmäßig in der jährlich erscheinenden amerikanischen Anthologie The Best Travel Writing veröffentlicht werden. Darüber hinaus sind seine Essays unter anderen auch in führenden deutschen Zeitschriften und Zeitungen wie Cicero, Die Welt und Die Zeit erschienen. Im Frühjahr 2013 kamen die folgenden drei neuen Bücher von ihm heraus: Ghost Dance in Berlin. A Rhapsody in Gray (Travelers‘Tales/Solas House), Tales of the German Imagination from the Brothers Grimm to Ingeborg Bachmann (Penguin Classics) und Selected Tales of the Brothers Grimm (Archipelago Books) in einer neuen englischenÜbersetzung. Sein Theaterstück Burning Words wurde im Januar2014 indeutscher Übersetzung als Dort wo man Bücher verbrennt … Reuchlins Streit um das jüdischeSchrifttum im Kulturhaus Osterfeld in Pforzheim aufgeführt. Um nur zwei Beispiele aus der kritischen Rezeption seiner Werke zu zitieren: Bloomsbury Review nannte Wortsman „a twentieth century Brother Grimm“, und der bekannte amerikanische Autor Paul Bowles schrieb über seinen Bericht „Snapshots and Souvenirs“: „I was particularly struck by the account of the visit to Auschwitz … excellent.“

Der Erzählband Ghost Dance in Berlin versammelt 22 Vignetten, die während seiner Zeit an der American Academy in Berlin entstanden sind. Ergänzt werden sie durch einen bereits vor dem Mauerfall geschriebenen Essay, der unter dem Titel „The Other Germany – Travel Notes from the Far Side of the World“ im Jahr 1989 im Journal Jewish Frontiers publiziert worden war. Dieser Erfahrungsbericht schildert eine Reise zusammen mit seiner französischen Verlobten nach Ost-Deutschland, um dort alte Freunde zu besuchen. Seine ersten Eindrücke nach der Landung auf dem Berliner Flughafen Tegel beschreibt er folgendermaßen: „(T)he wave of love and revulsion that I feel for everything German sweeps over me with a fury.“(160) Anspielungen an die Stasi als Big Brother, der jeglichen Gedankenaustausch in der DDR zu überwachen scheint, sowie die wiederholten Klagen seiner ostdeutschen Freunde, dass sie sich von ihrem Staat eingesperrt fühlen und nicht zuletzt Erinnerungen alter DDR-Bürger an ehemalige jüdische Mitbürger bilden die wesentlichen Eindrücke von Wortsmans Besuch in der DDR.

In diesem Text kommt der Autor auch über die Ruinenlandschaft der DDR, die sich von Dresden bis Ostberlin, erstreckte, ins weitere Sinnieren: „Here even an American traveler can forget, or at least momentarily suspend, the traumatic dimension of his German-Jewish roots. He can let his fantasy languish in a childhood reverie not yet corrupted by history.“(180) Derartige Reminiszenzen evozieren auch immer wieder die Seelenverwandtschaft des Schriftstellers mit der Märchenwelt der Gebrüder Grimm. So heißt es etwa in der Erzählung „In Search of Lost Shadows“ von einem sonnigen Samstagausflug nach Kunersdorf: „A castle once stood here belonging to a certain Count von Itzenplitz, a name with a comic fairytale ring, like Rumpelstilzchen, Rapunzel, and Rotkäppchen“(126)

Der Grund seines Ausflugs nach Kunersdorf war die Gründung einer Chamisso-Gesellschaft mit Hilfe dreier Liebhaberinnen seines literarischen Werkes. Wortsman umrahmt sein Gruppenbild mit drei Damen folgendermaßen: „Fairytale characters in their own right, these three ladies were a cross between Goldilock’s three bears, Snow White’s seven dwarves and Sleeping Beauty’s fairy godmothers”(128). Der Autor lässt jedoch seine drei verwunschenen Chamisso-Schimären nicht im Niemandsland eines deutschen Märchens zurück, er bringt sie vielmehr auch direkt nach Hollywood, in die Traumfabrik Amerikas. Besonders die Dritte im Bunde scheint ihn zu beeindrucken: „The third, clearly the ring leader, wore a motorcycle leather jacket, like Marlon Brando in the The Wild One and a hard-as-nails look that could kill if you crossed her“(128). Wie schnell aus der heimelichen Märchenwelt von Wortsmans Kindheit das unheimliche Schauderreich des Völkermordes werden kann, zeigt seine Evokation von Treblinka, „when real life Hansels and Gretels went up in a puff of smoke.“(24)

Zwischen den Grimm‘schen Märchen und den „Gräuelmärchen“ über das Dritte Reich, wie Goebbels die Berichte der Alliierten nannte, entfaltete sich im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts auch die Logik einer drakonischen Pädagogik. Bilderbücher wie Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann und Max und Moritz von Wilhelm Busch waren über Generationen hinweg beliebt und ihre Gestalten geistern auch noch durch Wortsmans deutsch-jüdische Erinnerungen. Dabei spielt er ihnen einen weiteren Streich, wenn er zum Beispiel Hoffmanns Suppenkasper zum „Peter the Eater“ verwandelt „a walking sausage until he platzed.“(144) Da das deutsch-jiddische Wort „platzen“ unter Nachfahren jüdischer Einwanderer aus Osteuropa in Amerika auch heute noch bekannt ist, gewinnt die Karikatur vom platzenden deutschen Fettwanst weitere Brisanz, weil ein jüdischer Schriftsteller gegen ihn den Spieß satirisch umdreht.

Von der Welt der Richter und Henker noch einmal zurück ins Reich der Dichter und Denker: Wortmans Spurensuche nach der verlorenen Zeit folgt gewissermaßen dem Vorbild von Hänsel und Gretel, die mit Hilfe ihrer ausgestreuten Brotkrumen wieder nach Hause zu finden hofften. Am bedeutungsvollsten sind in Wortsmans Suche nach seinen deutsch-jüdischen Herkunftsspuren die verschiedenen Friedhöfe in Berlin: „I stopped to pay my respect to the composer Felix Mendelssohn-Bartholdy and the salon hostess Rahel von Varnhagen-Ense, the literary muse of the Romantics and a close friend to Chamisso.“(130). Chamisso liegt dem Schriftsteller aus Amerika sicherlich auch noch aus zwei weiteren persönlichen Gründen am Herzen. Nicht nur reflektiert Chamissos Lebensgeschichte das Auswandererschicksal von Wortsmans eigener Familie, auch Wortsmans französische Frau repräsentiert ein weiteres Mal die Erfahrung der Emigration, wenn auch in etwas anderer Konfiguration.

Auf seiner deutschen „Recherche à la Temps Perdu“ durch die Friedhöfe Berlins kommt Wortsman auch am Grab von Henriette Herz vorbei, eine der großen Salonnieres des aufgeklärten Berliner Bürgertums jener Zeit. Henriette Herz, die ihrem jüdischen Glauben treu geblieben ist, und Rahel Varnhagen von Ense, die zum Christentum übergetreten ist, repräsentieren in geradezu symbolischer Personalunion die vielversprechende deutsch-jüdische Symbiose, die wenige Generationen später auf so unvorstellbare Art und Weise vollkommen zerstört werden sollte.[1]

Als Kind von Eltern, die dem Massenmord am jüdischen Volk entkommen sind, ist Wortsman gegenüber der Erinnerungskultur vor allem im vereinten Berlin besonders sensibilisiert: „No one can fault Berlin for the sin of forgetting. Memory erupts at every turn. Cognizant of the past, the city wears its scars with a certain sullen mix of fatalism and pride, like a one-eyed, limping veteran wears his medals.”(71) Nirgendwo kommt diese Erinnerungskultur monumentaler zum Ausdruck als im Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Wortsman nennt es eine Art “modern-day Stonehenge”(72). Meines Erachtens gleicht jedoch sein gigantisches Stelenfeld eher einem unvollendeten Parkhaus. Wäre nicht ein hoher Glasturm als Mahnmal sichtbar über die ganze Stadt weitaus sinn- und wirkungsvoller gewesen? Und in ihm hätten, wie bereits im „Tower of Life“ des Holocaust Museums in Washington, D.C., die Abbildungen der Ermordeten auf würdevolle Weise die Opfer der Shoah noch einmal vergegenwärtigen können – anstatt ihrer mit einem Labyrinth monotoner Betonklötze zu gedenken.

Von der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte zum Geistertanz nach Auschwitz: Die Villa der American Academy am Wannsee, die einst dem jüdischen Bankier Hans Arnold und seiner Familie gehörte, ist ein derartig gediegenes Bauwerk, welches auch heute noch der Tradition des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums Reverenz und Repräsentanz verleiht. Im Zusammenhang mit dieser Villa kommt Wortsman erneut auf die Berliner Salonkultur zurück, nur diesmal aus der Perspektive der Weimarer Republik und des ihr folgenden Dritten Reiches: „This house is haunted […]. How, I wonder, do the ghosts groups get along? Do the high-strung specters of the original residents […] ignore […] the more recent special arrivals, the phantoms of the booted men in black?“(60) Von der hier stattgefundenen Wannseekonferenz und ihrem abgründigen Beschluss der “Endlösung” ganz zu schweigen.[2]

Weitere Heimsuchungen: Immer wieder kommt Wortsman auf die deutsch-jüdische Geschichte und Kultur zurück, manchmal fantastisch, manchmal ironisch-sarkastisch. So schwelgt er zum Beispiel in den beiden Kapiteln „Wurstlust“ und „Poultry Epiphany“ in Erinnerungen an Schaller & Weber und all die anderen deutsch-jüdischen Delikatessengeschäfte, die in seiner Kindheit das kulinarische Angebot Manhattans bereichert haben und ihm nun in den Kneipen und Kaufhäusern Berlins so anheimelnd wiederkehren. Als Kind Wiener Eltern kann er zudem angesichts von Eisbein und Bratwurst nicht widerstehen, sich mit ihnen auch parodistisch psychoanalytisch auseinanderzusetzen. So fragt er sich, ob ihre Verlockungen nicht etwa auch Evokationen von Freuds “Wiederkehr des Verdrängten“ sein könnten: „Perhaps the German psyche (including its German-Jewish variant) is secretly consumed by a fear of castration and/or penis envy, depending on the sex – which, to assuage – they transfer to the pig.“(52) In diesem sexualpsychologischen Lust- und Ratespiel rund um Wurstobsessionen und Gender-Bender-Transformationen kann ja vielleicht Conchita Wurst, Wortsmans ferne österreichische Landsmännin, die im Frühjahr 2014 als bärtige Sängerin den Eurovision Song Contest gewonnen hatte, aus praktisch-persönlicher Perspektive weiterhelfen. Allen weltlichen Verwirrungen zum Trotz: „Rise Like a Phoenix“! Dies ist nicht nur der Titel von Conchita Wursts musikalischem Blockbuster, sondern auch, wie sich zeigen wird, das Motto für Wortsmans literarischer Beschwörung des aus seinen Ruinen wieder auferstandenen Berlins.

Die Vignette „Dietrich Undressed“ ist eine kokette Hommage an Deutschlands berühmtesten Hollywood-Star, dessen gesamte Garderobe vor Jahren vom Filmmuseum am Potsdamer Platz erworben worden war. Bereits Marlene Dietrichs Name, der beide Geschlechter einschließt, verleiht ihrer androgynen Aura programmatische Signifikanz: „(D)aring and endearing, the Blue Angel rises again – phoenix-like – to entice posterity with peacock feathers and black garter belts – the sultry soul of Berlin.“(34) Wie genau ihr Bewunderer mit dieser Beschreibung auch das heutige Nachtleben von Berlin, seine zum Teil überaus flamboyanten Nachtschwärmer mitcharakterisiert, wird sich in der folgenden Rezension erweisen.

“Phoenix forever being reborn“(xiv), so versinnbildlicht Wortsman den bunten Vogel Berlin bereits zu Beginn seiner Berliner Rhapsodie. Im Einklang mit dem emblematischen Musik-Zyklus der deutschen Romantik nennt er seine winterlichen Streifzüge durch die verschneiten Stadtlandschaften eine „Winterreise“. Hingetuschte Reminiszenzen an Bilder der flämischen Malerschule vermischen sich mit Reverenzen an die künstlerische Avantgarde der Zwanziger Jahre, Schilderungen von Demonstrationen maskierter Autonomer beschwören erneut die politischen Straßenschlachten der Weimarer Republik herauf, und andere Szenerien verdichten sich immer wieder zu Fotografien, die Parklandschaften, verschneiten Denkmäler, die krakeliges Mauergraffiti und manches mehr zeigen.

Wer das heutige Berlin nicht als ein eiliger Turbo-Tourist, sondern vielmehr als ein sensibler Flaneur durchstreifen möchte, der sowohl das Schöne wie auch das Schreckliche dieser Stadt und ihrer Kultur und Geschichte erfahren will, der ist in den Betrachtungen und Beobachtungen von Wortsmans Geistertanz rund um Berlin und seinen oft so zwiespältigen Evokationen immer wieder auf witzige und geistreiche Weise gut aufgehoben.

 

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Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl und Heiko Zwirner (Hrsg.) Nachtleben Berlin – 1974 bis heute. Berlin: Metropol, 2013, pp. 306.

Die rund fünfzig Beiträge zu diesem Bildband sind zum größeren Teil von Autoren geschrieben, die sich in Zeitungen wie tip, Berliner Zeitung, Die Zeit, Der Spiegel sowie auch in TV-ARD einen Namen gemacht haben. Ergänzt wird die Reihe der Beiträger von Künstlern, Galeristen und Betreibern berühmter Bars, die für diesen Sammelband interviewt wurden und zum Teil auch Bildmaterial aus ihren Privatarchiven zur Verfügung gestellt haben. Die drei Herausgeber schreiben in ihrem Vorwort „Willkommen im Nachtleben“: „Die große Party begann spätestens am 29. Januar 1974, als im Chez Romy Haag die Nachtclub-Revolution ausgerufen wurde und die Betreiberin als Königin der queeren Herzen eine neue Ara des Feierns begründete“.(19) Romy Haag war damals die berühmteste Transsexuelle und verführerischste Schönheitstänzerin Berlins und West-Deutschlands. Der Ruf ihrer Travestie-Revuen ging bald weit über Berlin hinaus und internationale Stars wie Nina Hagen, Freddie Mercury, Lou Reed, Tina Turner und die Rolling Stones und – last but not least – Andy Warhol, besuchten, wenn sie in Berlin waren, gern das berühmt-berüchtigte Etablissement.

Spätestens als Iggy Pop und David Bowie gegen Ende der Siebziger für mehrere Jahre nach West-Berlin zogen, begann die Halbstadt zunehmend zum Mekka von Malern, Musikern und Filmemachern sowie kreativen Jugendlichen und anarchischen Selbstverwirklichern jeglicher Couleur zu werden. Quintessenz dieses Zusammentreffens lebens- und liebeshungriger Außenseiter war die sich entfaltende Schwulenbewegung, die Berlin wie schon einmal in der Weimarer Republik zu ihrem liberalen Eldorado machte. Sie beschwört auch einmal mehr das Sinnbild vom Phönix aus der Asche herauf, denn seit Jahrtausenden wurden Schwule geächtet und im Dritten Reich schließlich verfolgt und umgebracht – nur um sich Generationen später als Bewegung ausgerechnet in der einstigen Hauptstadt des deutschen Faschismus umso bunter und flamboyanter wieder aufzuschwingen.

Symbolischer Höhepunkt dieser erotisch-sexuellen Synergie im geteilten Berlin war sicherlich die Liebesgeschichte zwischen David Bowie und Romy Haag, die Martin Schacht den Erinnerungen Letzterer zufolge mit diskreten Pinselstrichen nachskizziert. Die Herausgeber nennen in ihrem „Clubindex“ unter dem Schlagwort „Café Anderes Ufer“ David Bowie den Schutzheiligen dieses Lokals. Dieser Titel scheint freilich etwas deplatziert angesichts der Tatsache, dass der Superstar mit schweren Depressionen sowie dem erklärten Ziel nach Berlin gekommen war, sich dort endgültig von seiner Drogenabhängigkeit zu befreien. Ausgerechnet in West-Berlin, der damaligen „Welthauptstadt des Heroins“(59ff). Und so erscheint denn David Bowie eher als ein gefallener Engel im himmlischen Höhenrausch über Berlin — Wäre er und die Berliner Bohème von damals nicht auch ein lohnendes Thema für den nächsten Dokumentarfilm von Wim Wenders, der mit seinem Film Der Himmel über Berlin (Wings of Desire) zum internationalen Kultregisseur aufgestiegen war?![3]

Figurierte David Bowie, der englische Extraterrestrische, als gefallener Engel über Berlin, so repräsentierte Martin Kippenberger seine mehr oder weniger bodenständige Ergänzung. Als trinkfester Hans Dampf in allen Gassen und Stammgast in Berlins angesagtesten Kneipen verstand er es bestens, aus sich und seinen Kunstwerken Kapital zu schlagen, sodass seine Bilder nur wenige Jahre nach seinem Tod auf den heutigen Investitionsmärkten weltweit zu Millionenpreisen gehandelt werden. Verkörperte David Bowie den damaligen Zeitgeist von Berlin, dann versinnbildlichte Martin Kippenberger das nach dem Mauerfall so viel beschworene Prinzip der Joint Ventures, in seinem Fall die Fusion von Kunst und Kapital. Sie ist das beste Potential dieser Stadt, und Kippenberger ist sicherlich einer ihrer berufensten Schutzpatrone all ihrer kosmopolitischen Aspirationen. Und die Seele von Berlin ist – wie schon Peter Wortsman in seinem Ghost Dance in Berlin erkannt hatte – in der Tat Marlene Dietrich. Denn Berlins Nachtschwärmer sind alle – wie schon der Blaue Engel – mehr denn je „von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt.“

Die immer wieder auch sehr poetisch und metaphorisch geschriebenen Reminiszenzen und Reflexionen bringen die Eindrücke von und die Erinnerungen an das Berliner Nachtleben anschaulich zum Ausdruck. So leben zum Beispiel ihre „Kneipengänger, Nachtcaféhocker, Tresenhänger“ und „Szenenläufer“(35) in einer „ummauerten Halbstadt“ die als „freieste unter den deutschen Städten“ (35) charakterisiert sowie als „Insel der Glückseligen“ (35) mitten „am Ende der Welt“ (35) glorifiziert wird. So exklusiv einige der Clubs sein mögen, so urwüchsig sind die anderen, deren exzentrisches Ambiente oft schon in ihren kurios-skurrilen Namen zum Ausdruck kommt wie etwa “Blechkiste”, “Kumpelnest”, “Ritter Butzke”, “Clärchens Ballhaus”, “Intensivstation” und “Club der polnischen Versager”, um nur einige zu nennen. (969,270). Sie sind das explizite Kontrastprogramm zu so renommierten Lokalen wie das “Café Berger”, die “Paris Bar” und das “Exil”. Stephan Landwehr bezeichnet das “Exil”, in dem Oswald Wiener einst als graue Eminenz des Wiener Orgien- und Mysterientheaters residierte als, „elegantester Absturzladen der Stadt“ (76). Jack Nicholson soll in diesem Lokal ausgerufen haben: „Wow! This is my favorite place in the world!“(76-80) In jüngerer Zeit werden derartige Absturzläden auch mehr und mehr zu kreativen Bildungsstätten, wie etwa das “WestGermany” (sic), dessen Räume für Konzeptkunst, Installationen, Performances, Lesungen und Konzerte verwendet werden. Zusammenfassend vermutet der Spiegel-Redakteur Tobias Rapp in seinem Beitrag zu diesem Band: „Heute ist der Berliner Club das, was vor gut 200 Jahren der Salon gewesen sein dürfte“ (244). Womit wir wieder bei Henriette Herz und Rahel Varnhagen von Ense wären. Freilich wäre so manches, was im heutigen Nachtleben von Berlin zu hören und zu sehen ist, damals wohl kaum salonfähig gewesen, wie ein Blick in die Berliner Tanz- und Musikszene zeigen kann.

Wenn Musik das „kulturelle Gedächtnis“ (179) einer Epoche darstellt, dann findet sie sicherlich in der mannigfaltigen Musik-Szene Berlins ihre klingende Kristallisation, die von Punk, Hip-Hop, Disco-Pop bis zu „Electro-Trash‘(249) reicht. Dieser Soundtrack des Zeitgeistes entfaltet sich in einer Vielzahl von Tanzlokalen, angefangen von schmuddeligen Spelunken bis zu hochgestylten Discos, wie der “Dschungel”, das “Risiko” und das “Metropol”, eine Tanztrutzburg, in der sich in ihren Hochzeiten bis zu 500 Lederschwule vergnügten, sowie das “Tresor”, dem Clubindex dieses Buches zufolge der „wichtigste Techno-Club der Welt“ (280), dem schließlich nur noch das “Berghain” den Rang ablaufen konnte. Es wurde auch von internationalen Fachzeitschriften wie dem britischen DJ-Magazin zum besten Club der Welt gewählt (189). Gudrun Gut, die Mitbegründerin der Punkrockband “Malaria”, sowie Produzentin der wöchentlichen Radiosendung „Ocean Club“ bringt Berlins vielschichtiges Amüsierlabyrinth von Low Culture und High Culture auf den bezeichnenden Nenner einer „Undergroundhochburg.“ (73).

Die Achse Berlin – New York: Bemerkenswert am geteilten und vereinten Berlin war und ist seine Funktion als transatlantischer Brückenkopf nach Amerika. Berlin, Berlin und New York, New York, das wurde zur magischen Doppelformel des avantgardistischen Kulturaustausches zwischen beiden Kontinenten. Während es in den siebziger und achtziger Jahren vor allem britische und amerikanische Film- und Rockstars waren, die sich gern in Berlins Diskotheken-Dschungel tummelten, waren es bald auch West-Berliner Künstler wie Naomi, die nach New York zogen. Ab 1979 gingen komplette Modenschauen nach New York und organisierten dort extravagante Events unter dem Titel „Berlin Nights – The Nights of Decadence.“ (54) Eine ganz besondere Art von Kulturtransfer stellt der New Yorker “Kit Kat Club” dar. Christopher Isherwoods Berliner Geschichten aus der Weimarer Republik inspirierte nicht nur Bob Fosses Hollywood Musical Cabaret (1972), sondern auch den “Kit Kat Club” am New Yorker Broadway, der wiederum in Berlin zur Gründung des populären “Kit Kat Clubs” führte.[4]

Joachim Sartorius, unter anderem ehemaliger Kulturreferent in New York und von 2001 bis 2011 Leiter der Berliner Festspiele, zollt in seinem Beitrag der frühen Kulturpolitik Berlins großen Beifall:

In die geteilte Stadt strömten schon damals Künstler aus aller Welt. […] das war eine der besten Investitionen des Staats oder des Senats von Berlin überhaupt […] der Künstler aus allen Sparten aus der ganzen Welt einlud, ein Jahr oder ein halbes in West-Berlin zu verbringen. So wurde aus Berlin eine Eldorado für Künstler, ein hervorragender Schachzug […] Und wie diese Auserwählten Berlin deswegen liebten […] Diesen Luxus im Vergleich mit den Löchern in New York, Paris, London oder Rom […] Offen und großzügig. Demokratie pur. Es lebe die zukünftige Hauptstadt der freien Welt(81)

In Bezug auf die Berliner Kulturpolitik würde Peter Wortsman sicherlich in das Loblied von Joachim Sartorius miteinstimmen.

Was in diesem Bildband und seiner großen Galerie der notorischen und renommierten Berliner Lokale fehlt, ist das “Café Einstein Unter den Linden”. Das “Exil” und die “Paris Bar”, denen in diesem Band ganze Artikel gewidmet sind, können zwar auf eine längere Geschichte zurückblicken, doch das “Café Einstein Unter den Linden”, 1996 u.a. von dem Theaterregisseur Gerald Uhlig-Romero nur wenige hundert Meter vom Brandenburger Tor gegründet, hat sich innerhalb kürzester Zeit als eines der bekanntesten und wichtigsten Kaffeehäuser Berlins, ja der Bundesrepublik überhaupt entwickelt. Seit längerer Zeit ist Uhlig-Romero nun schon Alleinbetreiber des Kaffeehauses und gestaltet es nach seinen Vorstellungen. Hier geben sich Künstler und Politiker jeglicher Provenienz ein Stelldichein, die BBC berichtet aus seinen Räumlichkeiten, einmal im Jahr begegnen sich hier Nobelpreisträger aus aller Welt, und in der angeschlossenen Galerie stellten schon zahlreiche bekannte und berühmte Maler und Fotografen vor allem aus den Vereinigten Staaten ihre Werke aus, angefangen von Joel Grey, dem süffisanten M.C. in Bob Fosses Cabaret, über Dennis Hopper bis zu Richard Gere. So gesehen is dieses Kaffeehaus nicht nur die „Hauptbegegnungsstätte der Berliner Republik“ geworden, wie es das Magazin Der Spiegel im Jahr2013 formulierte, sondern auch einer der wichtigsten kulturellen Brückenköpfe zwischen Alter Welt und Neuer Welt.[5]

Transatlantischer Totentanz: Was in der Darstellung der Beziehungen zwischen Berlin und New York ebenfalls unerwähnt bleibt, ist der tödliche Tribut an die sexuelle Revolution. Die Mit-Achtziger waren nicht nur die Hochzeit der Gay-Liberation und ihrer Tanz-Manie diesseits und jenseits des Atlantiks, sie waren auch die schlimmsten Jahre der Aids-Epidemie. Im Nachtleben Berlin findet dieser moribunde Totentanz mit keinem Sterbenswörtchen Erwähnung. Dies ist umso erstaunlicher, als gerade in dieser Zeit das Berliner und New Yorker Nachtleben immer mehr Vergnügungssüchtige ans jeweils andere Ufer der beiden Kontinente lockte. [6]

Im Schatten der Shoah: In der Weimarer Republik hatte die vielbeschworene deutsch-jüdische Kultursymbiose sicherlich ihren Höhepunkt erreicht. Nie zuvor in der fast 2000- jährigen Geschichte deutsch-jüdischen Zusammenlebens hatten die deutschen Juden in den Geistes- und Naturwissenschaften, sowie im Bereich der Kultur, Politik und Wirtschaft so viel zum nationalen Erfolg und internationalen Ansehen Deutschlands beigetragen. Das Berlin der Weimarer Republik war mit seinen rund 170 000 Juden das kulturelle Zentrum des Judentums in Deutschland gewesen. Im vorliegenden Bildband ist von der einstigen Kreativität und Vitalität des Berliner Judentums aus geschichtlich offenkundigen Gründen kaum noch etwas zu spüren. Lediglich die beiden jüdischen Fotografen Helmut Newton und Daniel Josefsohn geistern sporadisch durch Fußnoten oder Halbsätze. Während Newton noch im Berlin der Weimarer Republik geboren wurde und sich im Laufe seines Lebens als einer der international bekanntesten Fotografen etablierte, hat sich der nach dem Krieg in Hamburg geborene Josefsohn vor allem als einer der in Deutschland gefragtesten Fotografen einen Namen gemacht.

Helmut Newtons hatte im wiedervereinten Berlin noch mehrere Foto-Ausstellungen, inklusive in der Berliner “Newton Bar”, wo bis heute seine großformatigen „Big Nudes“ hängen — starker Tobak für so manchen koran- und bibelfesten Touristen aus den Vereinigten Staaten oder Vereinigten Emiraten — , jedoch keiner der Beiträge zu diesem Bildband geht auf die Bedeutung dieser beiden deutsch-jüdischen Künstler für die Wiedergeburt Berlins als provokative Kulturhauptstadt Deutschlands weiter ein. Es ließe sich jedoch argumentieren, dass sie repräsentativ sind für eine deutsch-jüdische Renaissance, die vor allem im wiedervereinten Berlin zu beobachten ist. Von der massiven Immigration russischer Juden, als deren bekanntester musikalisch-literarischer Repräsentant Wladimir Kaminer gelten mag, bis zum Zustrom tausender Israelis, deren Eltern und Großeltern einst aus Deutschland geflohen waren, zeichnet sich eine erstaunliche Neubelebung jüdischen Lebens und Schaffens vor allem in der deutschen Hauptstadt ab. [7]

Als populärstes Phänomen der jüdischen Renaissance kann sicherlich der Boom der Klezmer-Musik gewertet werden, der um die Jahrtausendwende die deutsche Hauptstadt zur globalen Metropole des internationalen Klezmer-Revivals machte. Zu jener Zeit spielten bis zu 30 Klezmer-Bands allabendlich in den Kneipen, Clubs und Konzertsälen von Berlin. Die Germanistin Leslie Morris hat dieses Klezmer-Revival als „Sound of Memory“ bezeichnet. Obwohl dieses Revival in diesem Bildband keine Erwähnung findet, können ihre wehmütigen Klezmer-Melodien und mehr noch die allabendlichen Tanzvergnügen zu den Klängen der fröhlichen Freylachs zweifellos ebenfalls zur Bereicherung des Berliner Nachtlebens gezählt werden. Zudem haben es lokale Klezmer-Sänger wie Karsten Troyke und Klezmer-Bands wie Di Grine Kuzine durch ihre zahlreichen Konzerte im In- und Ausland weit über die Grenzen Berlins zu weltweitem Ruf und Ansehen gebracht. Und so wird auch die Klezmer-Musik ein Teil jenes sich aufschwingenden Phönix aus der Asche, den schon Wortsman in seinem Ghost Dance in Berlin beobachtet hatte.[8]

Romantik – Remixed & Unplugged: Bernd Calloux‘s poetisch-faktenreicher Essay “Spielzeit 77/78: Die weiße Phase“ berichtet vom aufblühenden Nachtleben in West-Berlin, vom „Thrill des Night-Tripping, der späten Touren – erfüllt von der Sehnsucht nach dem speziellen Moment“ und er kommt zu dem literaturgeschichtlichen Schluss: „Der Dichter Novalis hatte dieses Motiv schon vor zwei Jahrhunderten erkannt: „Alles, was uns begeistert, trägt die Farbe der Nacht“ (39). Bei genauerem Zusammenlesen der verschiedenen Beiträge gibt sich das Berliner Nachtleben, sein Weltgefühl und seine Weltanschauung in der Tat auch als eine gesteigerte Wiederbelebung der deutschen Romantik zu erkennen. Der nächtliche Ruinenzauber romantischer Maler und Dichter kehrt wieder in den modernen Trümmerlandschaften Ost-Berlins und seiner zahlreichen Abrisshäuser und Industriebrachen. Ein Paradebeispiel derartiger Ruinenromantik ist der “Eimer”, ein Abrissbau in der Rosenthaler Straße, der sich ein gutes Jahrzehnt lang halten konnte: “Im Erdgeschoss fehlte der Fußboden, das Publikum stand im Keller und sah hoch, dahin, wo der Rest des Erdgeschosses die Bühne bildete. Oben gab es ein Café … Hinten und ganz oben wohnten die Besetzer.“(270)[9]

Auch das romantische Leitmotiv der Wanderschaft kehrt wieder, und zwar im „urbanen Nomadentum“(174) der Berliner Bohème, die mit den wechselnden Orten ihrer Kellerbars und Disco-Kaschemmen weiterzieht. Prototyp dieser vagantischen Club-Kultur ist wohl das WMF, das ehemalige Berliner Stammhaus der Württembergischen Metallwarenfabrik. Es wird in diesem Bildband als „Große(r) Wanderer“(176) und „weltläufigster Club der Stadt“(176) bezeichnet, dem nach Jahren des rastlosen Umherziehens schließlich 2010 die Puste ausging. Doch Heike Blümner will in ihrem Beitrag seinen endgültigen Untergang noch immer nicht wahrhaben: „Das WMF ist ein toter Stern, der immer noch leuchtet“(177) Da hätten Caspar David Friedrichs Sternengucker am nächtlichen Himmel etwas recht Wundersames zu betrachten gehabt.[10]

In diesem Zusammenhang kann man die „nomadische Stadtplanung“(174) Berlins als ein Model für die wachsende soziale Mobilität unserer westlichen Zivilisation und ihrer Globalisierung und Internationalisierung sehen. Die Großstadt als eine Metropolis „On the Road“, um das Motto der Beatniks und den Titel ihres Kultbuches auf den neuesten Stand zu bringen. Inzwischen ziehen auch schon Künstler von der Westküste Amerikas — lange das versprochene Paradies aller kreativen und innovativen Abenteurer — nach Berlin, wie etwa der kalifornische Musikproduzent Eric Clarke (251), um im schöpferischen Schmelztiegel Berlins kräftig mitzumischen.

Schwarzromantische Gespensterwelt: Berlins Keller- und Katakombenwelt ist auch heute noch von den Schaudern des Dritten Reiches durchzogen. So war zum Beispiel die Kneipe “Ellis Bierbar” einmal ein Lokal, in dem sich die SA ihre Strichjungen hielt (27). Zu erwähnen wäre auch der “Bunker”, das Disco-Lokal in der Rheinhardtstraße, der einst wie bereits der Name andeutet, als Luftschutzbunker diente, in dem die Berliner gegen Ende des zweiten Weltkrieges vor dem über sie hereinbrechenden Bombenhagel Zuflucht suchten. Apocalypse Now – die letzte Todesfuge des großdeutschen Totentanzes. Wenn sich hier Jahrzehnte später im Zwielicht der Stroboskop-Kugeln Punks oder Skin-Heads in Neo-Nazis verwandeln, dann rocken und rumoren einmal mehr die Poltergeister des Dritten Reiches, dessen Katastrophengeschichte in Berlin ihren schwindelnden Höhepunkt und schaudernden Abgrund gefunden hatte. Nirgendwo kann man sich besser gruseln. Und wenn irgendwo in dieser Welt die makabre Goth-Mode und ihre gruftige Goth-Musik ihre Urheimat hat, dann in diesem Gespensterreich. („Ghost Dance in Berlin“, so hatte es Peter Wortsman auf den treffenden Nenner gebracht.)

Im Einklang mit der romantischen Nacht- und Naturschwärmerei steigen hier auch viele Partys im Freien: „An einem ganz normalen Sommerwochenende finden in Berlin mehrere Duzend Open-Air-Partys statt.“ (263) Und natürlich kehrt auch das romantische Motiv der Sehnsucht vielfach gesteigert wieder in der Suche der Berliner Nachtschwärmer nach Rausch und Entgrenzung, Exzess und Ekstase. Ganz nach dem romantischen Motto der „verkehrten Welt“ verwandelt sich dabei das wehmütige Liebesleid — soweit wie möglich — in die sofortige Liebesfreud. An die Stelle des sexuell verschobenen und spirituell aufgehobenen Verlangens tritt — vor allem in der Gay Community — die Maxime der „Instant Gratification“, die Suche nach dem flüchtigen Glück in den Nischen der Ruinen und im Dunkeln der Nacht.[11]

„Sturm und Drang“ – up-to-date: Die englische Sprache hat ihr Vokabular nicht nur durch das deutsche Wort „Wanderlust“, sondern auch durch den deutschen Begriff „Sturm und Drang“ bereichert. Das letztere ist geradezu ein Leitmotiv der deutschen Kulturgeschichte und ihres sich in den letzten zwei Jahrhunderten entfaltenden Jugendkultes. Angefangen von der Literatur des deutschen Sturm und Drangs und den politisch-literarischen Ambitionen des Jungen Deutschlands über die Jugendstilkunst des fin de siècles und ihrer bündisch organisierten Wandervogelbewegung bis zur Studentenrebellion der 68er Generation zieht sich diese Entwicklung. Auch die Malerschule des ikonoklastischen Expressionismus aus den zwanziger Jahren kehrt wieder in der Berliner Malerschule der sogenannten „Jungen Wilden“, und beide Bewegungen sind Teil jener jugendlichen Energien, die schließlich Berlin rund um die Jahrtausendwende zur „anarchischen Hipster-Hauptstadt“ machen, sodass die „kreativen Massen der westlichen Welt scharenweise heranströmen“(197). In den Umzügen der Berliner Love Parades verschmolzen letztendlich heterosexuelle Erotik mit homosexueller Exotik und zusammen zogen die Ravers Millionen partyfreudige Jugendliche aus aller Welt an. Auf der Straße des 17. Juni Richtung Siegessäule feierte dieser tanzende Jugendkult seine fröhlichen Urständ.

Figurierte David Bowie in den späten 70er und frühen 80er Jahren als gefallener Engel über Berlin, so triumphierte in den nuller Jahren die transsexuelle „Gloria Viagra“ als glamouröse Gallionsfigur des tanzenden Jugendkultes, die als DJ im 15. Stockwerk eines Hochhauses am Alexanderplatz schweißtreibenden Disco-Pop auflegte. Ist man historisch hellhörig, so bekommt man in Gloria Viagra auch noch das „Gloria Victoria“ des zweiten deutschen Kaiserreiches mit, dessen wilhelminisches Wahrzeichen die phallische Siegessäule ist, Preußens protzendes, steingewordenes Imponiergehabe. Nur marschierten jetzt Berlins Männer nicht mehr als säbelrasselnde Soldaten zum nächsten Weltkrieg auf. Vielmehr tanzten sie nun in ihrem Glitzerfummel – und so manche/r eine wunderbare Romy-Haag – ganz nach dem Fanal der 68er Generation: „Make Love not War“.[12]

„So Berlin: The Glamour and the Grit“. Die zahlreichen Abbildungen dieses Billbandes illustrieren auf vielfache Weise die für Berlin so einzigartige Verschränkung von Jet-Set-Schick und Trash- und Trümmer-Ästhetik. Gemeinsamer Nenner vieler Fotografien ist immer wieder die aufgedrehte Euphorie und – vice versa – erschöpfte Energie, die ihre Nachtschwärmer und übernächtigten Dauertänzer ausstrahlen. Da in den achtziger Jahren unter anderem der Sportswear-Look die modische Montur der Tanzclubs war, wurden Alltagsklamotten endgültig zum akzeptablen Outfit für nächtliche Tanzveranstaltungen. Anders gewendet: An die Stelle des einstigen Mottos „dressed to kill“ trat jetzt eher die modische Parole „wear and tear“. Diese Verkehrung des amerikanischen Versprechens „from rags to riches”, das in der Neuen Welt so lange die Erfüllung ihrer Glücksverheißung war, ruft nun umgekehrt – mutatis mutandis – Erinnerungen an das Berlin der Gründerzeit rund um 1900 herauf. Während Adolph von Menzel zum Hofmaler der preußischen Belle Époque aufstieg, wurde Heinrich Zille der Maler ihrer Hinterhöfe, der mit schwungvollen Pinselstrichen die Alltagsfreuden seiner Berliner und nicht zuletzt ihre Schwoof-Vergnügungen anschaulich illustrierte.

Utopia-Revisited: Die geschichtsphilosophischen und gesellschaftskritischen Diskursformationen im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts, angefangen von Hegels historischer Dialektik und ihrer Verkehrung durch Marx bis zu Freuds Lustprinzip und Blochs Prinzip Hoffnung, haben ein Element der Utopie gemeinsam, das den Menschen Freiheit, Selbstverwirklichung und ein gerütteltes Maß an irdischer Glückseligkeit verspricht. Dieses utopische Element scheint auch immer wieder expressis verbis in den Schilderungen der Berliner Glücksuche auf, verwandelt die Stadt in eine „Insel der Glückseligen“ und ist – ultima ratio –eine letzte kollektive Kristallisation dieser utopisch-imaginären Perspektive – aller Berliner Ruinen-Realität zum Trotz. In diesem Sinne ist denn auch der im Jahre 2001 eröffnete „Club der Visionäre“ ein ironischer, pathetisch-parodistischer Tribut an diese deutsch-jüdische Utopie-Tradition. Christiane Rössinger, Autorin und Liedermacherin, fasst in ihrem Essay „Engtanz in Mitte“ das Erlebnis einer durchtanzten Berliner Nacht – „mit und ohne Drogen“ – folgendermaßen zusammen: „Als hätte man für ein paar rauschhafte Stunden in einer Utopie gelebt“(150)[13]

Annus mirabilis! Quo vadis? Das Jahr 1989 ist als Wunderjahr in die Annalen der deutschen Geschichte eingegangen. Ohne das Wunder des Berliner Mauerfalls wäre die Wiedervereinigung Berlins und Deutschlands, Berlins erstaunliche Clubkultur und nicht zuletzt seine vor Jahren noch unvorstellbare Wiedergeburt jüdischen Lebens in Deutschland nicht möglich gewesen. Wenn die deutsche Geistesgeschichte vom Sturm und Drang der Weimarer Klassiker bis zum vielseitigen Unternehmungsgeist der Weimarer Republik sprechende Anzeichen sind, dann sollte es eigentlich um die Zukunft Berlins als Magnet und Metropole kreativer Energien und kultureller Innovationen recht gut bestellt sein … „Nächstes Jahr Jerusalem“, das war Jahrtausende lang die Antwort des jüdischen Wandervolkes auf die Frage „Wohin“. Heute lautet die Antwort wanderlustiger Jugendlicher rund um die Welt auf die gleiche Frage nach dem wohin immer häufiger: „Berlin“.[14]

Summa summarum: Ein alphabetischer Clubindex, der die wichtigsten Lokalitäten des Berliner Nachtlebens auflistet und ausführlich kommentiert, beschließt den Bildband. Insgesamt gesehen stellt er – trotz einiger Auslassungen – eine ausgezeichnete, lehrreich-unterhaltsame Enzyklopädie dar, die vor allem Liebhabern der deutschen Hauptstadt, ihrer vitalen Clubkultur und ihrer facettenreichen Musikszene bestens zu empfehlen ist.

 


 

Endnoten

[1] Zu einer jüngsten Erörterung dieser deutsch-jüdischen Kulturtradition mit besonderer Berücksichtigung der Berliner Salons um 1800 siehe Robert Schopflocher, „Ein Augenblick der Hoffnung – Sie lud zu Toleranz und Vielfalt: Eine Verbeugung vor Henriette Herz, in deren Salon sich das aufgeklärte Deutschland fand.“ In Die Welt Essay – Literarische Welt, 1. November 2014, S.7. Der Schriftsteller Robert Schopflocher ist selbst ein letzter Repräsentant dieser deutsch-jüdischen Kulturgeschichte, der als Jugendlicher mit seinen Eltern in den späten dreißiger Jahren nach Argentinien ausgewandert ist. Zu einer jüngsten Würdigung seines literarischen Werkes siehe Frederick A. Lubich (Hrsg.) Transatlantische Auswanderergeschichten – Reflexionen und Reminiszenzen aus drei Generationen. Festschrift zu Ehren von Robert Schopflocher. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014, pp. 675.

[2]Auch bekannte Holocaust-Überlebende wie Ruth Klüger haben in ihren Erinnerungen geschrieben, dass sie sich mit zunehmendem Alter mehr und mehr von den Geistern der ermordeten Verwandten heimgesucht fühlen.

[3] Als ich 1972-1973 für ein Jahr im englischen Newcastle upon Tyne lebte, stand David Bowie kurz vor seinem internationalen Durchbruch. Ich sah ihn dort bei einem Konzert aus nächster Nähe. Als er in seinen hohen Plateau-Schuhen über ein Kabel stolperte, stand er wieder so anmutig auf, dass sich mir dieser Augenblick schon damals geradezu sinnbildlich eingeprägt hat als das Schauspiel eines gefallenen und sich wieder erhebenden Engels.

[4] Emma Stone ist die jüngste Inkarnation von Sally Bowles im New Yorker “Kit Kat Club”, der das in den achtziger Jahre berühmt –berüchtigte Studio 54 als heutige Spielstätte hat. Siehe „New Girl at the Kit Kat Club“ In Vanity Fair, December, 2014, pp.170-171.

[5] Als Uhlig-Romero Yoko Onos Rockoper New York Story in Deutschland inszenierte, lieferte ich dazu die Übersetzung und so feierten wir zusammen mit Yoko Ono und den Schauspielern des Musicals im Berliner Löwenpalais die Premiere. So wurde auch ich – zumindest für eine denkwürdige Nacht – Teil des sagenhaften Nachtlebens von Berlin und seines deutsch-amerikanischen Kulturtransfers.

[6] Wir lebten in jener Zeit fast ein Jahrzehnt in New York City und es verging kaum ein Tag, an dem nicht ein Nachruf auf einen an Aids gestorbenen Kunstschaffenden aus dem Tanz- Musik- und Theatermilieu Manhattans in der New York Times erschien. Bis in die Reihen meiner Studenten riss dieser heimtückische Liebestod seine grausamen Lücken.

[7] Im Zusammenhang mit der Eröffnung des neuen jüdischen Museums in Warschau schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 25. Oktober 2014 in ihrem Feuilleton: „Während Berlin zur Lieblingsstadt vieler Juden weltweit und Deutschland zum schaurig-effektiven Sympathieland wurde, ist Polen für die meisten noch immer ein einziger Friedhof.“

[8] Von den Gespenstern der Vergangenheit: Frank-Walter Steinmeier, der deutsche Außenminister hat am 13. November 2014 in Berlin die Antisemitismus-Konferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ eröffnet. Dabei sprach er vom Antisemitismus nicht nur als einem „Dolchstoß ins Herz der Gesellschaft“, er nannte auch das erneute Aufblühen jüdischen Lebens in Deutschland nichts weniger als eine Wunder und kam zu dem Schluss: „Jüdisches Leben ist zurück im Herzen dieses Landes – und da gehört es hin.“ (Deutschland-Nachrichten – Online, 17. November 2014). Bemerkenswert ist an dieser Formulierung auch ihre rhetorische Volte. Rekurrierend auf die „Dolchstoßlegende“ der Weimarer Republik, deren politische Rechte das angeblich bolschewistische Judentum für die deutsche Niederlage im ersten Weltkrieg verantwortlich machten, verkehrt Steinmeier die Positionen und identifiziert das Herz Deutschlands mit der deutsch-jüdischen Wiedergeburt, die sich nirgendwo offenkundiger manifestiert als in der wiedervereinigten Hauptstadt Deutschlands.

[9] Im vielfach ausgezeichneten Film Good Bye Lenin spielen markante Szenen in dieser kunterbunten Abriss- und Ruinenwelt.

[10]Das Leitmotiv der romantischen Wanderlust spiegelt sich auch noch in Künstlernamen wie N.O.M.A.D, alias Hans Reusch, wider, der 1996 nach Berlin zog und dort ein fester Bestandteil der Graffiti und „Urban-Art-Scene“ geworden ist (S.249).

[11] Genau besehen ist Ulrich Plenzdorfs Roman Die neuen Leiden des jungen Werther, einer der Klassiker der DDR-Literatur, und die Spiel- und Narrenfreiheit seines Protagonisten in den Ost-Berliner Laubenkolonien auch ein literarischer Vorbote der kommenden, tanzenden Aussteigerkolonien rund um Kreuzberg, Schöneberg und Prenzlauer Berg.

[12] “Alle Lust will Ewigkeit”, so wusste es schon Friedrich Nietzsche, der sieche Dionysiker unter den deutschen Dichtern und Denkern. In diesem Sinne figuriert umgekehrt die Persona „Gloria Viagra“ auch als wandelndes Mahnmal vom kommenden Schwund der Manneskraft und emblematisiert dergestalt einmal mehr das barocke Motto vom „Memento Mori“ und seinem „Sic Transit Gloria Mundi“.

[13] Und wenn die Nachtzauber verlöschen, wenn alle Visionen und Illusionen im Morgengrauen verpuffen, so bleibt ihren Träumern von ewiger Jugend die zwar ernüchternde jedoch immerhin nicht falsche Erkenntnis: „Berlin bietet den verschiedensten Leuten die Möglichkeit zur Verlängerung ihrer Pubertät.“ (236)

[14] Ein jüngster, dreiseitiger Artikel in der Sonntagsausgabe der New York Times vom 23. November 2014 bestätigt diese andauernde Attraktion Berlins für die internationale Jugendgeneration. Unter dem Titel „Still Partying in the Ruins“ schreibt Jon Pareles: „This month Berlin celebrated the 25th anniversary of the 1989 opening of the Berlin Wall. The anarchic energies set free by its fall have defined the city for a generation (…). One Aspect of reunification that no one would have predicted – the emergence of techno and a tenacious, do-it-yourself club scene – has turned out to be not a passing night-life fad, but a cornerstone of the city’s identity.”(pp. 1 and 5-6)

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