Archive for the 'Literatur- und Kulturnachrichten' Category

Mar 15 2022

Druckfehler aus “Zeitalter der Fische. Erzählungen”

von Axel Reitel

(eine Antwort auf Gabriele Eckarts “Druckfehler” in zwei Teilen. Teil II)

Vorweg: Ich hatte mit Dr. Klaus Walther, dem Leiter und Lektor des Chemnitzer Verlages, ein sauber korrigiertes Manuskript des designierten Buches „Zeitalter der Fische. Erzählungen“ auf den Weg gebracht und in Walthers Büro liegen.

Das völlig unkorrigierte Manuskript, um das Walther aus Zeitgründen dringend bat, sollte bis zu seiner Rückkehr aus den USA, in der Schublade bleiben.

Nun zu dem was Gabriele Eckart trefflich so ausführt: So ist es mir selbst ergangen – nur 1996. In alter Mannschaft, verstärkt durch westdeutschen Zuwachs! Mir wurden erst gar keine Korrekturfahnen zugeschickt. Als das Buch „Zeitalter der Fische. Erzählungen“ bei mir ankam, war es bereits im Handel.

Nach 96 Druckfehlern hörte ich mit dem Zählen auf.  Ein „witziger Fehler“ blieb jedoch ewig haften! Weil ich genau das, was Gabriele Eckart so genau und wunderbar ausführt, schon immer geahnt habe.

(Kleines Schmuckstück: Heinz Czechowski schiss mich im Dresdner Rosengarten ordentlich zusammen: „Was willst du denn bei denen? Geh zu einem ordentlichen guten Verlag! Die machen das.“ Heiliger Heinz!)

Gesetzt, gedruckt wurde, in Abwesenheit von Dr. Klaus Walther, im Druckhaus der Freien Presse.

Auf S. 103 der überführende „witzigen Fehler“, den sich auch keiner ausdenken – und aus sie wurde sich:

Anna hatte sich für den hintersten Tisch im Schankraum entschieden und sich an die Stirnseite gesetzt, während Erik seitlich von ihr Platz nahm, um sie besser ansehen zu können.“
Anna hatte sich für den hintersten Tisch im Schankraum entschieden und sich an die Stirnseite gesetzt, während Erik seitlich von ihr Platz nahm, um sich besser sehen zu können.“

Selten so gelacht! Was denn? “Das Buch verkauft sich von allen Büchern des Verlages am besten!” Mir wurde umso schlechter. Gekämpft habe ich zwar bis zum Schluss um eine saubere Neuauflage. Zuletzt Anfang der 2000er. Da war aber am Ende der Verlagsleitung jemand sofort im Bilde und fuhr sofort die Krallen raus! „Was’n, willst de 10.000 Mark? Eine überarbeitete Auflage steht bis heute nicht zur Debatte.

 

 

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Nov 05 2021

Schwäne. 2. Fassung

von Axel Reitel

in Dankbarkeit an Gabriela Eckart

(eine Antwort auf Eckarts “Druckfehler” in zwei Teilen. Teil I)

 

Wieder eine Phase der Revolution

Ihr schwarzen Schwäne auf den steppengelben Hügeln

Hier bin ich als Kind Karpfen füttern gegangen

Hier habe ich die ersten Fluchtpläne

Am Teich in den Sand gezeichnet

Und hätte dafür verhaftet werden können

Erst vierzehn Jahr

Am Teich sind noch immer die alten Polizisten unterwegs

Am Standbild des Heiligen Georg sehen sie jetzt aber

Mit schüchternem Blick vorüber

Im letzten Rest des Abendrotes weichen sie heute sogar

Einer Gruppe singender Kinder aus

Wind, Wind singen die Kinder, bringe Regen Wind

Auch in dieser Phase der Revolution

Ihr schwarzen Schwäne auf den fichtenbraunen Grashügeln

Habe die Bäume ihre Rinde noch

Zünden Lichter über dem Wasser

Neue Verrücktheiten in den alten Kindern an

Lange –

Lange habe ich auf diesen Herbst gewartet

Aber heute –

Heute da eines dieser Kinder am Ufer fragt

Warum der Drache so grausam gewesen ist

Beginnen sich die Münder der Passanten

Zu bewegen

Und bilden allmählich Laute über der noch klammen Zunge

Ich weiß nicht

Aus welchem Land ihr gekommen seid

Ihr schwarzen Schwäne auf den Nachthügeln –

Ob auch ihr die bleichen Geschwister zu eigen habt

Die im Aschenputtelhemdchen

Die unbegreiflichen Schläge ausgeteilt bekommen

Ob auch ihr Verjagte seid

Ob auch dort trotz der unbegreiflichen Schläge

Die Kinder es sind

Die zu singen nie aufhören

Wind, Wind, singen die Kinder, entbinde die Wahrheit, entbinde dich Wind

Die Nacht hat eure Farbe angenommen

ihr unsichtbaren Schwäne

alles ist jetzt still

In der Luft rauscht ein Gewitterwind –

In diesem Land

in dem selbst das Feuer mit kalten Füßen

zu Bett geht, sind die Menschen heiß geworden

 

(März 1990, wie ein Maler im Angesicht mit der Betrachtung, im Stadtpark Plauen)

 

Anmerkung:

Das Gedicht erschien ursprünglich in Gedichtbänden und auch bei Glossen. Hier aber “entbinde die Wahrheit” anstatt “entbinde die Wunde”.

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Oct 08 2021

Druckfehler

von Gabriele Eckart

 

Viel wurde seit dem Fall der Berliner Mauer über die „Zersetzungsmaßnahmen“ der Staatssicherheit der DDR veröffentlicht; am wichtigsten sind meines Erachtens die Bände Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi (Behnke, Fuchs, 1995) und Mielke-Konzern (Gieseke, 2001). Wie Jens Gieseke zeigt, suchte die SED nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 und der folgenden Ausreise vieler bedeutender Künstler „nach weniger aufsehenerregenden Formen der Disziplinierung […]. Mit Blick auf negative Schlagzeilen vermied sie nach Möglichkeit harte Schritte.“ (154) Statt direkte Repression in der Gestalt von Verhaftung oder Ausbürgerung ging es nun um eine „als besonders raffiniert erdachte […] weitere Steigerung der totalen Herrschaft durch Verfeinerung“ – ein Wechsel in der Art des polizeilichen Durchgriffs, der natürlich, wie Gieseke hervorhebt, zugleich ein „Symptom der Schwäche“ (155) war. Die politischen Kosten durch Reputationsverlust wären bei einem harten Durchgreifen zu hoch gewesen, sorgte sich die SED zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich zu Recht.

Über das Anbringen peinlicher Druckfehler als einer „verfeinerten“ Methode der „Zersetzungsmaßnahmen“ der Staatssicherheit ist bisher nicht reflektiert worden; es soll an dieser Stelle nachgeholt werden. Warum erst jetzt? Hatte ich mich nicht über dreißig Jahre lang über die „Druckfehler“ geärgert? Der Grund für die Verzögerung besteht in der Verhältnismäßigkeit. Was sind „Druckfehler“ im Verhältnis zu den ernsteren „Zersetzungsmaßnahmen“, wie sie Udo Scheer etwa im Fall Jürgen Fuchs’ beschreibt, der nach seiner Haftzeit in der DDR in Westberlin unter der Stasi-Zermürbung litt: „Der Erfindungsreichtum, die kriminelle Energie der Staatssicherheit zum Verunsichern und Zersetzen, auch zum Stehlen von Zeit, war nahezu unerschöpflich. Sie schaltete Annoncen, schickte nächtliche Havariedienste, streute Gerüchte.“ (345) Dazu Manipulationen am Auto, die der Familie Fuchs beinahe das Leben gekostet hatten. Nicht zu reden von der Vergiftung mit radioaktiven Stoffen während der U-Haft, welche wahrscheinlich die Krebserkrankung hervorrief, die Fuchs’ Leben viel zu früh und abrupt enden ließ. Klitzeklein dagegen die Sache mit den „Druckfehlern“, fast auf lächerliche Weise geringfügig, dachte ich.

Hinzukommt, dass ich mit achtzehn eine Verpflichtungserklärung als eine inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit unterschrieben hatte; vier Jahre dauerte es, bevor ich es schaffte, ein für allemal auszusteigen. Auch zu den „Tätern“ gehörte ich also. In dieser Rolle hält man am besten den Mund; Scham hielt mich jahrelang davon ab, von meinen Opferakten zu sprechen. Opferakten? Nach dem Verbot meines Buches über das Havelobst (1984 ohne die Genehmigung der DDR unter dem Titel So sehe ick die Sache in der Bundesrepublik erschienen), wurden die Operative Personenkontrolle „Kontra“ (im Bezirk Potsdam) und der Operative Vorgang „Ecke“ (in Berlin) gegen mich eröffnet und die ersten Zersetzungsmaßnahmen in Gang gesetzt. Neben widerlichen Gerüchten, um meinen Ruf zu schädigen und einer aufdringlichen Überwachung der Wohnung (einmal erhielt ich dabei sogar vor der Wohnungstür Prügel) eine Fülle von „Druckfehlern“.

Die Stasi hatte ihre Leute in den Druckereien, erinnert sich Marion Brasch, die in der DDR als Setzerin gearbeitet hatte, in ihrem autobiographischen Roman Ab jetzt ist Ruhe (2015):

Ich war an der Maschine inzwischen routiniert, und wenn Schulklassen durch die Setzerei geführt wurden, um zu erfahren, wie eine sozialistische Tageszeitung entstand, stellte mich der Meister gern als leuchtendes Beispiel für eine junge, weibliche Arbeiterpersönlichkeit vor. Die meisten Schüler verstanden seine Ironie nicht, nur ein paar kicherten.

Auch die Gruppe langweilig gekleideter Männer, die er eines Tages durch unsere Werkstatt schleuste, bemerkte nicht, dass er sich über sie lustig machte, als er auf mich zeigte und sagte: ‚Diese junge Frau hier kann zehnmal schneller ENTWICKELTE SOZIALISTISCHE GESELLSCHAFT setzen, als mancher hier im Raum diese Worte einmal fehlerhaft buchstabieren könnte!’ Einige der Männer guckten irritiert, andere nickten wissend.

Und sie blieben. Es gab einen Parteitag, über den unsere Zeitung berichten musste. Und weil die Partei Sorge hatte, dass wir die Berichterstattung sabotieren könnten, postierte sie hinter jeder Setzmaschine einen Aufpasser. Zwar wurden uns die Männer nicht als Mitarbeiter der Staatssicherheit vorgestellt, doch wir wussten, dass sie es waren. (270-71)

Wann vollzog die Stasi den Schritt vom Nur-Aufpassen, dass beim Abdruck der Parteitexte der Inhalt nicht etwa durch Verdrehungen sabotiert wurde, zum eigenen Sabotieren der Texte von Autoren, die als „feindlich-negativ“ eingeschätzt wurden? In den Akten findet sich nichts dazu. Wie Udo Scheer richtig hervorhebt, „ihre Schweinereien haben sie nicht aufgeschrieben, sie waren sich ihrer Kriminalität durchaus bewusst.“ (351)

Wie sich das anfühlte für einen Autor, der so, d. h. mit „Druckfehlern“, „behandelt“ wurde, beschreibt Sarah Kirsch in einem Brief an Christa Wolf. Am 24. Juni 1989 berichtet die Lyrikerin über Probleme beim Korrekturlesen für ihren Gedichtband Die Flut: Gedichte, der im gleichen Jahr beim Ostberliner Aufbauverlag erscheinen sollte:

Diese Scheißfahnen von Herrn Aufbau machten ja Spaß. Die Lektorin wollte alles telefonisch korrigieren – als das Gespräch kam, war sie aber schon wieder nach Hause gegangen. Ich habs nun doch geschickt, war nämlich auf jeder Seite fast was, enorme Fehler des Sätzers, der hat sich wohln Spaß gemacht oder seinen Frust doch durch witzige Fehler abreagiert. Anders kanns nicht gewesen sein. Sag mal Gerhard ich brauche noch ne spätere 2. Correktur sonst ist mir sehr vage und grauenhaft schlecht zu Mute. Sah wie Sabotage ja aus. (292)

„Grauenhaft schlecht zumute“ war es mir auch jedes Mal, wenn die Stasi in den Druckereien an meinen Texten manipuliert hatte. Die Nerven lagen blank. Und seit ich in den USA lebte, konnte ich die Fehler nicht mehr rechtzeitig „abfangen“, die Verstümmelung dessen, was ich geschrieben hatte, „durch witzige Fehler“ blieb.

Um ein Beispiel zu nennen: In der 1988 im Aufbauverlag erschienen Anthologie Die Wärme, die Kälte des Körpers des Andern: Liebesgedichte drehte die Stasi in meinem Liebesgedicht „P. tanzt“ das letzte Wort in der vorletzten Zeile von „meinen“ in „seinen“ um und verlieh dem Text, in dem es um Geschlechtsverkehr geht, damit eine peinliche Wendung. Diesen Text hatte ich unter anderem eingereicht, nachdem mich der Herausgeber der Anthologie, Kurt Drawert, um Gedichte gebeten hatte:

P. tanzt

Seine Hüfte auf meiner Seine auf meiner Brust Seine Augen gewürznelkenfarbig lachen Verlachen den Winter die falschen Propheten die Straßenverkehrsordnung P. tanzt Schweigend und beredt wie Demosthenes Seine Bewegungen sagen Woher wir kommen wohin wir gehn Ich lausche und P.s Tanz umwächst mich Mit Zweigen und Blättern Sie schwanken Ein Nest fällt Die Erde bebt Siehst du wir leben! Sagt P.s Blick Er tanzt Seine Hände Die immer ruhig sind: Ein Helm um meinen Hinterkopf gepolstert mit Gras und Federn (Wie mag ich alles, was beginnt, 95)

In der Anthologie heißt der letzte Satz dagegen: „Ein Helm um seinen Hinterkopf gepolstert mit Gras und Federn“ (35) Nur einen Buchstaben hatten die Tschekisten auf ihre „witzige“ Art verändert: Ein „s“ statt ein „m“; damit hatten sie das Wort „meine“ zu „seine“ gemacht: „ein Helm um seinen Hinterkopf“ (35). Dem Vorgang des Geschlechtsverkehrs, der in dem Text beschrieben wird, hatten sie durch die Manipulation eine peinliche Drehung gegeben und mich als Dichterin unglaubwürdig gemacht. Welch eine Blamage in den Augen der Leser! Kurt Drawert, der die Anthologie herausgegeben hatte, schrieb mir nur „O Gott!“, nachdem ich ihn auf den Fehler hingewiesen hatte und versicherte mir glaubhaft, er hatte die Fahnen ordentlich korrigiert und mit der Manipulation an meinem Gedicht nichts zu tun. Es tat ihm leid. Ich glaubte es ihm. Mit Tränen der Wut in den Augen knallte ich mein Belegexemplar dieser Anthologie, das mit der Post gekommen war, in Minneapolis in den Müllcontainer. Einen Tritt hatten sie mir versetzt, auf so „feine“ Art, dass sich die SED um negative Schlagzeilen nicht zu sorgen brauchte.

In seinem Kapitel „Zersetzung – der ‚leise‘ Terror“ analysiert Jens Gieseke die Richtlinie 1/76 des MfS „zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge“ und zitiert zwölf Methoden für die psychologische Manipulation:

Die Diskreditierung des öffentlichen Rufs, die Organisierung von Mißerfolgen in Beruf und sozialen Kontakten, das Untergraben von Überzeugungen und Erzeugen von Zweifeln in der persönlichen Perspektive, das Schüren von persönlichen Rivalitäten und gegenseitigen Verdächtigungen in den Gruppen, die Zuweisung eines fern liegenden Arbeitsplatzes, das Verbreiten von kompromittierenden Fotos, Briefen, Telegrammen und ähnlichem Material, das Verbreiten von Gerüchten und fingierten Indiskretionen über MfS-Aktivitäten, zum Beispiel IM-Treffs mit Gruppenmitgliedern, scheinbar unmotivierte Vorladungen bei staatlichen Stellen, die den Eindruck einer IM-Tätigkeit der Zielperson erwecken sollen. (186)

Im Falle der „Druckfehler“ waren zweifellos die ersten beiden Methoden maßgebend gewesen. Das psychologische Ergebnis war in meinem Fall eine innere Lähmung; vor Entsetzen konnte ich jahrelang keine Gedichte mehr schreiben. Der Jenaer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Edwin Kratschmer ersetzt das schreckliche Wort „Zersetzungsmaßnahmen“ mit „Seelenterror“. In seinem Nachwort zu dem wichtigen Essay-Band Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi beschreibt der Autor, wie das Selbstbild der als „feindlich-negativ“ eingeschätzten Personen durch diesen Seelenterror erschüttert werden sollte. „Schleichend“ beginnt dieser Terror, schreibt Kratschmer anhand seiner eigenen Erfahrungen, „mit kaum wahrnehmbaren Sanktionen, Disziplinierungen, Demütigungen, Diffamierungen und führt über Angstnächte oft genug zur Zerstörung der Person“ (322).

Die „Druckfehler“, so war mir damals aufgefallen, traten meistens an Stellen auf, in denen es um Liebe ging. Jens Gieseke schreibt: „Überhaupt beflügelte die Welt des Sexuellen die Phantasie der Tschekisten.“ Diese Phantasie, zeigt der Autor, „war ständig genährt vom voyeuristischen Blick in die Intimsphäre der Ausspähungsopfer und dem auffälligen Bemühen mancher IM, ihren Führungsoffizieren Schlüpfriges und Schmuddeliges zu präsentieren, das offenbar von den Projektionen des sauberen und ordentlichen DDR-Bürgers lebte.“ (189) Als Beispiele verweist Gieseke unter anderem auf die pornographischen Fotomontagen und falschen Bezichtigungen über außereheliche Beziehungen von Pfarrern.

Hatte ich nicht schon vor der Wende über das Thema „Stasi und Druckfehler“ einen Text verfasst und ihn an Freunde geschickt? Freundlich bat ich sie, mir zu sagen, ob es ratsam sei ihn zu veröffentlichen. Nein! rieten mir die meisten; Druckfehler schleichen sich immer ein, du kannst nicht beweisen, dass die Staatssicherheit dahintersteckt. Als Hirngespinst einer Wichtigtuerin würde dein Artikel wahrscheinlich abgetan. Sie hatten wohl Recht; sogar Jürgen Fuchs wurde ja, wie Udo Scheer zeigt, damals von Westjournalisten wegen seines angeblichen Verfolgungswahns belächelt. Wenn er von den gegen ihn und seine Familie laufenden Stasi-Maßnahmen sprach, hieß es „Paranoiker“ – ich hatte den Ausdruck selbst in der Westberliner Redaktion des Spiegel mit Bezug auf Jürgen Fuchs gehört. Also besser das „Druckfehler“ – Thema verdrängen! Als Paranoikerin wollte ich nicht verschrien werden. Und was waren schon „Druckfehler“ und diskreditierende Gerüchte gegen die Manipulationen an den Bremsen des Autos der Familie Fuchs und die vor ihrer Haustür explodierenden Granaten.

Seither sind über dreißig Jahre vergangen. Als ich letzte Woche in der vierten Serie von Handmaids Tale June Osborn dabei zusah, wie sie und ihre Freundinnen den „Commander“, der sie einst gepeinigt hatte, ermordeten, um innerlich Ruhe zu finden, denn zu tief saß die Verletzung, um damit leben zu können, beschloss ich: Jetzt ist es an der Zeit! Sich frei schreiben! Hauptsächlich Psychokrieg war es in meinem Fall; von ein paar Schlägen nachts vor der Tür abgesehen, gab es nur ausgeklügelte Techniken der Beschämung, aber die „Druckfehler“ bleiben; sogar, wenn ich einmal das Zeitliche gesegnet habe, sind sie noch da. Warum sollte dieses perfide Detail aus dem geheimen MfS-Instrumentarium ausgeblendet bleiben?

 

 

Bibliographie

Brasch, Marion. Ab jetzt ist Ruhe: Roman meiner fabelhaften Familie. Frankfurt: Fischer, 2015.

Eckart, Gabriele. „P. tanzt.“ Wie mag ich alles, was beginnt. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1987: 95.

Eckart, Gabriele. „P. tanzt.“ Die Wärme die Kälte des Körpers des Andern: Liebesgedichte. (Kurt Drawert, Hg.) Berlin: Aufbau, 1988: 35.

Fuchs, Jürgen. „Bearbeiten, dirigieren, zuspitzen: Die ‘leisen’ Methoden des Mfs.“ Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Hamburg: Rotbuch. Klaus Behnke, Jürgen Fuchs (Hrsg.) 1995, 44-83.

Gieseke, Jens. Mielke-Konzern: Die Geschichte der Stasi 1945-1990. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 2001.

Kirsch, Sarah. Wolf, Christa. „Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt: Der Briefwechsel.“ Sabine Wolf (Hg.) Berlin: Suhrkamp, 2019.

Kratschmer, Edwin. „Die Neurose dauert an.“ Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Klaus Behnke, Jürgen Fuchs (Hrsg.) Hamburg: Rotbuch, 1995, 318-27.

Scheer, Udo. Jürgen Fuchs. Berlin: Jaron Verlag, 2007.

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Dec 19 2020

Jürgen Fuchs zum 70. Geburtstag

Jürgen Fuchs 70.

 

Making Of „Scheinwerfer“

 

Erinnerungen an Jürgen Fuchs zum 70. Geburtstag

am 19.12.2020

Axel Reitel, Berlin

 

Am Sonntag, den 12. September 1982 landete ich als Delegierter eines Kongresses über politische Hafterfahrungen mit einem Freiflug aus Hamburg in Tegel, Westberlin. Doch war schon bei der Ankunft der kostentragende Kongress wie vergessen. Zwei Bekannte aus meiner Geburtsstadt Plauen, die wie ich von der Bundesrepublik freigekauft wurden[1], holten mich ab und fuhren, nach einer Willkommensrunde im dichten Kreisverkehr um die Siegessäule, geradenwegs zum Jazz-Brunch ins Kreuzberger York-Schlösschen: Ein Treffpunkt der aus der DDR ausgebürgerten Opposition, die vor allem einen Namen im Mund führte, der mir aufs Angenehmste vertraut war. Ich hatte sowohl sein Foto vor Augen als auch das mit grünem Filzstift abgeschriebene Gedicht „Scheinwerfer“. Ich hatte es mit Prenaband, im Westen gab es Tesa-Film, an das Gewürzregal meiner Wohnung in der Plauener Myliusstraße 6 gepappt, wo es bei meiner Verhaftung abgerissen wurde. Bei den Verhören fragte einmal der Stasi-Oberleutnant: „Kennen Sie diesen Jürgen Fuchs?“ Und gab selbst gleich die Antwort: „Der macht doch auch nur aus einer Mücke einen Elefanten.“

 

Jürgen Fuchs (links) und Adam Zagajewski
Foto: Bernd Markowsky / Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. 

 

1983. „Warte, ich geb es dir durch“, sagte Jürgen. Wir telefonierten zwischen Bülowstraße 30 und Tempelhofer Damm 54. Ich hatte ihm diese Geschichte erzählt, und Jürgen begann sein Gedicht „Scheinwerfer“ zu diktieren, gab auch die rhythmisierenden Zäsuren an, und so schrieb ich es ein zweites Mal auf. Utz Rachowski, am 12. September im York-Schlösschen dabei, hatte mich mit Jürgen im Laufe der Monate bekannt gemacht. Bisher hatte ich zwei Gedichte von Adam Zagajewski vertont – darunter das Gedicht „Hegel“ –, und bei einer Lesung mit Utz in Bielefeld vorgetragen. Utz und Jürgen kannten sich schon von der Erweiterten Oberschule, so lautete der SED-staatliche Begriff für Gymnasium, in Reichenbach im Vogtland. Dann hatte ich Utz einmal so verstanden, dass beauftragte Stasiagenten unter Jürgens Auto vor der Haustür Tempelhofer Damm eine Bombe hochgehen ließen, als er mit Lilo und den Kindern aus dem Haus kam.

 

Text „Scheinwerfer“ mit Gitarren-Akkordbezeichnungen

 

Vor allem denke ich aber mit unendlicher Freude an die erfolgreichste Revolution aller Zeiten, die Friedliche Revolution 1989, und wie wir am Rosenmontag 1990, Jürgen, Utz und ich, die Lesung am Theater der Stadt Plauen bestritten. Die Reihe hieß „Das brisante Stück“, und kurze Zeit darauf nahm der anwesende Intendant wegen Stasi-Spitzeleien seinen Hut. „Der hat ein paar Mal richtig aufgehorcht. Hätte er nicht gedacht, dass eine Knastgeschichte Literatur sein kann.[2] Und so, wie du das machst, so feinsinnig, das kann ich nicht“, sagte Jürgen nach der Lesung und sah mir direkt ins Gesicht. Wir waren nach Reichenbach weitergefahren und saßen in der Wohnung von Utzʼ wunderbarer Mutter Lisbeth, in der Gabelsbergerstraße 2.

Neun Jahre später, am 9. Mai 1999, musste Jürgen zur großen Erschütterung von uns allen, und „nicht von Gott gewollt“, wie er sagte, an Blutkrebs sterben. Ich schlug zu Hause in seinem Rowohlt-Band Gedächtnisprotokolle die Seite 60 mit den „Scheinwerfern“ auf. Dann nahm ich die Gitarre zur Hand, von Zeile zu Zeile auch das gerade Beschriebene im Blick und wie es Lilo Fuchs im nachfolgenden Interview, dem der Text der „Schweinwerfer“ beigefügt wurde, betitelt hat: DPM Nr. 564 Sep-Okt 2020 65. Jahrgang S. 108-114 Fuchs Reitel

 

 

 

Anmerkung:

Die Vertonung dieses Gedichtes durch Axel Reitel, für dessen eigenen Weg zum Dichter es von enormer Bedeutung war, findet sich auf der CD ohne anzuklopfen von Axel Reitel & collegium novum.[3]

 

Wir bedanken uns bei der Redaktion der Zeitschrift Die Politische Meinung, der Zweimonatsschrift der KAS, für die Erlaubnis zum Wiederabdruck des Interviews mit Jürgen Fuchs und beim Fotografen Dirk Vogel für die Erlaubnis zur Reproduktion seines darin befindlichen Bildes von Lilo Fuchs.

 

Fußnoten:

[1] Vgl. mein Radiofeature über die Freikäufe: https://www.youtube.com/watch?v=AJHDK0_Wp60, Stand 13.12.2020.

[2] Diese Geschichte hier http://collegiumnovum.blogspot.com/2013/08/erzahlung-sascha-oder-die-bibel-die.html, Stand ebenfalls vom 13.12.2020.

[3] Siehe hierzu die Rezensionen „Aus Plauen“ in der Welt und zur Gedächtnislesung Jürgen Fuchs in der FAZ (eingesehen am 18.12.2020).

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Jul 02 2015

Herta Müller wird der Heinrich-Böll-Preis verliehen

Im November 2015 wird der Nobelpreisträgerin Herta Müller im Historischen Rathaus von Köln der Heinrich-Böll-Preis verliehen. Kölns Oberbürgermeister und Jury-Vorsitzender Jürgen Roters begründete die Entscheidung der Jury u. a. damit, dass kein literarisches Werk dem Heinrich Bölls so verwandt sei wie das ihre.

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Jul 25 2013

Verzeichnis der Rezensionen: Glossen 34 – 40 (2012 – 2015)

Verzeichnis der Rezensionen — Glossen 34 — 40/2012/2015
1. Frederick A. Lubich: Marko Martin, Treffpunkt ’89 – Von der Gegenwart einer Epochenzäsur. Hannover: Wehrhahn, 2014, 319 Seiten.

2. Theo Buck: Hans Joachim Schädlich: Narrenleben. Roman. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg 2015

3. Gabriele Eckart: Frederick A. Lubich (Hrsg.), Transatlantische Auswanderungsgeschichten: Reflexionen und Reminiszenzen aus drei Generationen. Festschrift zu Ehren von Robert Schopflocher. (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014) 647 Seiten.

4. Margrit Zinggeler: Niederhauser, Rolf. Seltsame Schleife. Zürich: Rotpunktverlag, 2014

5.  Wolfgang Müller: Ernest Kuczynsky (Hg.), Im Dialog mit der Wirklichkeit. Annäherungen an Leben und Werk von Jürgen Fuchs. Halle(Saale): Mitteldeutscher Verlag GmbH, 2014.

6.   Christine Cosentino: Lutz Seiler, Kruso (Berlin: Suhrkamp,2014)

7. Theo Buck: Susanne Schädlich, Herr Hübner und die sibirische Nachtigall. Roman (München: Droemer, 2014)

8. Susanne Schädlich: Uwe-Karsten Heye, Die Benjamins. Eine deutsche Familie (Berlin: Aufbau Verlag, 2014)

9. Christine Cosentino: Cornelia Schleime, Weit fort. Roman ( Hamburg: Hoffmann und Campe, 2008; Taschenbuchausgabe München: Goldmann, 2010).

10. Gabriele Eckart: Maja Beutler, Ich lebe schon lange heute: Texte 1973 bis 2013.  (Oberhofen: Zytglogge, 2013) 390 Seiten.

11. Christine Cosentino: Uwe Tellkamp, Die Schwebebahn. Dresdner Erkundungen (Berlin: Insel Verlag, 2012)

12. Gabriele Eckart: Richard A. Zipser, Von Oberlin nach Ostberlin: Als Amerikaner unterwegs in der DDR-Literaturszene. (Berlin: Christoph Links Verlag GmbH, 2013)

13. Christine Cosentino: Jakob Hein und Jacinta Nandi, Fish’ n’ Chips & Spreewaldgurken. Warum Ossis öfter Sex und Engländer mehr Spaß haben. (Köln: Kiwi, 2013)

14. Christine Cosentino: Christoph Hein, Vor der Zeit. Korrekturen. (Berlin: Insel, 2013). 10. Rainer Stollmann: Teju Cole, Open City. A Novel (New York: Random House, 2011. Dt.: Open City. Roman (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012)

15. Rainer Stollmann: Zu Teju Coles Open City. Roman(New York: Random House, 2011. Dt.: Open City. Roman (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012)

16. Michael G. Fritz: Utz Rachowski,  Miss Suki oder Amerika ist nicht weit!  (Niederfrohna: Mironde Verlag, 2013). Mit Zeichnungen von Thomas Beurich.

17. Theo Buck:  Michael Speier, Haupt Stadt Studio. Gedichte  (Berlin: Aphaia Verlag, 2012).

18. Frederick Lubich: Charlotte Roche, Schoßgebete ( München: Piper, 2011) 283 Seiten.

19. Frederick Lubich: Ein Berliner Bilder- und Bildungsroman. Zu Gerald Uhlig-Romeros Neuerscheinung stoff.wechsel (Berlin: epubli, 2011) 124 Seiten.

20. Susanne Schädlich: Grit Poppe, Abgehauen (Hamburg: Cecilie Dressler Verlag, 2012) 336 Seiten.

21. Susanne Schädlich: Bernd Cailloux, Gutgeschriebene Verluste. Roman memoire. (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012) 271 Seiten.

22. Susanne Schädlich: Ulrich Bergmann, Doppelhimmel. (Bonn: Free Pen Verlag, 2012). 182 Seiten

23. Theo Buck: Hans Joachim Schädlich, Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II. Eine Novelle. (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2012).

24. Theo Buck: Anna Schädlich – Susanne Schädlich (Hrsg.), Ein Spaziergang war es nicht. Kindheiten zwischen Ost und West. (München: Wilhelm Heyne Verlag, 2012). 317 S.

25. Wolfgang Müller: Anna Schädlich – Susanne Schädlich (Hrsg.), Ein Spaziergang war es nicht. Kindheiten zwischen Ost und West. (München: Wilhelm Heyne Verlag, 2012). 317 Seiten.

26. Christine Cosentine: Christoph Hein: Weiskerns Nachlass. Roman (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011).  319 Seiten.

27. Christine Cosentino: Jens Sparschuh, Im Kasten. Roman.  (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012).  224 Seiten.

28. Christine Cosentino: Volker Braun, Die hellen Haufen. Erzählung.  (Berlin: Suhrkamp, 2011)  97 Seiten.

29.  Christine Cosentino: André Kubiczek, Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn (München, Zürich: Piper, 2012). 479 Seiten.

30. Christine Cosentino: Lutz Seiler, Die Zeitwaage. Erzählungen. (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009). 285 Seiten.

31. Christine Cosentino: Julia  Schoch, Selbstporträt mit Bonaparte  (München: Piper, 2012) 142 Seiten.

32. Gabriele Eckart: Edwin Kratschmer, Wahnwald.  (Stadtroda: UND Verlag, 2011). 249 Seiten.

 


 

Marko Martin, Treffpunkt ’89 – Von der Gegenwart einer Epochenzäsur. Hannover: Wehrhahn, 2014, 319 Seiten.

Rechtzeitig zum fünfundzwanzigsten Jahrestag des Berliner Mauerfalls erschien im Herbst 2014 Marko Martins Sammlung von rund fünfunddreißig Essays, in denen Schicksal und Lebenswerk von Exilanten und Dissidenten der deutschen und mitteleuropäischen Kultur und Geschichte des letzten Jahrhunderts skizziert werden. Es handelt sich dabei, um hier nur die bekanntesten zu nennen, zum einen um Hans Sahl, Arthur Koestler, Manès Sperber, Ralph Giordano und André Glucksmann, zum andern um Reiner Kunze, Jürgen Fuchs, Czeslaw Milosz, Pavel Kohout, Milan Kundera und Milo Dor. Während die erste Gruppe vor allem aus Vertretern der deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums besteht, die sich zur Zeit des Dritten Reiches durch Auswanderung in westliche Länder retten konnten, repräsentiert die zweite Gruppe primär Autoren, die unter diversen Regimen des osteuropäischen Kommunismus unterdrückt und verfolgt wurden.

Allesamt sind die Portraitierten „Jahrhundertzeugen“ (196) des modernen Totalitarismus und seines Big-Brother-Terrorismus, den sie in seinen verschiedenen Erscheinungsformen in ihren literarischen Werken darzustellen suchten, angefangen von den ideologischen Verblendungen, parteipolitischen Schauprozessen und den rassenwahnsinnigen Völkermorden in der Mitte des Jahrhunderts bis zu den alltäglichen Schikanen und andauernden Repressionen der Bespitzelung und Einschüchterung, des Publikationsverbots und der letztendlichen Ausbürgerung in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit. Der Gewaltherrschaft des deutschen Faschismus und des ost-europäischen Kommunismus folgte nach dem Fall der Berliner Mauer die letzte blutige Ausgeburt dieses Wahnsinnsjahrhunderts, nämlich des in verschiedenen Teilen Europas wieder auflebenden Nationalismus, dessen zum Teil mörderische Exzesse im letzten Teil dieses Buches ebenfalls immer wieder zur Sprache kommen.

Ein Großteil der Essays beruht auf Interviews, die der Autor mit den Portraitierten geführt hat, wobei ihn seine Treffpunkte in Kneipen, Kaffeehäusern und Privatwohnungen von Berlin über Prag und Paris bis nach Portugal und Kanada führten. Dazu kommen auch noch weitere Reisen in den Fernen Osten, wie etwa nach China und Birma, wobei der Verfasser im letzteren ein Gespräch mit einem ehemalig verfolgten und gefolterten Regimekritiker und heutigen Herausgeber von Birmas bekanntester Exilzeitschrift führt.

Da Marko Martin in der DDR geboren und aufgewachsen ist und durch seine dortige Wehrdienstverweigerung schon früh die Vergeltungsmaßnahmen eines staatlichen Machtapparats am eigenen Leib erfahren hat, bring er ein kongeniales Sensorium für die politischen Erfahrungen seiner verschiedenen Gesprächspartner mit. Zu diesem persönlichen Einfühlungsvermögen kommt eine große Beredsamkeit und weltliterarische Belesenheit, sodass sich die Lektüre einzelner Episoden immer wieder zu intensiven, emotional wie intellektuell stimulierenden Leseerfahrungen verdichtet, und dies umso mehr, wenn man sich auch immer wieder das grenzenlose Ausmaß an Blut, Schweiß und Tränen vergegenwärtigt, das den persönlichen Erfahrungen und historischen Erinnerungen der Portraitierten auf vielfache Weise zu Grunde liegt.

Während der Autor mit den einstigen kommunistischen Herrschaftssystemen sowie ihren politischen Repräsentanten, vor allem ihren skrupellosen Karrieristen und Opportunisten, sowie ihren gewissenlosen Kollaborateuren immer wieder unmissverständlich ins Gericht geht, sucht er andererseits auch der kritischen Loyalität einer Autorin wie Christa Wolf zumindest in manchen Zweifelsfällen ein gewisses Verständnis entgegen zu bringen. Unzweideutige Hochachtung zollt er hingegen der moralischen Integrität und intellektuellen Redlichkeit von Autoren und Politikern wie Jürgen Fuchs, Ralph Giordano, Alexander Dubček und Václav Havel.

Es sind Ideen und Realitäten wie Glasnost und Perestroika und Bürgerrechtsbewegungen wie der Prager Frühling, Solidarnosć, die Friedliche Revolution von Ost-Berlin, die Samtene Revolution auf dem Prager Hradschin, die Orangene Revolution auf dem Maidan von Kiew und letztlich die zerschlagene Revolution auf dem Tian’anmen Square in Beijing, die den Leser immer wieder an die Zivilcourage einzelner und ihr kollektives Engagement erinnern, wenn es darum ging, sich für die Befreiung und Verbesserung ihrer Gesellschaften voll und ganz einzusetzen.

Drei thematische Leitmotive kehren gleichsam als gemeinsamer Nenner in dieser Textsammlung mehrfach wieder: Zum Ersten das erstaunliche Phänomen eines geradezu systematischen „Demokratisierungsprozesses“ (258) in der östlichen Welthemisphäre, der vor allem für die letzte Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts charakteristisch ist, zum Zweiten der persönlich emphatische Einsatz des Autors in seinem literarisch-journalistischen „Kampf gegen die Erinnerungslosigkeit“ (310) und nicht zuletzt seine mehrfach ausgesprochene „Daseinsdankbarkeit“ (317), die er angesichts der großen Zeitenwende rund um 1989 empfindet, und dies vor allem in dem klaren Bewusstsein, dass vieles auch ganz anders hätte verlaufen können. Es war ja auch wirklich mal Zeit für diese „historische Gerechtigkeit“, wie der Autor diese Entwicklung mehrfach nennt.

Insgesamt betrachtet summieren und kristallisieren sich die Gespräche und Betrachtungen dieses Sammelbandes zu einem faszinierenden Kaleidoskop, in dem sich die zahlreichen Brüche und Widersprüche des zwanzigsten Jahrhunderts auf überaus facettenreiche Weise widerspiegeln. Sie fügen sich zu einem Jahrhundert-Panorama, in dem sich einmal mehr das „Annus Mirabilis“ 1989 in der Tat als eine epochal-globale Zäsur zu erkennen gibt, wie sie die Annalen der Weltgeschichte wohl kein zweites Mal aufzuweisen haben. Es ist, als hätte sich Hegels legendärer Weltgeist, seine geschichtliche Dialektik der Aufklärung und vor allem sein vielbeschworener Drang zur Befreiung der Menschheit endlich einmal ein großes, welthistorisches Stelldichein gegeben.

Dieses revolutionäre Rendezvous allein ist Grund genug, der Textsammlung von Marko Martin einen prominenten Platz auf dem persönlichen Bücherregal einzuräumen, Und für alle Leser, die nach dem abgründigen Zivilisationsbruch in der Mitte des letzten Jahrhunderts zufällig westlich des Eisernen Vorhangs geboren wurden und aufgewachsen sind oder gar in einem bereits befreiten Europa auf die Welt kamen, ist diese aktuelle Textsammlung, diese veritable Festschrift auf das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der errungenen Einheit und Freiheit Europas, gleichzeitig auch eine notwendige Mahnschrift sowohl zur Dankbarkeit als auch zur nachhaltigen Wachsamkeit, diese großen, geschichtlichen Errungenschaften nie für selbstverständlich zu nehmen. Die gegenwärtigen Entwicklungen in manchen Teilen der Welt geben Anlass genug, sich um das internationale Unternehmen der Demokratisierung unserer Weltzivilisation, um das unvollendete Projekt der globalen Moderne, weiterhin Sorgen zu machen und entsprechend wachsam zu bleiben.

Frederick A. Lubich

 

Hans Joachim Schädlich: Narrenleben. Roman. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg 2015

Bescheidne Wahrheit sprech ich dir:
Wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt
Gewöhnlich für ein Ganzes hält
(Goethe: Faust, V. 1346-1348)

Der Titel des neuen Romans von Hans Joachim Schädlich eröffnet ein vielschichtiges Bedeutungsfeld. Die Spannweite des Wortes “Narr“ reicht, historisch betrachtet, vom Spaßmacher und Schelm bis zum Mißgestalteten, zum Toren, zum Irren oder gar zum zwielichtigen Verwandten des Teufels. Im positiven Bereich kann die Ausdrucksmöglichkeit des Wortes einen geistreich-unterhaltsamen, humorvollen, lustigen oder weltfremden und außenseiterischen Mitmenschen meinen, wie dann im negativen einen unreifen, voreingenommenen, tollpatschigen, dummen oder ignoranten. Hinzu kommt die mit der Zeit herausgebildete Funktion des Schelms, Schalks oder Komikers, der als Possenreißer und Spaßmacher für Unterhaltung und Belustigung seiner Umwelt sorgt, wie das in vielen Kulturkreisen nachzuweisen ist. Aus der Rolle des Zeitvertreibers und Stadtnarren, man denke etwa an Till Eulenspiegel, entwickelte sich dann in der Zeit vom 14. bis zum 18. Jahrhundert die besondere Ausprägung des Hofnarren, der wie Hofmohren und Hofzwerge zum Gesinde der jeweiligen Herrschaften gehörte, aber durch die ihm zugesprochene Narrenfreiheit sogar Kritik äußern konnte, die allen anderen verwehrt war. Im feudalen Machtsystem bildete sich so für den mutigen Hofnarren ein Handlungsfreiraum heraus, hin und wieder die Wahrheit verlauten zu lassen. Er tat dabei das, was Walter Höllerer einmal vom Schriftsteller sagte: “Schreiben hat etwas zu tun mit In-Unordnung-bringen: nämlich eine Ordnung, die du nicht für richtig hältst, die du nicht ausstehen kannst, – und es hat etwas zu tun mit In-Ordnung-bringen: etwas zusammenzufügen, was immer auseinandergetrieben worden Ist“. Das gilt ebenso für die Aktionen kluger Narren. Sie bringen etwas durcheinander, um der Mitwelt eine andere, bessere Ordnungsmöglichkeit anzudeuten. “Kluge Narren reden besser“, konnte darum Nietzsche sagen. Kritisierende oder karikierende Wahrheit zu äußern, war natürlich ein Drahtseilakt. Allemal blieb der Hofnarr dabei dem Zornesrisiko des Herrschers ausgesetzt. Immerhin gewann manch ein Hofnarr auf diese Weise Ansehen und sogar Faszinationskraft. Immer wieder konnte er über den Rahmen einer bloß lustigen Person hinauswachsen und, gleichsam spielerisch, gesellschaftlich relevante menschliche Ängste und Nöte artikulieren und Aktionen des Herrschers kritisch beleuchten. Solche Narren sind imstande, uns die bestehende Wirklichkeit als “kleine Narrenwelt“ – im Sinne des von Goethe durch Mephisto kritisch gesehenen Weltzustands – bewußt zu machen. Weil wir alle uns in dieser “kleinen Narrenwelt“ tummeln, ist ein “Narrenleben“ identisch mit der Lebenskomödie schlechthin. Deswegen sollten Narren uns nebenbei auch lehren, uns nicht zu ernst zu nehmen.

Ein so gearteter, von Freiheit und Menschlichkeit träumender Narr war der von Hans Joachim Schädlich ausgewählte Joseph Fröhlich aus der Steiermark, ein gelernter Müller, der von 1694 bis 1757 lebte. Nur seinem Innern folgend, kämpfte er als Hofnarr mit den ihm gegebenen beschränkten Möglichkeiten ganz selbstverständlich und unprogrammatisch für eine humanere Welt. Dabei kann das Lachen immer wieder ziemlich traurig geraten. Als seines Zeichens kurfürstlich-königlicher Hoftaschenspieler im Dresden Augusts des Starken, rückt ihn Schädlich ins Zentrum des Romans. Über diese historische Figur gelingt es ihm, hinter der gesellschaftlichen Situation im Absolutismus die unerträgliche Lage derer zu schildern, die Macht und Willkür der Herrschenden ausgesetzt waren und häufig immer noch sind. Seit seinen Anfängen pflegt der Autor sie vielsagend “die Unmächtigen“ zu nennen. Damit führt er sein Grundthema weiter, Machtmißbrauch und Unfreiheit in Geschichte und Gegenwart anzuprangern. Wie schon in der vorangegangenen Novelle über das Verhältnis von Voltaire und Friedrich II. (“Sire, ich eile“) oder im Erzählstück über den Komponisten Antonio Rosetti (“Concert Spirituel“) wird die Leserschaft ein weiteres Mal mit dem Absolutismus konfrontiert, der ja in der heutigen Kapitalakkumulation durchaus noch eine nicht zu übersehende strukturelle Nachwirkung ausübt. Durch sein Reden und Wirken macht uns Joseph Fröhlich mit der zweischneidigen Situation des Narren vertraut. Der taschenspielerisch begabte “lustige Rat“ muß durchaus die Launen der Mächtigen immer wieder über sich ergehen lassen, versteht es aber, wenigstens punktuell die Rolle des Unmächtigen zum Signal von Humanität, Vernunft und Freiheit zu nutzen. Ironie ist dabei seine Waffe. Weil unerträgliche Mängel oder Mißstände entlarvend vorgeführt werden, unterminieren ironisch vorgebrachte Wahrheiten das herrschende System der feudalen Hierarchie, auch wenn sich nach außen zunächst nichts ändert. Es ist kein Zufall, daß die im Roman beschriebenen unerträglichen Sozialstrukturen immerhin im Land des ‘Sonnenkönigs‘, in Frankreich, Jahrzehnte später, 1789, zur gewaltsamen Beseitigung des Absolutismus geführt haben. Viel zu wenig bekannt ist, daß unter anderem auch die direkt unter dem Volk verbreiteten Flugschriften der ‘Mathurine la folle‘, der ersten Hofnärrin Frankreichs, vorbereitend dazu ihren kleinen Teil beigetragen haben. Sie stellte in diesen Texten, die sie höchstpersönlich auf dem Pariser Pont Neuf verkaufte, Willkür, Mißwirtschaft und Heuchelei am Hofe bloß. Narrenfreiheit kann eben durchaus Langzeitwirkung haben.

Schädlich ist als Historiograph immer auch erzählender Poet. Mit großer Sorgfalt spürt er den historischen Zusammenhängen bis in alle Einzelheiten nach, nimmt sich aber zugleich die Freiheit, bei der Gestaltung seines Textes das Faktische sowohl kurz und bündig zu straffen, als auch fiktiv zu unterfüttern und zugleich mit kunstvoll kristallisierender Wortgestaltung anzureichern. Das gelingt ihm auf dreierlei Weise. Zum einen erreicht er auf dem Wege konsequenter Verknappung mit präzisen Satz- und Dialogfolgen eine konzentrierte und deshalb gut überschaubare Darstellung der historischen Befunde. Dadurch gewinnt das plastisch mitgeteilte Faktenmaterial ausweitbaren Parabelcharakter. Zum andern rückt er das narrativ vermittelte Geschehen in ironische Distanz. Das regt den Leser dazu an, dem Erzählten kritisch zu begegnen, ohne in seiner genußvollen Aufnahme des mit Kunst und Absicht zusammengefügten Wortmaterials beeinträchtigt zu werden. Anregend wirkt schließlich zum Dritten die von Schädlich praktizierte Erzählmanier ständigen Wechsels von Ich-Erzählung und auktorial berichtender Außenperspektive. Denn gerade durch den zum Mitdenken auffordernden perspektivischen Wechsel der pointiert vermittelten Erzählelemente bekommt der Leser die Möglichkeit geboten, sich aktiv mitwirkend, von den heutigen Problemen her, in den Rezeptionsprozeß einzuschalten. Die Darstellungsweise in meist kurzen Absätzen, stellenweise verlebendigt durch eingefügte Dialogpartien, erzeugt eine die Aufmerksamkeit steigernde, weiterdrängende Bewegung, erlaubt jedoch ebenso das fortwährend nötige reflektierende Innehalten. All dies bewirkt zusammen, daß uns Lesern das historisch Ferne ungemein nahe vorkommt. Wir erkennen im Jagdrevier der Mächtigen uns durchaus vertraute Lebensstrukturen.
Fröhlich darf als einziger August den Starken mit ‘du‘ anreden, aber natürlich ändert das nichts an seiner unbedingten Abhängigkeit. Nicht ohne Grund beginnt der Roman mit einem wenig freundlichen und insofern symptomatischen ‘Dialog‘ zwischen einem Schreiber des Markgräflichen Hofes Bayreuth und dem angehenden Hof-Taschenspieler, zwischen dem Repräsentanten der Macht und dem Unmächtigen. Das ist natürlich in Dresden nicht anders. Zur Bestätigung dieser Abhängigkeit erhält der lustige Narr jedes Mal, wenn er vor August erscheint, je nach Laune einen Klaps, eine Ohrfeige oder einen Schlag auf die Wange. Der Kurfürst und König schätzt zwar an ihm, daß er ein “Narrendorf in seinem Kopf“ hat. Dennoch läßt er beim Besuch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. zum Vergnügen der Hofgesellschaft an ihm das Fuchsprellen vorführen oder mutet ihm in Wittenberg den Studentenulk zu, sich als Taschenspieler immatrikulieren zu lassen. Zur Strafe verdonnert der dem Gelächter Ausgelieferte in seiner Antrittsrede August dazu, für die finanziell kurz gehaltene Universität Geld lockerzumachen. Er trägt gleichfalls wesentlich dazu bei, die geplante Heirat des 58-jährigen Witwers August mit der 19-jährigen preußischen Prinzessin Wilhelmine zu verhindern (“Mein lieber König, du bist dreimal so alt wie die Prinzessin … Dein lustiger Rat rät dir: Heirate nicht!“). August muß danach eingestehen: “Er hat ja recht“.- Entschieden fragwürdig kommt dem lustigen Rat ebenso das fünf Millionen Taler teure “Große Campement“ oder “Lustlager“ vor. Sein berechtigter Einwand: “Wozu das alles? Es wäre besser gewesen, du hättest den Bauern fünf Millionen Taler Steuern erlassen“, wird von August mit der Staatsraison gekontert. Auf die Entgegnung Fröhlichs: “Daß man stark ist, muß man nicht zeigen. Man muß es sein“, bleibt dem Monarchen lediglich ein resigniertes “Ach Joseph“ zu sagen. Insgeheim bringt ihre unterschiedliche Betrachtungsweise die beiden dennoch einander näher. Eine ebenso eingefügte Unterhaltung zwischen Fröhlich und dem befreundeten Buchhändler und Chronisten Johann Christian Crell dient dazu, den Leser aufzuklären über die Folgen aristokratischer Libertinage. August der Starke, dem der Volksmund 365 Nachkommen zuschreibt, ist dafür ein geeignetes Beispiel. Die nüchterne Aufzählung des “Frauen- und Kinder-Durcheinanders“ von Augusts Gemahlin und den nicht wenigen Mätressen nebst den jeweiligen Kindern genügt dem Autor, um davon eine die Verhältnisse entlarvende Komik ausgehen zu lassen. Bei aller dem Text durchgängig eingeschriebenen Kritik am Absolutismus ist jedoch der Konfiguration August – Joseph insgeheim eine gewisse Seelenfreundschaft abzulesen, die vor allem in der impulsiven Reaktion Josephs beim Tod Augusts zum Ausdruck kommt: “Mein guter König / Mein großer Freund. / Nie mehr heitere Gespräche! / Nie mehr ein offenes Wort. / Ich habe nur geweint“.

Derartige geistige und menschliche Nähe gibt es dann überhaupt nicht zwischen dem etablierten Hofnarren und Augusts Nachfolger, dem “würdevoll, steifen, nicht lebenslustigen“ Friedrich August II. Der kann einen lustigen Rat um sich herum nicht brauchen, behält aber freundlicherweise die Bezahlung bei. Schließlich schiebt er ihn als Mühlen-Commisarius in die polnischen Gefilde ab. Ein fester Sold erlaubt es Fröhlich, in Dresden ein Haus, das “Narrenhäusel“, zu bauen und für Frau, Kinder und Enkelkinder Vorsorge zu treffen. Kurz vor seinem Tod muß er dann noch erleben, daß die Preußen unter dem ebenso erfolgs- und eroberungssüchtigen wie rücksichtslosen Friedrich II. in Sachsen einmarschieren und damit den Siebenjährigen Krieg vom Zaun brechen, der sich bekanntlich zu einem Weltkrieg auswuchs. Die Schlacht bei Lobositz in Nordböhmen im Oktober 1756 gibt Schädlich Gelegenheit, an zwei Stellen aus der authentisch plebejischen “Lebensgeschichte“ des zum Militärdienst gepreßten Ulrich Bräker (“Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer (!) des Armen Mannes im Toggenburg“, Zürich 1789) zu zitieren. Bräker entschloß sich unter dem Eindruck dieses “unbeschreiblichen Blutbads“ dazu, zu desertieren und dazu im Rückblick anzumerken: “Das heißt – wo nicht mit Ehren gefochten (zu haben) -, doch glücklich entronnen“ zu sein. Sein Blick von unten befähigt ihn zu der ‘defätistischen‘, in Wahrheit menschlich vernünftigen Haltung, die ihn in die Nähe jener närrischen Weisheit rückt, die das Zeug hat, zum Protest gegen die bestehende Gesellschaftsordnung anzuregen und somit ins Schwarze zu treffen. Auf all diesen verschiedenen narrativen Pfaden gelingt es dem Autor die Zeitumstände brennglasartig herauszuheben.

Wie gründlich sich Schädlich über das Narrenwesen informiert hat, zeigen beiläufige Hinweise. Er erwähnt nicht nur den originell einbezogenen Vorläufer Fröhlichs, Claus von Ranstädt, Hofnarr Friedrichs des Weisen, sondern auch die 1705 erschienene Schrift des katholischen Predigers und Schriftstellers Abraham a Sancta Clara, alias Johann Ulrich Megerle, mit dem schönen Titel “Wunderlicher Traum / Von einem grossen Narren-Nest“. Ebenso fehlt nicht die ganz anders geartete Geschichte des preußischen ‘Narren‘ Jacob Paul Freiherr von Gundling, jenes unglücklichen Präsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften, der seiner Neigung wegen, mehr zu trinken “als ihm zuträglich war“, zum Ziel allgemeinen Spottes wurde. Widerstandslos ließ der “Narr wider Willen“ alles mit sich geschehen. Vor allem das Tabakskollegium des ‘Soldatenkönigs‘ machte ihn mit fortgesetzten Demütigungen zum unfreiwilligen Narren. Man warf ihn in den zugefrorenen Schloßgraben, damit er einbrechend in Panik geriet, legte ihm zwei junge Bären ins Bett, machte ihn zum Vater eines Affen. Die Zechgenossen begrüßten ihn mit einem Eselsschrei, den er erwidern mußte. Obwohl auf so üble Art erniedrigt, wollte Gundling mit Fröhlich nichts gemein haben, weil er glaubte, etwas Besseres zu sein. Der reagierte darauf mit dem weisen Satz: “Hochmut tut niemand gut. Narren sollten einander nicht geringschätzen“. Zum schlechten Schluß wurde Gundling auch noch in einem Faß-Sarg beigesetzt. Fröhlich quittierte das ironisch-elegant mit einem “zwanzig Ellen langen Trauerflor“. Aber auch sein Leben neigte sich bald danach dem Ende zu. Wegen der preußischen Besatzung Sachsens wurde er Ende Oktober 1756 nach Warschau beordert. Dort angekommen, quälten ihn Schmerzen in der Brust. Wenige Monate später, am 27. Juni 1757, starb er in seiner Mühle. Damit endet der erste Teil des Romans.

Die von Fröhlich hinterlassene satirische Schrift “Politischer Kehraus … mit Freud und Leid geschrieben“, veröffentlichte der Sohn Jacob 1763. Darin stand unter anderem zu lesen: “… was die Großen einbrocken, sollen die Niedrigen ausfressen. Schießen die Großen Böck, so treten sie die Kleinen in den Dreck. … Schaut, ihr Kleinen, ihr habt Mäuler, ihr habt Augen, warum seht und redet ihr nit einmütig, wo ihr sehn und reden sollt?“ Das war entschieden notwendiger, klassenkämpferischer Klartext eines seine Zeit durchschauenden und über sie hinausdenkenden einfachen, couragierten Menschen.

Kontrastierend zum erfüllten Narrenleben Joseph Fröhlichs kommen dann noch die von Schädlich absichtsvoll hinzugefügten ‘Memoiren‘ des unfreiwilligen ‘Narren‘ Peter Prosch aus Tirol. Mit einen einfallsreichen Kunstgriff stellt der Autor in einem fiktiven Brief Proschs an den berühmten Zunftgenossen und Verfassers des “Politischen Kehraus“ die Verbindung zum zweiten Teil her. Die in 13 ‘Parts‘ gegliederten ‘Memoiren‘ basieren auf der von Prosch selbst verfaßten Biographie. Dieser arme Teufel mußte sich lebenslang als Vagant mühsam an seinem Traum abarbeiten, daß ihm die Kaiserin Maria Theresia einen Hut voll Geld schenkt und er sich so ein Haus bauen kann. Zwar geht der Traum in Erfüllung, jedoch führt Prosch in der Folge ein erniedrigendes Leben als herumziehender Handschuhverkäufer, der Bosheit und Sadismus der jeweiligen Herrschaften, die er aufsucht, ausgesetzt ist. Nirgends findet er eine feste Anstellung. Bilanzierend muß er die deprimierende Feststellung machen: “Je mehr ich ertrage, desto größer ist mein Ertrag“. Die schmerzlichen Erfahrungen Proschs – man erwählt ihn zum Taufpaten eines Esels, bindet ihn am Sattel eines wilden Pferdes fest, verpaßt ihm ungut wirkende Klistiere, zündet den ihm verpaßten falschen Bart an, unterschiebt ihm ein Kind und mißbraucht seine Frau – zeigen überdeutlich wie weit Macht und Moral auseinanderliegen. Das ist die zwingende Quintessenz auch des zweiten Romanteils. Erstaunlich und höchst lesenswert ist, was alles der Erzähler Schädlich in komprimierender Prägnanz auf nicht einmal 200 Seiten unterbringt. Wie nebenbei weitet sich die Szenerie um die beiden sehr unterschiedliche Narrenleben zum charakteristischen Querschnitt einer ver-rückten Welt, eben der Welt des Narrenlebens, – unserer Welt. Schnell ans Lesen, lieber Leser!

Theo Buck

Frederick A. Lubich (Hrsg.), Transatlantische Auswanderungsgeschichten: Reflexionen und Reminiszenzen aus drei Generationen. Festschrift zu Ehren von Robert Schopflocher. (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014) 647 Seiten.

 Auf die Bitte dieses Buch zu rezensieren, sagte ich sofort zu, weil mich das Thema Mehrsprachigkeit interessiert – wozu bei diesem Titel Interessantes zu erwarten war, vielleicht sogar über die Frage, wie Deutsch und Spanisch im Kopf zueinanderpassen. Robert Schopflocher schreibt ja, wie ich aus seiner Autobiographie weiß, in beiden Sprachen. Wie geht das? Mir brennen Dinge auf den Nägeln, die ich auf Deutsch nicht beschreiben kann. Auf Spanisch (meine Lieblingssprache) ginge es da? Das Buch kam an — ein Wälzer, Beiträge von rund siebzig Autoren. Nach dem ersten Schreck las ich Egon Schwarz’ Beitrag “Sprachen im und fürs Exil” und fand, was ich suchte: der Autor beschreibt zum Beispiel die “Trefflichkeit der phonetischen Ortographie” im Spanischen, leicht zu lernen für einen deutschen Muttersprachler, wie ich aus eigener Erfahrung weiß.

Jetzt, nach der Lektüre aller Beiträge — in den meisten erzählen Auswanderer über ihre erzwungene oder freiwillige Auswanderung aus einem deutschsprachigen Land und ihre Eingliederung in ein neues, in dem eine andere Sprache gesprochen wird — interessieren mich diese zwei Ausdrücke sehr: “hybrider Schriftsteller” (siehe Reinhard Andress’ interessanten Artikel über Robert Schopflocher) und “butterfly effect” (kein Synonym für Schneeballeffekt, wohl bemerkt) — Guy Sterns Begegnung mit Marlene Dietrich an der europäischen Front im zweiten Weltkrieg zum Beispiel!

Der längste Beitrag in dieser Festschrift sind Frederick Lubichs in fünf Teile gegliederte, mit Eichendorff-Zitaten und Songzeilen seiner Lieblingsbands geschmückten und faszinierend zu lesenden Reisebilder. Dieser autobiographische Text berührt unter vielen anderen das Thema Zurückwandern. Lubichs Großeltern, Mährisch sprechende Sudetendeutsche, gehen nach dem zweiten Weltkrieg gezwungenermaßen nach Deutschland zurück; von da wandert der Enkel später in die USA aus… An einer Stelle weinte ich fast. Lubich, die frühen siebziger Jahre feiernd, schreibt: “Wir Deutschen der ersten Nachkriegsgeneration spürten Freuds ‘Unbehagen in der Kultur’ ganz besonders und reagierten mit entsprechend radikaler ‘Gegenkultur’. […] ‘Heavy Metal’ statt ‘Heavy Artillery’, das wurde unsere Lebensphilosophie – vor allem wenn es um Grenzerfahrungen ging.” Der Autor feiert das Reisen, “ausgiebige Ausflüge, vor allem nach Frankreich und Italien” und bezeichnet diese Zeit rückblickend als “große jugendbewegte Aufbruchzeit”. Aber wir? Die auf der anderen Seite der Mauer? Statt nach Italien zu trampen, FDJ Fackelzüge und Stasi. Wer das nicht aushielt, konnte ja versuchen, von Hiddensee aus durch die Ostsee nach Dänemark zu schwimmen, wie wir in Lutz Seilers preisgekröntem Roman Kruso (Deutscher Buchpreis 2014) gerade lesen können. “Wir Deutschen” – schließt der Begriff uns, die von der anderen Seite, aus?

Mehrere Autoren geben Leseempfehlungen; die ersten zwei Bücher auf meiner Liste sind Robert Schopflochers Die verlorenen Kinder und Martin Caparrós’ Wir haben uns geirrt, Romane, die kritisch auf die argentinische Militärdiktatur zurückblicken. Denn das gehörte leider auch zum Auswandern nach Südamerika – Militärdiktaturen, nachdem man vor noch gar nicht so langer Zeit Hitler entronnen war… Vielleicht war die DDR gar nicht so schlimm im Vergleich?

Und sogar das gehört zum Thema dieses Buches: Fred Viebahn, der in den USA lebende deutsche Schriftsteller, erinnert sich an 9/11 – auf dem Urlaubsschiff nach Europa unterwegs sein und da stürzen auf dem Bildschirm die Twin Towers ein! Ist das Fiktion oder Realität? Was ist der Unterschied zwischen beiden? Schließlich hielten 1938 viele Orson Welles’ Hörspiel War of the Worlds zuerst für Wirklichkeit und verfielen in Panik. Da bist du erst einmal vorsichtig, bevor du Bildern glaubst…

Der Herausgeber Frederick Lubich hat die von Zeichnungen von Peter Pabisch sehr schön eingeleiteten und in drei verschiedenen Sprachen (Deutsch, Englisch, Spanisch) geschriebenen Texte in acht Kapitel gegliedert: Erinnerungen an Schopflocher und Glückwünsche zu seinem 90. Geburtstag, Essays zum Autor oder zum Thema Shoah, Reflexionen über fast alle Aspekte des Auswanderns, Rezensionen neuer Bücher zum Thema und Interviews mit bekannten Ausgewanderten sowie das mit “Memories and Fantasies” betitelte Kapitel VII, das ein bisschen eine Stopfgans ist (aber bei der Lektüre nicht weglassen, einige der interessantesten Beiträge des Bandes füllen es). Mein Lieblingskapitel ist VI: “Südamerika: Fremde (und) Heimat”; es weckte Erinnerungen an meine Reisen nach Südamerika und den Entschluss, unbedingt noch einmal nach Argentinien zu fliegen – aber erst nachdem ich die oben genannten Romane über die Militärdiktatur gelesen habe! Kapitel VIII mit Beiträgen von Studenten aus Virginia über atlantische Hin- und Herbewegungen schließt das Buch – die Jüngsten haben das letzte Wort: “Man braucht das Andere, muss auch das Fremde kennengelernt haben, um herauszufinden, wohin man gehört und was man hat.” (Sabine Smithers).

Die Lektüre dieses Buches ist ein Muss für alle, die sich für die Themen Exil, Shoah, Auswandern, Integration und, vielleicht, Nicht-integration und Zurückwandern interessieren.

Gabriele Eckart

 

Rolf Niederhauser, Seltsame Schleife. Zürich: Rotpunktverlag, 2014.

Der Roman Seltsame Schleife ist ein anspruchsvolles Buch, das Zeit zum Lesen und Denken verlangt! Schon wenn man es in die Hand nimmt, muss man sich anders orientieren. Das Wort Schleife auf dem Umschlag steht unter Seltsame auf dem Kopf und auf der Rückseite wiederholt sich das Spiel auf umgekehrte Weise. Auf der rechten Seite elf beginnt der Roman mit dem ersten Kapitel “Die Reise”, darunter ein Zitat von Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meister I; auf Spanisch! Die Reise beginnt mit dem Wort “Buenaventura,” die Stadt in Kolumbien, die aber, wenn man die Geschichte zu Ende gelesen hat, dieses Ende der Anfang ist. “Geschichten lassen sich nur vom Ende her erzählen, wie es auch keine Gegenwart gibt, auf der andern Seite, die etwas anderes wäre als eben erst wahrgenommene Vergangenheit. Jede Information braucht Zeit, um im Bewusstsein anzukommen” (50). Die zweite Seite ist nicht auf der folgenden Rückseite, sondern wieder rechts; also Seite 12. Man liest so zuerst 368 rechte Seiten, muss dann das Buch umdrehen—auf den Kopf stellen—und das zweite Kapitel, “Die Rückkehr” von Seite 370 bis 727 lesen, wobei das kurze, dritte Kapitel ganz am Ende (S. 716-727) mit “Die Recherche” überschrieben ist. Diese Recherche ist der erzählerische Anti-Klimax und ein erklärender Versuch, der die Wahrhaftigkeit und Wahrscheinlichkeit der Geschichte hinterfragt. Immer nur die rechte Seite eines Buches lesen fixiert irgendwie den Kopf, den Blickwinkel des Lesers/der Leserin, immer mit dem Kopf nur nach rechts blickend ist anstrengend. Zudem ist der subjektiv-emotionelle Bericht des Protagonisten, Pit oder Nicolàs Dörflinger, ein tagebuch-artiges Note Book Journal, durchwegs in Kleinbuchstaben (außer am Satzanfang und Namen) und ohne Kommata verfasst, während ein auktorialer Erzähler zwischendurch kurze Erklärungen in Standard-Orthographie einfügt (wie z.B. das obige Zitat). Diese äußerliche Leseoptik und -technik ist anfangs irritierend, nicht nur wegen der deutschen Kleinschreibung und kommalosen Sätze, sondern auch wenn man das Buch wieder zur Hand nimmt. Mehrmals ist es passiert, dass ich in die falsche Richtung der Schleife gelesen habe, obwohl ich das angebundene graue Stofflesezeichen benutzte, was mir aber einige weitere Handlungshinweise bescherte. Da die Geschichte in Mexiko, Kolumbien und Panama sowie die allgemeine Ausgangslage in der Schweiz und den Vereinigten Staaten spielt, sind die Dialoge oft auf Spanisch und Englisch. Eine intertextuelle, diskursive Sprachanalyse, die an Ludwig Wittensteins Theoreme erinnert, zieht sich wie eine Schleife durch den Text. Oft fasst der Protagonist die für ihn sinngebende Bedeutung von zwischenmenschlicher Kommunikation in indirekter Rede zusammen. Während seiner Reise liest und zitiert er von der spanischen Übersetzung von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (Los años de aprendizaje de Wilhelm Meister). Also ein Hinweis auf einen Bildungsroman, was dieses faszinierende Buch durchaus ist, bzw. es sind zwei Bücher, seltsam ineinander geschachtelt, ein spannender Abenteuer-Reise Roman und eine Sammlung von philosophischen, sprachwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen, sozio-historischen, naturwissenschaftlichen, mathematischen und informationswissenschaftlichen Essays, die immer auf ein Ziel gerichtet sind: Was ist Wirklichkeit und was ist Bewusstsein, auch als sogenannte “doble-yo routine,” indem, “um sich selbst steuern zu können, muss das verdoppelte ‚selbst’ ja in jedem augenblick seine aktuellen beziehungen zu den objekten mit einer reihe von möglichen beziehungen vergleichen” (310). Die grundlegende Frage (was ist Wirklichkeit und Cyber Space?) ziehlt auf die Evolution der zu erkennenden Begriffsinhalte hin, wie die Sprache damit umgeht, aber die Semantik wird nie per se erwähnt. Die Folge der komplexen und oft komplizierten wissenschaftlichen oder para-wissenschaftlichen Abhandlungen sind narrativistisch geschickt, verzwickt und verschlungen in die Handlung eingebaut, d.h. der Leser/die Leserin muss sich da durchkämpfen bis man zur Fortsetzung der spannenden Reise gelangt. Man spürt immer, wie der Autor die Geschichte und den Leser/die Leserin kontrolliert, indem er wiederkehrend vorgreift, manchmal nur einen Satz einfügt um die Spannung anzukurbeln, oder er lässt Erinnerungsbilder und Rückblenden an ganz unerwarteten Stellen aufblitzen. Im ersten, rechts-buchlangen Kapitel erfahren wir nur Buchstücke vom Leben des Protagonisten, einem Schweizer, der seit fünf Jahren am M.I.T. (Massachusetts Institute of Technology) an einem Roboter-Forschungsprojekt mitarbeitet. Der Name Flor Marina taucht ständig auf, schon auf der fünften Leseseite, ohne dass man weiß, wer diese Frau ist, deren profunde Ansichten und Lebensausschnitte aber ausführlich beschrieben werden. Der Autor manipuliert die Narrative stets mit einem “input gap,” was nämlich auch Frauen im Leben Dörflingers bedeuten. “Ja, sowie ich darüber nachdachte, musste ich zugeben dass die gegenwart einer frau nur die funktion hatte so etwas wie eine lücke in meiner wahrnehmung zu füllen, einen input gap schliessen” (240). Erst auf Seite 242 erfahren wir, wie er Flor Marina in Kolumbien kennengelernt hat. Nun beginnt die endlose Schleife (S. 249) in der Beziehungsnarrative, obwohl der Begriff Schleife zuerst zur Beschreibung der Busroute durch die Stadt bis der Bus gefüllt ist, gebraucht wird. Aber die Schleife beginnt schon früher im Auto von Dörflinger in Cambridge, im Staate Massachusetts, und führt nicht nach Texas zum Elternhaus seiner Freundin Lilith wie geplant, sondern nach Mexiko zu seinem Schweizer Freund Guido, dann mit ihm und seiner Tochter auch auf die Galapágos und dann nach Kolumbien und von dort zu Fuß mit Flor Marina durch den Dschungel nach Panama, natürlich nicht linear, sondern intermittierend ins Note Book geschrieben. Texttypisch ist diese Narrative ein klassisches Beispiel von “stream of consciousness,” gepaart mit existentiellem, innerem Konflikt, rückblickend von der jeweils aktuellen, verzwickten Lage des Protagonisten. Er notiert auch viele Sinneswahrnehmungen von der Natur, der Umgebung, den Slums und den Menschen, die mit großer Sprachgewalt zu einem farbenvollen Bilderteppich gewoben werden. Alle Orte sind real und wenn man sie nicht kennt oder nichts darüber weiß, kann man sie zusätzlich auf dem Internet besuchen und wir erhalten die reale Bestätigung, dass der Protagonist wirklich da war, kein Ort, kein Museum, kein Park, keine Straße ist erfunden. Vieles zur wahrhaftigen Geschichte und Politik—aber was ist Geschichte und Politik anderes als was darüber geschrieben wird?—erfahren wir von den Menschen mit denen Dörflinger auf seiner Reise spricht und in indirekter Rede von Flor Marina, sowie auch langsam mehr und mehr zu ihrer Biographie als Guerilla und später politische Sozialarbeiterin. Nach dem “intercourse” in der Hängematte im Dschungel beginnt sich die Beziehungs-Narrative langsam ins Groteske zu steigern, bis hin zum Mord und grausigen Leichenentsorgung. Als der Schuss losging, notierte ich am Rande der Seite, “woher hat Dörflinger die Waffe?“, die er doch erst nach der Tat im Haus des ermordeten Freundes von Flor Marina geholt hatte, wie eine Schleife schon zuvor offenbarte. Solche faszinierenden Erinnerungs-Schleifen legt der Autor immer wieder zum Lesestraucheln.

Die Kern-Narrative kann essentiell als eine Homo faber Geschichte interpretiert werden. Der unbewusste Inzest als narrativen Wendepunkt bezieht sich aber “wahrscheinlich” auf Bruder und Schwester, Dörlinger und Flor Marina, nicht auf Vater und Tochter. Die Wahrheit kann nicht vom Vater des Protagonisten bestätigt werden, da er Minuten vor dem Treffen mit dem aufgebrachten Sohn nach einer Herzoperation in Zürich stirbt. Mit nur einem Foto als zweifelhaftem Beweis fliegt er gleich wieder nach Panama, aber von der vermeinten Mutter und Tochter keine Spur mehr. Im Grunde genommen hätte Dörflinger noch Blut von seinem Vater und ein Haar oder Hautzellen von Flor Marina in seinen Sachen zu einer DNA-Analyse suchen können, aber wie so oft fallen ihm rein logische, mechanische oder physikalische Möglichkeiten erst später ein, weil seine Gedanken mit der Niederschrift eines philosophischen oder mathematischen Phänomens in Anspruch genommen werden.

Die Seltsame Schleife ist ein komplexer, geschickt konstruierter Roman, der viele Textsorten mischt; viel reicher, tiefer und reflektierter als Max Frischs Homo Faber. Die komplexe Narrative und der Schreibstil Niederhausers kann sich durchaus mit den ganz “Großen” der Weltliteratur messen; Gabriel Garcia Márquez (vielleicht sein kolumbianisches Vorbild), Joseph Conrad, Philip Roth, James Joyce, Virginia Woolf und vor allem mit Mary Godwin Shelleys History of a Six Weeks Tour (1817), ein gemeinsames Tagebuch mit Percy Shelley über ihre ausbrechende, gemeinsame Reise durch Frankreich im Jahr 1814. Der Text ist ebenfalls eine Reise-Liebesgeschichte, in der aber vorwiegend die Revolution und der Krieg mit einem politischen, philosophischen Idealismus beschrieben wird, genau wie die Seltsame Schleife die politischen und sozio-ökonomischen Folgen der Revolution in Kolumbien und Südamerika behandelt.

Rolf Niederhauser spielt sprachlich-souverän mit den Werkzeugen der vernetzten, digitalen, programmierenden, medialen Menschen, die aber trotzdem die Globalisierung negativ erfahren, weil sie immer wieder an Grenzen und Differenzen von Emotionen und sozialem Benehmen stoßen. Die klassischen Klischees und Stereotypen über Schweiz/USA/Mittel- und Süd-Amerika haben ebenso einen Platz wie der Versuch sie zu durchschauen und zu dekonstruieren. Beim Schreiben des Romans hat Niederhauser seine mathematischen, naturwissenschaftlichen, psychologischen und philosophischen Recherchen in die Narrative aufgenommen, ein Grund warum dieses Buch eine so lange Gestationsperiode brauchte, zwanzig Jahre seit seinem letzten Buch. Die Exkurse Niederhausers erinnern sehr an die Philosophie des Mathematikers Bertrand Russel (1872-1970), der anfangs alle Realität als ein Produkt des Bewusstseins sieht, später aber behauptet, dass die Außenwelt unabhängig von Erfahrungen und Bewusstsein existiert, also dass Erkenntnis nur empirisch von Sinneserfahrungen der Außenwelt (Our Knowledge of the External World (1914) möglich ist. Die Seltsame Schleife bereichert die engagiert-unterhaltende Schweizer Literatur außerordentlich!

Margrit Zinggeler

 

Ernest Kuczynsky (Hg.), Im Dialog mit der Wirklichkeit. Annäherungen an Leben und Werk von Jürgen Fuchs (Halle(Saale): Mitteldeutscher Verlag GmbH, 2014). Diese von dem jungen polnischen Germanisten Ernest Kuczynsky herausgegebene Anthologie zum literarischen Werk, mutigen Leben und politischen Wirken des Autors, Psychologen und Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs erschien mit Unterstützung der Heinrich Böll Stiftung 15 Jahre nach seinem Tod. Es ist neben der von Ulrich Scheer im Jahre 2007 veröffentlichten Biografie Jürgen Fuchs. Ein literarischer Weg in die Opposition. Inhaftiert in Hohenschönhausen ein notwendiges Buch. Das gilt besonders für die jüngere Generation, die kaum noch Erinnerungen an die Zeit hat, in der die Stimme von Jürgen Fuchs von großer Bedeutung für alle Menschen in der DDR war, die eine Umgestaltung des kleineren deutschen Teilstaates, den Fall der Berliner Mauer und letztlich auch die Vereinigung Deutschlands wollten.

Im Dialog mit der Wirklichkeit ist seinem Andenken und Vermächtnis gewidmet. Es ist ein lesenswertes und facettenreiches Buch, geschrieben von fast vierzig Autoren, deren Leben von seinem schriftstellerischen Werk und seinem mutigen Kampf gegen die Diktatur auf die eine oder andere Art tief berührt und verschiedentlich auch verändert wurde. Die Beiträge dieser Anthologie sind weitgehend kenntnisreich und gut geschrieben. Ernest Kuczynsky hat sie drei Hauptteilen zugeordnet. Im 1. Teil geht es um Jürgen Fuchs als dem “Kämpfer gegen das Vergessen”, der 2. Teil analysiert die “engagierte Literatur der Erinnerung” und der 3. Jürgen Fuchs’ “biographische Stationen zwischen Ost und West”.

Aus verschiedenen Quellen und Perspektiven erfährt man, dass Jürgen Fuchs ein feinfühliger, emphatischer und mutiger Mensch war. Schon als Oberschüler schrieb er unter dem Einfluss des Lyrikers Reiner Kunze, der ihm zu einem älteren Freund und Förderer wurde, ddr-kritische Gedichte. Ob in Reichenbach, seinem Geburtsort oder später in Jena und Berlin bildeten sich um ihn politische Freundeskreise, oder er schloss sich solchen an, wie z. B. in Berlin dem um Wolf Biermann und Robert Havemann, die Veränderungen in der DDR vorantreiben wollten, wie sie sich schon während seiner Schulzeit im “Prager Frühling” 1968 andeuteten, aber letztlich von den Panzern des Warschauer Paktes niedergewalzt wurden.

So sensibel und mutig er in allem auf die entwürdigenden Unterdrückungsmechanismen in der DDR reagierte, sagte er sich nie von der Vision eines demokratischen Sozialismus los, da er, der sich auch als Christ verstand (97), wie er später Esther Dischereit anvertraute, diesen für die den Menschen angemessene Gesellschaftsform hielt.

Trotz Haft, schwerster psychologischer Zersetzungs- und Mordversuche durch die Stasi, waren sein Festhalten an den Ideen von Freiheit und Demokratie, seine Integrität und seine Standhaftigkeit kennzeichnend für diesen aufrechten Vogtländer; Doris Liebermann z. B. hat das äußerst eindringlich in ihrem Interview “Landschaften der Lüge — Gespräch mit Jürgen Fuchs” zum Ausdruck gebracht. Einen NPD-Wähler, wie ihm das Vernehmer Nr. V, Peter Grünstein, Sohn des damaligen Stellvertretenden Innenministers der DDR, im Stasiknast Hohenschönhausen prophezeit hatte, hat man aus ihm nicht machen können. (Fuchs, Vernehmungsprotokolle, Berlin: Rowohlt Verlag 1978)

Auch war es ihm gerade wegen der Bedrängungen durch die staatlichen Institutionen der DDR und seiner in dieser Situation notwendigen Härte sich selbst gegenüber an seinem Humor fest zu halten, der ihm ein unabdingbarer Bestandteil der menschlichen Freiheit war, wie Adam Zagajewski schrieb. (49) Auch Roland Jahn erinnerte sich: “Wenn ich an Jürgen denke, fällt mir als erstes sein Lächeln ein.” (58)

Sein Lächeln und sein Humor wurde nicht allen offenbar. So betitelte Helga Hirsch ihren Beitrag zur Anthologie “Der Unnachsichtige unter den Aufrechten”, eine Beurteilung, die möglichweise auch andere unterschrieben hätten. Seine nahen und fernen Freunde kamen, wie sich in den Beiträgen zeigt, aus verschiedenen politischen Richtungen und gefühlsmäßigen Dispositionen. Gut jedoch, dass sie alle zu Worte kamen.

Ein sich rührend kümmernder Freund für Hilfesuchende und Hilfe Benötigende war er im Osten und blieb er auch nach seinem und dem “Verkauf”, wie er es damals empfand, seiner kleinen Familie in den Westen allemal — Hans Joachim Schädlich z. B., der nach ihm in den Westen kam, nannte ihn, auf sich bezogen, einen Samariter (120). Dass er und seine Frau Lilo den so genannten Problemkindern im Moabiter Projekt “Waldstraße” ein zweites Zuhause schufen, wie Christa Moog in ihren Erinnerungen schreibt, bestätigt Schädlichs dankbares Urteil in einem anderen Kontext noch einmal. Die Wärme des Textes von Utz Rachowski, dem er schon ein Reichbach ein Freund wurde, spricht ein Übriges.

Es ist schwer möglich, in der Rezension einer Anthologie allen Beiträgen gerecht zu werden. Doch sei wenigstens noch auf zwei feinfühlige und sich einfühlende Beiträge zu seinem literarischem Werk verwiesen, die von Autoren geschrieben wurden, die selbst mit den “Segnungen” der Diktatur sehr vertraut sind, nämlich Herta Müllers “Blick der kleinen Bahnstationen” und Helmuth Frauendorfers, “‘Versteht auch mein Schweigen’ Lyrik des sparsamen Wortes”, die unabdingbar sind, will man diesen manchmal übersehenen Aspekt seines Wirkens in seiner ganzen Tiefe verstehen — Es ist eine bleibende Schande, dass sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung nicht dazu durchringen konnte, ihm für sein Gesamtwerk den Georg-Büchner-Preis zu verleihen.

Es ist außerordentlich schade, dass Jürgen Fuchs diese von Mitstreitern gegen die Diktatur, von Freunden, Autoren, Literaturwissenschaftlern und Journalisten geschriebene Anthologie nicht vor seinem frühen, möglicherweise von den Todesstrahlen der Staatssicherheit verursachten, Tod in der Hand halten konnte. Die hier zum Ausdruck kommende Achtung und hohe Wertschätzung seines bedeutenden schriftstellerischen Werkes, mutigen Lebens und politischen Wirkens hätten ihn trotz der ihm eigenen Bescheidenheit ganz sicher gefreut.

Wolfgang Müller

 

Lutz Seiler, Kruso (Berlin: Suhrkamp, 2014). Im Jahre 2014 veröffentlichte Lutz Seiler, der bisher primär als Autor von Lyrik und Kurzprosa bekannt war, seinen ersten Roman, Kruso. Für diesen Debütroman erhielt er den Deutschen Buchpreis. Der 1963 in Gera geborene, in der DDR sozialisierte Autor, der weitgehend in seinen Werken aus dem Erfahrungsbereich seiner Sozialisierung schöpft, schien der passende Träger dieses Preises zu sein, denn im Herbst 2014 jährte sich das Ereignis des Mauerfalls zum 25. Mal. Man denkt zunächst an einen Wende-Roman, und in der Tat ist die DDR als Folie in diesem Roman durchgehend präsent. Die Handlung endet auch mit der Wende von 1989 und erzählt doch eine ganz andere Geschichte. Es geht um das Konzept einer Gegengesellschaft, deren Schauplatz die Insel Hiddensee ist. Hiddensee wird als letzter Ort der Freiheit erlebt: “Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten.” In einem Interview äußerte sich Seiler über die nur 50 Km von der dänischen Insel Møn entfernte Insel und deren Stellenwert im Denken von Aussteigern, Abenteurern, Abtrünnigen, Antragstellern und “Flüchtlingen in spe”, kurz von all jenen “Schiffbrüchigen”, die aus dem reglementierenden Rahmen der DDR herausfielen und sich dem politischen Druck entziehen wollten: “ Die Insel war der Sehnsuchtsort überhaupt im Osten. Für die allermeisten. Es war die einzige Insel, der Gipfel an Exotik, unbeschädigte Landschaft, am äußersten Rand der Republik. Und dann diese Freiheitserfahrung, … eine Freiheitsmagie, eine Freiheitsstrahlung.” Damit wird Hiddensee zu einer Art “Szene”, in der Konzepte individueller, existenzieller und politischer Freiheit unter gesellschaftlichen Zwängen durchgespielt und kritisch durchleuchtet werden. Kruso ist sowohl Abenteuer- als auch Bildungsroman, der um eine Männerfreundschaft kreist. Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, der halb russischer und halb deutscher Herkunft ist, steht im Zentrum des alternativen Freiheitsbundes. Seine Philosophie schöpft aus dem Trauma des Verlustes seiner Schwester, die bei einem Fluchtversuch im Wasser an der Küste Hiddensees verschwunden ist. Dieser Robinson findet in Gestalt des ähnlich traumatisierten Germanistikstudenten Edgar Bendler seinen Freitag, denn auch dieser hat bei einem tödlichen Unfall seine Freundin verloren. Wie ein roter Faden zieht sich die Erinnerung an den Verlust durch die Handlung, reflektiert im häufigen Zitieren des Traklschen Schwester-Gedichts “Sonja”. Der Verweis auf Daniel Defoes Robinsonade für diese Männerfreundschaft ist jedoch nur oberflächlicher Art. Die starke Verbundenheit von Mentor und Schüler fußt zwar auf einem Verlusterlebnis und auf der gemeinsamen Liebe zur Poesie wilder gequälter Seelen wie Trakl, Rimbaud und Artaud: “Poesie war Widerstand.” (217) Ist die Insel für Edgar jedoch ein Ort, an dem er realitätsentbunden und willenlos dahintreibt – “Ich möchte einen Platz auf der Welt, der mich aus allem heraushält” -, so ist sie für Kruso der Schauplatz der Entgrenzung des Ich, an dem er missionarisch seiner ganz aufs Innere gerichteten Freiheitssehnsucht Ausdruck gibt. Er will Wagemutige von ihren Fluchtplänen abhalten, da er den Westen als die falsche Verheißung von Freiheit sieht. Stattdessen weist er auf ein entgrenzendes verinnerlichtes Hiddensee: “Das ist Hiddensee, verstehst du, hidden – versteckt? Die Insel ist das Versteck, die Insel ist der Ort, wo sie zu sich kommen, wo man zurückkehrt zu sich selbst, das heißt zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau es sagt. Niemand muss fliehen, niemand ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung. Eine Erfahrung . Eine Erfahrung, die es ihnen erlaubt, zurückzukehren, als Erleuchtete; ergo: “Die Freiheit ist die Wurzel, die jeder in sich trägt.” In einer Untergrundatmosphäre von Pathos, freiem Sex, Partys, Drogen und literarischen Ritualen ist die Betriebsgaststätte “Klausner” die Stätte der Krusoschen Verkündigungen. Sie, die zum Zufluchtsort der “Schiffbrüchigen” wird, gleicht einem “trunkenen Schiff”, das frei und ohne Zwänge dahintreibt. Einführung in die alternative Gegenwelt der Erleuchteten bedeutet für Edgar Arbeit als Tellerwäscher im Abwaschraum des “Klausners”. Hier versammeln sich gesinnungsähnliche Saisonarbeiter, zumeist Intellektuelle oder Künstler, die aus widerlichen Details und üblen Gerüchen Dichtung machen. In einer Mischung von mythisch Surrealem und extremem Realismus beschwört Seiler die von verstopftem Abfluss, Schmutz, faulenden, glitschigen Speiseresten und faulendem Wasser beherrschte Arbeitswelt der Tellerwäscher. Verfall nimmt die Gestalt eines Lurches an, ein hinter Abflussgittern sich verbergendes mythisches Ungeheuer. In diese Atmosphäre des Verfalls tönen die Nachrichten aus einem alten Röhrenradio, genannt Viola, die von der Flucht von DDR-Bürgern in bundesdeutsche Botschaften berichten und letztlich vom Fall der Mauer. Auflösung und Verfall im Abwaschraum korrespondiert mit dem Ende eines Staates. Die Erleuchteten verlassen einer nach dem anderen das sinkende Schiff, nur Kruso und Edgar bleiben. Der todkranke Kruso nimmt Edgar das Versprechen ab, den vielen auf der Flucht Ertrunkenen nachzuspüren, und in einem Epilog begibt sich der Autor zwei Jahrzehnte später in die zuständigen dänischen Archive und findet Spuren. Der Roman berichtet, scheinbar nebensächlich, von der Auflösung der DDR und vom Ende einer Utopie, die auf Selbsttäuschung fußt.   Seiler schafft eine verwunschen wirkende Extrawelt des Widerstands. Der Roman zeichnet sich durch Intensität und Genauigkeit der Sprache aus. Mythisch überhöhte Details einer naturalistisch erlebten Realität fungieren im Kreis der Erleuchteten als Komponenten eines Kults der Hässlichkeit. Kruso ist k/ein Wenderoman. Die kultisch erlebte Zwischenwelt lässt in einem offenen Assoziationsraum vieles in der Schwebe. Enträtselungen werden dem Leser überlassen. Kruso ist ein entzauberndes und sprachlich bezauberndes Werk, ein Lesevergnügen.

Christine Cosentino

 

Susanne Schädlich, Herr Hübner und die sibirische Nachtigall. Roman. (München: Droemer, 2014) Nach zwei stark persönlich geprägten Büchern – “Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich“ (2009) und “Westwärts, so weit es nur geht. Eine Landsuche“ (2011) – legt die Autorin nun im gleichen Verlag einen Roman vor, in dem sie zwei exemplarische Lebensläufe vor dem ebenso widerwärtigen wie leidvollen Hintergrund kommunistischer Menschenverachtung zu Zeiten der Sowjetunion und der ‘Deutschen Demokratischen Republik‘ nachzeichnet. Dietrich Hübner, ein junger, von Freiheit, Demokratie und Humanismus träumender Idealist und die politisch nicht interessierte Mara Jakisch, eine bekannte Operettensängerin und Schauspielerin der dreißiger Jahre, geraten 1948 in die Fänge der politischen Polizei im Bereich der sowjetischen Besatzungsmacht. Beiden wird unterstellt, für die Westmächte zu spionieren. Im Falle Hübners genügt es, daß der zu diesem Zeitpunkt 21-jährige in der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) der sowjetischen Zone tätig ist. Im Falle der Mittvierzigerin Mara Jakisch macht sie ein Besuch bei einer alten Bekannten in Berlin, bei der auch Amerikaner verkehrten, für den russischen Geheimdienst verdächtig. Beide treffen zufällig für kurze Zeit im Dresdener Gefängnis zusammen, wo sie sich als Zellennachbarn durch Klopfzeichen verständigen können. Einmal hatte Hübner sie “auf der Bühne gesehen: … Ein Engelsgesicht“, jetzt waren sie jeglicher Willkür ausgesetzte Leidensgenossen. Zu einer wirklichen Begegnung zwischen ihnen kann der bloße Klopf-Kontakt naturgemäß nicht führen. Ohnehin trennen sich ihre Wege wieder. Beide werden zu 25 Jahren Haft verurteilt. 1950 wird Hübner als “Strafgefangener 290 B“ nach Bautzen verlegt, später nach Brandenburg-Görden. Mara bleibt im russischen Gewahrsam; sie kommt ins sibirische Straflager. Beide sehen sich um einen wesentlichen Teil ihres Lebens betrogen. Beide haben fortwährend den Tod vor Augen. Aber sie schreiben emotionale, lebensbejahende Gedichte für sich auf. Im Roman wird beider Leidensweg in hart gereihter, parallel gefügter Faktenfolge wiedergegeben, die deutlich spürbar auf gründlicher Quellenkenntnis basiert. Der Leser sieht: GPU und Stasi können sich in Sachen Gemeinheit, Perfidie, Brutalität und Perversion das Wasser reichen. Andeutend und mehr noch im mitschwingenden Subtext schildert Susanne Schädlich ebenso den mühsam geführten Kampf der hilflos Ausgelieferten, sich ihrer schlimmen Situation zum Trotz über die Jahre hin ihr Menschsein unbedingt zu erhalten. Hierdurch wird die genau dokumentierte Häftlingschronik zugleich zum tröstlichen Nachweis bewahrter Menschenwürde. Hübners widerständige Kraft, keine Kompromisse einzugehen, und der Gesang der “sibirischen Nachtigall“ werden zu Zeichen menschenmöglicher Bewährung unter qualvollen Leiden und verbrecherischen Schikanen. An einer Schlüsselstelle des Romans lesen wir das Fazit: “Man muß sie geschmeckt haben, diese Jahre“. Susanne Schädlich ist es jedenfalls gelungen, das “Schmecken dieser Jahre“ zwingend an die Leser weiterzugeben. Insgeheim hat sie in souveräner Erzählbewegung zwischen den Gattungen Roman, Bericht und Chronik anrührende humane Beweise für uns festgeschrieben. Martin Lüdke bezeichnete einmal ihr Buch “Immer wieder Dezember“ sehr zu Recht als ein “Lehrbuch deutscher Nachkriegsgeschichte“. Mit ihrem neuen Roman hat sie aus einem notwendigen ‘Lehrbuch kommunistischer Menschenverachtung‘ im vorgeblich ‘real existierenden Sozialismus‘ wie nebenbei – und das bezeugt ihr literarisches Können – eine wegweisende Ermutigung zum Weiterleben in Freiheit gemacht.

Theo Buck

 

Uwe-Karsten Heye, Die Benjamins. Eine deutsche Familie (Berlin: Aufbau Verlag, 2014) “Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren, daß es ‚so weiter’ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.” (Walter Benjamin, Zentralpark. In Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. I, 2, S. 683.   Liest man das Buch Die Benjamins – eine deutsche Familie, sind diese Sätze aus der Feder des deutschen Philosophen und Literaturkritikers Walter Benjamin nicht nur mehr geschichtsphilosophisch zu verstehen. Sie klingen fast prophetisch schicksalhaft und scheinen untrennbar mit den Lebenswegen der Benjamins verbunden, der Geschwister Walter, Dora und Georg, und dessen Ehefrau Hilde Benjamin, geborene Lange. Anhand bisher unbekannten Materials (Briefe, Tagebuchnotizen und andere Aufzeichnungen) aus dem Nachlass Hilde Benjamins, das deren Schwiegertochter Ursula Benjamin Heye anvertraut hat, versucht der Autor ein Gesamtbild der prominenten Familie zu zeichnen. Von deutschen Leben ist also zu erzählen, von Biografien mit Folgen und Irrtümern ist hier zu berichten. Sie wollten eine gerechtere und humanere Welt als die, die sie vorfanden. Sie waren auf der politischen Linken zu finden und zeigten sich abgestoßen von der rassistischen Menschenfeindlichkeit der Nazis. Geboren um die Wende zum 20. Jahrhundert, wollten sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, das geprägt ist von Herkunft und späterer Überzeugung. Eine Familiengeschichte. (Heye, 35″. Zunächst also Walter, Georg und Dora, Kinder wohlhabender, gebildeter, jüdischer Eltern. Sie wachsen in einem assimilierten Milieu auf. Der erste Weltkrieg ist der Bruch mit der Welt, wie sie war, der durch eine ganze Generation geht. Dieser Bruch erfasst auch die Geschwister. Im Chaos der Weimarer Republik erwacht ihr politisches Bewusstsein. Sie schwärmen von einer Gesellschaft ohne Unterdrückung und für den Kommunismus. Besonders Georg, der Mitglied der KPD ist. Als Kinderarzt engagiert er sich für die sozial Schwachen. Ebenso seine Schwester Dora; sie ist Sozialforscherin. Walter findet durch die lettische Schauspielerin Asja Lacis zum Marxismus. Er reist nach Moskau, befreundet sich mit Brecht, kennt Adorno, Horkheimer und arbeitet für die Zeitschrift für Sozialforschung. Da ist er schon vor den Nazis nach Paris geflüchtet. 1940 nimmt er sich in Frankreich das Leben. ”eine existentielle Entscheidung“, wie er notierte. Dora, auch sie war aus Deutschland geflohen, stirbt 1946 im Schweizer Exil. Hilde lernt Georg Benjamin in den 1920ern kennen. Sie verlieben sich, heiraten. Hilde Benjamin, schon 1927 hat sie eine eigene Anwaltskanzlei in Berlin, ist wie ihr Mann in der KPD. Am ausführlichsten widmet sich Heye ihr, die später als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR (von 1949 -1953) und bis 1976 Justizministerin – berühmt und berüchtigt – wurde. 1933 wird ihr Mann als Jude und Kommunist in Schutzhaft genommen, kommt ins KZ Sonnenburg. Hilde Benjamin erhält Berufsverbot. Die Angst um den Sohn Mischa, der nach den Nürnberger Gesetzen “Halbjude” ist, die Angst um den geliebten Mann, der ihr nicht nur politisch ein Vorbild ist, sondern wesensverwandt, bestimmen sie. Georg kommt noch einmal frei. 1936 die erneute Verhaftung. Dann Zuchthaus Brandenburg, von dort ins KZ Mauthausen, wo er stirbt. Hilde Benjamin nimmt ihren Mädchennamen Lange an, um den Sohn zu schützen. Beide überleben. Heye sucht eine Erklärung dafür, wie aus der Tochter aus liberalem Elternhaus die fanatische “rote Hilde” wurde. Als “rote Hilde vom Wedding” war sie schon in den 20er Jahren bekannt, die Bezeichnung war keine Erfindung der Adenauerschen „BRD“, wie Heye suggeriert. Den Begriff Unrechtsstaat für die DDR setzt Heye stets in Gänsefüßchen, er lobt das von Hilde Benjamin mitgestaltete DDR-Familienrecht, das im Westen seinesgleichen gesucht hätte und „nach der Wiedervereinigung im Westen beerdigt wurde“ und kommentiert: Der Blick auf den Kern der DDR-Bildungspolitik – wenn man die ideologisch begründete Semantik rund um die ’Arbeiter- und Bauernfakultäten’ weglässt – könnte durchaus anregend sein. (Heye, 220) In der frühen DDR saß Hilde Benjamin Naziverbrechern gegenüber vor Gericht, verurteilte dann gnadenlos so genannte Feinde des SED-Regimes. Sie fällte Todesurteile. Wie ist der Hilde Benjamin dieser Zeit näher zu kommen? Wie zu verstehen, was sie angetrieben hat, was war ihre Prägung, was hat das blutige 20. Jahrhundert aus ihr gemacht? (Heye, 115) Oft kommen die Reflexionen des Autors mildernd daher, hinterlassen einen merkwürdigen Beigeschmack: Hilde Benjamin… […]wusste natürlich, dass ihre Prozesse und deren propagandistische Wirkung auch die Funktion hatten, einer Bevölkerung klarzumachen, dass es für jeden Einzelnen vorteilhaft war, den SED-Staat zu unterstützen.(Heye, 204) Es war durchaus ”vorteilhaft“ – schnell geriet man ins Visier der Staatssicherheit und nicht selten ins Gefängnis. Liest man Protokolle von Prozessen, in denen Hilde Benjamin den Vorsitz hatte, erinnert ihr Duktus an den Nazirichter Roland Freisler, dessen Unterschrift unter dem Diktat ihres Berufsverbots von 1933 stand. Gut beraten wäre der Autor gewesen, die Biografie nicht als Mittel zum Zweck eigener Reflexionen zu benutzen. Die seitenlangen Ausschweifungen über seine politischen Ansichten wirken störend, ja: aufdringlich, und haben in einer Biografie nichts zu suchen. Denn immer dann, wenn Heye sich ausschließlich den Benjamins widmet, in die Zeit eintaucht, aus Briefen und Aufzeichnungen schöpft, ist das Buch stark. Schön die Stellen, an denen sich der Autor in die Protagonisten einfühlt, so in Walter Benjamin, in der Nacht vom 26. auf dem 27. September 1940, für Heye eine Chiffre für den Lebenskampf: Nachtkühle. Ein kurzer Hang. Seine Schritte hinauf und hinunter sind verhalten. Er weiß, dass sein Herz mitmachen muss. Er atmet schwer, fröstelt und hofft, dass die Bewegung gegen die Abendkühle hilft.(Heye, 83) Oder wenn er beschreibt, wie Hilde Benjamin ihren Mann konspirativ beim Zwangsarbeitseinsatz für Gleisarbeiten der Reichsbahn aufsucht. Hilde Benjamin lief die Böschung hinunter, umging die Baubude, in der sie Aufsichtspersonal vermutete, und durchquerte das Waldstück so, dass sie wieder auf der Höhe des Bahnsteigs und der Baustelle herauskam. Zeitgleich hatte sich Georg in Bewegung gesetzt.(Heye, 163) Manchmal jedoch versteigt sich Heye, zum Beispiel wenn er auf den Spuren Georgs das KZ Mauthausen besucht. An diesem Tag ist man plötzlich eingereiht und wird zu einer der Elendsgestalten, die halb verhungert vor mehr als siebzig Jahren aus den Eisenbahnwaggons am Bahnhof von Mauthausen kletterten […] (Heye, 145) Die Vergangenheit erklärt vielleicht das Handeln, auch das einer Hilde Benjamin. Eine Relativierung ihres Handelns und der SED-Diktatur, wie die Biografie sie nahelegt, verbietet sich. Die Linie verläuft nicht zwischen schlimm und schlimmer, sondern zwischen Diktatur und Demokratie, wie Der Historiker Hubertus Knabe, Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, kürzlich sagte. Hilde Benjamin hat nach 1945 keine demokratischen, sondern diktatorische Konsequenzen gezogen. Wie hatte Walter Benjamin geschrieben? “Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren, daß es ‚so weiter’ geht, ist die Katastrophe.”

Susanne Schädlich

 

Cornelia Schleime, Weit fort. Roman (Hamburg: Hoffmann und Campe, 2008; Taschenbuchausgabe München: Goldmann, 2010). Im Jahre 2008 veröffentlichte Cornelia Schleime, die als Malerin bekannt ist, ihren ersten Roman Weit fort. Der Roman ist autobiografisch grundiert. Schleime, 1953 in Ostberlin geboren, studierte von 1975-1980 Grafik und Malerei in Dresden. Hier lernte sie den Dichter und Musiker Sascha Anderson kennen, mit dem sie nach Ostberlin zog, wo sie in die künstlerisch oppositionelle Szene am Prenzlauer Berg eingebunden war. Schleime hatte als nichtstaatskonforme Künstlerin seit 1981 Ausstellungsverbot und wurde von der Stasi permanent bespitzelt. Ihrem vierten Ausreiseantrag wurde stattgegeben, und 1984 reiste sie mit ihrem Sohn nach Westberlin aus. Nach dem Fall der Mauer nahm sie in ihre Akten Einsicht und musste feststellen, dass sie von ihrem besten Freund Sascha Anderson jahrelang bespitzelt worden war. Das Thema ihres Romans hakt hier ein. Es geht um Verrat, Schock und Trauma, und das im doppelten Sinne, denn per Partnersuche im Internet lernt sie wiederum einen Mann kennen, von dem sie glaubt, dass er eine Stasi-Vergangenheit hat. Eine Künstlerin, die sich Clara nennt, die aber deutlich erkennbar ist als Cornelia Schleime, lernt einen Mann namens Ludwig kennen, der als Wettervorhersager bei einem süddeutschen Fernsehsender arbeitet. Er ist ebenfalls aus Ostberlin, spricht aber wenig über seine Vergangenheit. Die beiden verlieben sich, korrespondieren wochenlang, dann kommt es zu zwei Begegnungen, bei denen sich die Liebe zu steigern scheint. Doch etwas stimmt nicht. In Ludwigs Erzählungen bei einem Besuch im früheren Ostberliner Nobelviertel Hessenwinkel, wo er wohnte, gibt es auffallende Leerstellen.  Als sie ihm einen Dokumentarfilm über den Verrat und die Enttarnung des Spitzels aus Freundestagen zeigt, weicht Ludwig aus, schweigt, und verschwindet dann völlig aus ihrem Leben. Schließlich ruft sie ihn an und ringt ihm die Erklärung ab: “Es gibt solche Komplikationen, aber ich kann darüber nicht sprechen [ …] Es gibt bei mir so etwas, das ist so kompliziert. Es gibt Komplikationen.” Hat die Begegnung mit dem Stasi-Opfer Clara etwas in ihm freigesetzt? War Ludwig selbst ein Spitzel, der die Enttarnung fürchtet? Leidet Clara an Verfolgungswahn? Ist sie Opfer ihres Misstrauens den Menschen gegenüber? Der Roman gibt keine Antwort. Ludwigs Identität bleibt ein Rätsel. Die vom Titel suggeriert Ferne, Weit fort, ist gleichzusetzten mit unmittelbarer Nähe, denn das Destruktive des Stasi-Apparates wirkt fort: Misstrauen, Verdacht, Angst vergiften die Gefühle der Protagonistin und das Geschehen um sie herum auch weiterhin. Der Band ist schlank, als habe es der Autorin die Sprache verschlagen, als gäbe es nichts mehr zu sagen. Schleime ist Malerin, und auf dem Umschlag des Buches befindet sich das Abbild eines ihrer Frauenporträts: eine junge Frau mit einem Blumenkranz im Haar und einer Blume im Mund blickt nachdenklich forschend in die Ferne. Schleime bedient sich in ihren Reflexionen eines metaphernreichen, malerisch “blumigen” Stils, was dem Roman nicht immer dienlich ist. Stilblüten und sprachliche Entgleisungen gibt es so einige.  Trotzdem ist er zu empfehlen, denn das Thema ist brisant und noch lange nicht abgeschlossen, zeigt es doch, wie die Zerstörungsmechanismen der Stasi ins Private übergreifen und wie seelische Erschütterungen wohl auf Lebenszeit fortwirken.

Christine Cosentino

 

Maja Beutler, Ich lebe schon lange heute: Texte 1973 bis 2013 (Oberhofen: Zytglogge, 2013) 390 Seiten.

Die Schweizer Schriftstellerin Maja Beutler ist 1989 weithin bekannt geworden als die Schöpferin der Doña Quichotte, die als Malerin gegen die Windmühlen der Schweizer Männerwelt in den Kampf zieht.  Die Erzählung gilt als eines der wichtigsten Anfänge weiblichen Schreibens in der Schweiz.  Im 2013 erschienenen Band Ich lebe schon lange heute legt die Autorin elf neue Erzählungen vor und dazu einige, die schon früher veröffentlicht wurden.  Unter den älteren, hier frisch publiziert, ist die wichtigste fraglos “Das Werk oder Doña Quichotte”. Die neuen Texte kreisen hauptsächlich um die Themen Familie, Kindheit und Tod. “Kinderszenen” über das Sterben eines kleinen Jungen, dem die Mutter noch den Begriff Gott zu erklären versucht (“Gott ist auch alles andere, alles, was wir nicht sagen.  Nur so hat Gott eine Möglichkeit”) beeindruckt mich am meisten; das philosophische Thema Sprachkrise wird hier angeschnitten.  Sehr aktuell in Hinsicht auf das Thema Migration finde ich “Traubengold” — die Geschichte eines Mannes, der, in der Schweiz geboren, Schweizer zu werden versucht; seine Eltern stammen aus Österreich und Italien, und er rackert sich ab, bis er es schafft am Ende. Poetisch verdichtet und zugleich mit Dokumenten in der Amtssprache versetzt, erzählt Maja Beutler von bürokratischen Scherereien und den Vorbehalten alteingesessener Schweizer diesem “Ausländer” gegenüber. Beutlers Texte in diesem Band sind thematisch in fünf Gruppen geordnet.  Die letzte Gruppe mit dem Titel “Politisches Fragespiel” enthält eine sehr informative Frageliste an alle Schweizer über den Zusammenhang zwischen der Schweizer Geschichte und der gegenwärtigen Politik, zu der auch das Sich-Fernhalten von der Europäischen Union gehört.  Der fünfseitige Text ist ein ideales Unterrichtsmaterial, falls Sie hier in Amerika “die Schweiz” unterrichten müssen! Den Band schließt ein Interview ab, das die Autorin dieser Rezension 2010 mit Maja Beutler geführt hat, “Don Quixote im Rock”. Es geht darin nicht nur, wie der Titel suggeriert, um Beutlers feministische Don Quichotte-Rezeption, sondern auch um Ostdeutschland.  Beutler war dort auf Reisen, vor und nach der Wende, und machte sich ihre Gedanken über das, was sie sah und hörte – ein erfrischend fremder, eben “schweizerischer” Blick auf das eigenartige Land DDR, der uns, die wir in den Erinnerungen zu nahe daran kleben, oft fehlt.

Gabriele Eckart

 

Uwe Tellkamp, Die Schwebebahn. Dresdner Erkundungen (Berlin: Insel Verlag, 2012).

Der 1968 in Dresden geborene Autor Uwe Tellkamp wendet sich auch in diesem Werk einem Sujet zu, das ihm zutiefst vertraut ist und das er bereits in seinem Monumentalroman Der Turm (2008) beschrieben hatte: den Dresdner Lokalitäten, der Architektur, den Attraktionen, darunter Schwebebahn und Standseilbahn. Tellkamps Titel bezieht sich auf die reale Schwebebahn, die den Stadtteil Loschwitz mit den Höhenlagen von Oberloschwitz verbindet. Der Turm des Maschinenhauses der letzten Station, der Bergstation, bietet dem Spaziergänger/Ich-Sprecher/Autor ein eindrucksvolles, blickerweiterndes Stadtpanorama. Um eine eher blickverengende Perspektive dagegen handelte es sich in Tellkamps (Elfenbein?)Turm – Roman, in dem gleich zu Anfang der Handlung die Hauptfigur Christian in der Dresdner Standseilbahn dem Stadtteil Weißer Hirsch zustrebt, in dem das Dresdner Bildungsbürgertum zu DDR-Zeiten seine abschottende Nische gefunden hatte. Zwei Blickrichtungen, zwei Perspektiven, zwei Versuche, mit Erinnerungen umzugehen und Vergangenes im Gegenwärtigen zu erkennen. In 33 Kapiteln, in denen Fotografien von Werner Lieberknecht eingestreut sind, erkundet der der Stadt zugewandte Flaneur der Schwebebahn “unterliegende Schichten, Verborgenes, der gegenwärtige Augenblick schiebt sich wie ein Prisma über Bruchstücke der Vergangenheit und ordnet sie zu vorläufigen Kaleidoskopen.” Er spürt, “dass eine Stadt durch ihr Lebendiges galt und Bedeutenderes umfasste als ein Ensemble von Gegenständen, Lokalitäten und mehr oder weniger charakteristisch zu einem Stil zusammengefügten Steinen. Eine Stadt – eine Summe der Augenblicke, die blieben, an die man sich erinnerte.” Es ist das Historische, das “stark beschwörende Magnetfeld” seiner Heimatstadt, das ihn im Bann hält. Und so spürt er, der als Kind und Jugendlicher noch die DDR und die sowjetische Besatzungspolitik erlebte, den Orten nach, die es nicht mehr gibt, die aber dennoch im Gedächtnis fortwirken. Tellkamp schreibt von wechselnder Perspektive. Er schlüpft in die Rolle eines zehn- oder elfjährigen Jungen, später dann spricht der Erwachsene. Das erste und letzte Kapitel der Dresdner Erkundungen blenden geschickt ineinander ein. Auf dem Dachboden lebt der Junge in eisiger Kälte eines erinnerten Winters unter den mit Landkarten beklebten Dachschrägen in einer kindlichen Phantasiewelt, die von fiktiven Kapitänen, Piratenschiffen, Schatzinseln und Räubern beherrscht ist. Jahre später betritt der nun über Vierzigjährige wiederum den Dachboden und gibt sich den Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend hin. Dresden entsteht noch einmal als DDR-Provinzhauptstadt, dann, nach der Wende von 1989, als “Dresden der Gegenwart, mit digitalen Benutzeroberflächen.” Es geht dem erkundenden Flaneur um den Versuch, in dieser Welt unvereinbarer Gegensätze das Atmosphärische aufzuspüren. Er schildert in der DDR Erbautes, dann wiederum sinniert er über Gebäude, die im Krieg zerstört wurden, wie die Frauenkirche, dann aber wieder aufgebaut wurden. Leitmotivisch winden sich durch die Erinnerungen Hinweise auf die Zerstörung der Stadt am 13. Februar 1945: “die Schatten des zugeschütteten Lebens, das mit einigen Zipfeln hier und dort noch aus den Planierungen ragt.” Tellkamp beschreibt Dinge und Schauplätze, die es nicht mehr gibt, die er aber als Kind oder aus den Erzählungen der Erwachsenen kannte. Er beschreibt Schauplätze wie den Kosmetiksalon Nofretete, eine Laufmaschen-Reparatur, das Evana Miederwarengeschäft und den Friseur-Salon Harand, in dem auch der 1957 in Dresden verstorbene General Paulus bedient wurde. Wiederholt taucht in den Erinnerungen der Name der Kalten Klawdia auf, einer vollbusigen Rotarmistin, die man am Eingang des Lazaretts der Roten Armee, eines früheren Sanatoriums, sehen konnte. Für den Jungen war sie eine Quelle erotischer Phantasien. Und – “ich gehe weiter, die Geschichten folgen mir” – vor dem inneren Auge erscheint vor einer geöffneten Balkontür ein im ersten Stock des Lazaretts wohnender sowjetischer Offizier, der Schallplatten mit Liedern von Hans Albers and Zarah Leander zuhört, bis er abrupt eine Platte mit russischer Volksmusik auflegt. Tellkamps Erkundungen sind durchdrungen von autobiografischen Verweisen auf Schulunterricht, Heirat, Medizinstudium, Armee, Künstlerfreundschaften, Galerie- und Museumsbesuchen. Einige Kapitel sind gelungener und ausdruckskräftiger als andere. Hervorzuheben sind die um den Dresdner Maler Curt Querner kreisenden Kapitel: “Was er gekonnt hat – Hände, wie er sie zu malen verstand, möchte ich von den Heutigen erst einmal sehen.” In anderen Kapiteln jedoch sind die Darstellungen ausufernd, voll von Wortkaskaden. Tellkamp macht es dem Leser nicht leicht. Oft ist ein zweites und drittes Lesen der scheinbar endlosen Sätze nötig. “Wie Kraken” winden sich exzentrische Bilder durch die syntaktischen Gebilde: “Die Papierlungen der Meldeämter auf der Theaterstraße; die an langsamen Tentakeln arbeitenden Tastsinnesscheiben der Staatskanzlei; Finanzämter, in deren Allesfressergebiet man niemals ungestraft einen Handschuh wirft; die an den Nabelschnüren einer Stempel-Gottheit flottierenden Anwalts- und Notarkanzleien …” Der Leser jedoch, der sich Zeit nimmt und Tellkamps barocken Stil auf sich wirken lässt, kommt auf seine Kosten. Tellkamp ist es gelungen, fragmentenhaft ein Stück DDR-Biografie in der schillernden Atmosphäre der Stadt Dresden einzufangen, in der Stadt, wie sie einmal war oder nicht war oder sein könnte: “Dresden ist ein langer Blick zurück. Gegenwart nur Wasseroberfläche der Vergangenheit […] Aber auch sie wird es geben, die Freiheit des Abschieds. Die sesamtragenden Türen.”

Christine Cosentino,

 

Richard A. Zipser, Von Oberlin nach Ostberlin: Als Amerikaner unterwegs in der DDR-Literaturszene. (Berlin: Christoph Links Verlag GmbH, 2013) 224 Seiten.

Der Amerikaner Richard Zipser ist als ein Germanist bekannt, dem es schon seit Anfang der siebziger Jahre die DDR-Literatur angetan hat. Ergebnisse seiner Arbeit sind unter anderem die Veröffentlichungen DDR-Literatur im Tauwetter (1985) und Fragebogen Zensur (1995). Im Unterschied zu anderen Sympathisanten der DDR-Literatur an amerikanischen Universitäten reiste und forschte Zipser nicht auf Einladung der DDR oder einer der DDR nahestehenden politischen Gruppe, sondern ganz auf eigene Initiative. Damit jagte er den DDR-Behörden, die mutmaßten, er könnte ein CIA-Agent sein oder die DDR ideologisch unterwandern wollen, Angst ein. Schon 1973 legte die Stasi eine Akte über ihn an; sie ist umfangreich und schließt erst 1988. Nach einem sehr lesenswerten Vorwort von Heinz-Uwe Haus mit dem wichtigen Satz “Heute ist kaum noch vorstellbar, dass das, was Zipser bezeugt, über Jahrzehnte zwischen Elbe und Oder grausamer Alltag war”, enthält der Band Von Oberlin nach Ostberlin hauptsächlich Dokumente aus Zipsers Stasiakte und erläuternde Kommentare Zipsers. Darin vergleicht der Autor seine Erinnerungen kritisch mit dem, was im Stasideutsch fläzig dasteht; dabei wird die DDR, so wie er sie erlebt hat, vor seinem inneren Auge lebendig. Einen frischen Blick bekommen wir auf Autoren wie zum Beispiel Jurek Becker oder Ulrich Plenzdorf. Schwarz-weiß Fotos von einigen der Autoren, mit denen Zipser befreundet war, und ihren Büchern und Briefen schmücken das Buch. Leser, die sich noch immer unruhig fragen, was das war, die DDR, kommen um die Lektüre dieses Buches nicht herum. Wehtun wird sie jenen, die der DDR als eines Raumes, der mit Utopie zu tun hatte, immer noch nachtrauern. Von den Berichten der neun verschiedenen IM sind die des Schriftstellers Fritz Rudolph Fries und die des Verlegers Konrad Reich die überraschendsten; von den von der Stasi gegen Zipser eingeleiteten Zersetzungsmaßnahmen ist der Rufmord – “Zipsers Ansehen so abwerten, daß auch negative Kräfte ihn meiden” – am ekligsten. In der Einleitung beschreibt Zipser seine Überraschung, als er 1999 nach sechs Jahren Warten von der damaligen Gauckbehörde Teile seiner Akte erhielt. Er zitiert aus dem Briefwechsel mit der Behörde und erklärt dem Leser seines Buches das Aktenchinesisch, ohne das auch dieses Buch nicht auskommt, etwa die Abkürzungen für die fünf verschiedenen Typen von Informellen Mitarbeitern der DDR Staatssicherheit. Dann folgen die schon erwähnten Erinnerungen, Aktenauszüge, Auskünfte über die Germanistik der USA, insofern sie sich für die DDR-Literatur interessierte, Zipsers eigene Arbeit an verschiedenen die DDR betreffenden Forschungsprojekten, und immer wieder Erinnerungen. Am besten gefällt mir der sachliche Ton des Buches; der Autor prahlt nicht mit seinem aufregenden Abenteuer DDR. Und es gibt sogar Spuren von Selbstkritik, etwa, wenn Zipser sich fragt, warum Wolf Biermann fehlt in seinem dreibändigen Lesebuch DDR-Literatur im Tauwetter. 1975 – Zipser war am Oberlin College für sein DDR-Projekt ein Forschungsurlaub bewilligt worden – folgte er Christa Wolfs Rat und bat den Schriftstellerverband der DDR schriftlich um Unterstützung. Beim Treffen mit einem Funktionär des Verbandes wurde ihm mitgeteilt, welche Autoren er in sein Buch aufnehmen sollte. Obwohl dies “das Letzte [war], was ich wollte” und er die Liste der Autoren, die er interviewen wollte, nicht an den Verband, der ihn dazu drängte, herausgab, fügte er zu den zwanzig Namen, die er schon hatte, doch noch diejenigen hinzu, auf denen die Verbandsfunktionäre bestanden hatten, Namen wie zum Beispiel Günter Görlich oder Uwe Berger. Der Stasi schwahnte, dass Zipser sich auch für Wolf Biermann interessierte (siehe “Auskunftsbericht vom 22. Juli 1976”), aber Zipser hatte in Gesprächen mit Verbandsfunktionären und der Partei nahestehenden Autoren schon begriffen, “daß der Schriftstellerverband mein Projekt blockieren würde, falls ich Biermann besuchte. Letzten Endes lief es darauf hinaus, Biermann oder das Buch.” Biermann wurde 1976 ausgebürgert; da Zipsers Tauwetter-Buch erst viel später erschien, hätte er ja im Nachhinein Biermann noch in den Text aufnehmen können – “Doch da ich zugesagt hatte, das Buch ohne Biermann zu machen, wäre es aus den genannten Gründen ein fragwürdiges Vergehen gewesen, ihn ex post facto aufzunehmen.” Trotz dieses freundlichen Entgegenkommens durfte Zipser ab 1985 nicht mehr in die DDR einreisen. Gründe waren unter anderen, dass er sich bei der Leipziger Buchmesse mit dem Dissidenten Lutz Rathenow getroffen hatte, und dass er sich bei der Auswahl der DDR-Schriftsteller, die er für ein Semester ans Oberlin-College in Ohio einlud, vom Schriftstellerverband nicht gängeln ließ. Er lud zum Beispiel Helga Schütz ein; der Verband ließ sie nicht reisen. Daraufhin schickte er die Einladung an Karl-Heinz Jakobs, der heftiger als andere Schriftsteller und Intellektuelle der DDR gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte; Jakobs lebte inzwischen im Westen und bedurfte keines Ausreisevisums der DDR. Der folgende Satz gefällt mir am besten im ganzen Buch: “Ich stelle mir immer wieder gern vor, wie die DDR-Behörden ihre Entscheidung, Helga Schütz nicht ausreisen zu lassen, verflucht haben müssen, als sie erfuhren, dass wir dafür im Frühjahr 1986 Jakobs einluden. Von ihrem Standpunkt aus hätte Schütz die DDR bestimmt immer noch besser repräsentiert als Jakobs.” Der Text schliesst mit dem Kapitel “Nach dem Ende der DDR”; es beschreibt unter anderem Zipsers letzte Reise nach Berlin 1990, siebenundzwanzig Jahre nach der ersten Reise 1963. “Seltsamerweise”, schreibt Zipser, vermisste er die Grenze, “das mulmige Gefühl und die kleinen Schikanen” – offenbar vermisste sein Körper den Adrenalinschub, mit dem ihm der Grenzübergang in die DDR über lange Jahre versorgt hatte. Trotzdem freute er sich natürlich 1990 zu beobachten, wie das bunte und quirlige Westberliner Leben nun auch im Osten Einzug hielt. Neben allen Deutschprofessoren, die sich für die frühere DDR interessieren, empfehle ich Richard Zipsers Buch Von Oberlin nach Ostberlin auch jenen, die auf dem neuen Gebiet der “Surveillance Narratives” forschen. Wie hat die Stasi Informationen über den Autor gesammelt, wie hat sie sie archiviert und welchen narrativem Muster folgt die Story, die der DDR-Geheimdienst daraus strickte… auf diese Fragen liefert das Buch reichhaltiges Material.

Gabriele Eckart

 

Jakob Hein und Jacinta Nandi: Fish’ n’ Chips & Spreewaldgurken. Warum Ossis öfter Sex und Engländer mehr Spaß haben. (Köln: Kiwi, 2013). Wer annimmt, dass es sich bei diesem Büchlein um eine Studie über Gastronomisches in den beiden Ländern handelt, irrt sich. In der Tat bieten die beiden Autoren einen satirisch übersteigerten Landeskunde – und Geschichtsunterricht, der aus der Perspektive naiver Jugendlicher erteilt wird, die ihrer Fantasie freien Lauf lassen. In einem Interview befragt, wie es zur Wahl dieses seltsamen Titels kam, meinte Hein, dass alle Vorschläge, die er dem Verlag machte, zu “ostig” klangen: “Fish and Chips war o.k, und dann die Frage, was gilt als typisch ostdeutsch. Das waren dann die Spreewaldgurken.” Welche Vorstellungen und Fantasien hatten ein Ostdeutscher und eine Engländerin darüber, wie die Menschen im jeweils anderen Land lebten? Der 1971 geborene, in der DDR groß gewordene Jakob Hein ist von Beruf Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin. Bekannt ist er jedoch für eine Reihe literarischer Werke, die ironisch-humorig den DDR-Alltag abhandeln. Bekannt ist er ebenfalls für seine Lesungen auf Berliner Sprechbühnen, vor allem bei der Reformbühne “Heim und Welt”. Sein erster großer Erfolg war die Miniaturensammlung Mein erstes T-Shirt (2003), in der er mit geschickt konstruierter Pseudo-Naivität Absurd-Lächerliches und Alltäglich-Normales verquickt. Diese Erzähltechnik – diesmal aus der Perspektive zweier Jugendlicher – weist auch der neue Band Fish’ n’ Chips & Spreewaldgurken auf. Dialogpartnerin des aus der DDR kommenden Ich-Sprechers ist die 1980 in London geborene Nacinta Nandi, die im Jahre 2000 nach Berlin zog, folglich die DDR nur vom Hörensagen kannte. Bekannt ist Nandi in der Berliner Szene als Bloggerin und Surf-Poetin. Die London-Sehnsucht des jungen Berliners – “hippe Klamotten, heiße Musik, harte Währung, scharfe Pornos” – wird im satirischen Gewand mit den überbordenden Romantik-Fantasien der jungen Engländerin kontrastiert, für die der verflossene Staat das Exotischste ist, was es überhaupt geben kann. Der heitere, unverkrampfte Rückblick auf die DDR sowie Heins ausgeprägter Sinn für skurrile Situationskomik bieten dem Leser einen breiten Assoziationsraum darüber, wie es damals wirklich gewesen sein könnte. Das Spiel mit Übertreibungen enthebt das gebotene DDR-Bild jeglicher Wertung. Der Band kreist um fünf Schwerpunkte, die von doppelter Warte gesellschaftliche Thematik beleuchten: “Gesellschaft und Kritik”, “Sex und Einsamkeit”, “Bildung und Verblödung”, “Freizeit und Stress”, “Dienen und Bedienung”, “Sport und Gesundheit”. In den einzelnen Kapiteln überbieten sich die Autoren mit einem Gemisch von Klischees, Fakten, Übertreibungen, Fantasien und skurrilen Erfahrungen. Über Sex im Ferienlager träumt die Engländerin Nandi, und sie reflektiert über den schnellen Zufallssex, der in der DDR schon deshalb besser war, gewesen sein sollte, weil man sich am nächsten Tag nicht anzurufen brauchte; kaum jemand hatte ein Telefon. Und über den 1. April erfährt sie von einem ostdeutschen Liebhaber Seltsames, nämlich dass der Tag verboten war, um staatsfeindliche Witze zu vermeiden. “Stell dir vor, wenn Aprilscherze erlaubt gewesen wären. Dann hätte zum Beispiel einer am Vormittag des 1. April gesagt: Oh, ich haue ab in den Westen! Und erst mittags sagt er: ‘April, April!’” “Dann wären die Stasi-Leute gekommen und haben euch gefoltert, stimmt’s?” resümiert Jacinta Nandi. Und der Ich-Sprecher Hein erinnert sich mit vergnüglicher Ironie an die Bedienungsrituale in den Restaurants der DDR: “Vor die Wahl gestellt, ein Jahr in einem sibirischen Lager zu verbringen oder zehnmal in der nächstgelegenen Clubgaststätte (wie viele DDR-Restaurants hießen) essen zu gehen, hätten viele sicher zunächst gefragt, um welche Ecke von Sibirien es sich denn handeln würde, weil einiges dort landschaftlich ja sehr reizvoll sein soll […] Das vermessene Fragen nach [Bier] Sorten oder anderen Unterkategorien galt als an Frechheit nicht zu überbietende, geradezu spätbürgerliche Dekadenz, die durch den Sieg des Sozialismus überwunden war.” Und so geht es weiter in dieser treffsicheren Ossi-Satire. Sämtliche realsozialistische Widrigkeiten werden aufs Korn genommen, niemand wird verschont. Heins Witz und Ironie sorgen für vergnügliche, unterhaltsame Lektüre. Das Lachen ist eine Möglichkeit der Distanz zu den geschilderten Situationen.

Christine Cosentino

 

Christoph Hein, Vor der Zeit. Korrekturen. (Berlin: Insel, 2013) Hein hatte sich im Laufe seiner literarischen Karriere wiederholt als Chronist bezeichnet, der über sein Verhältnis zur Welt berichtet. Er erzählt distanziert, oft im Protokollton, mit ganz lapidaren Sätzen, die meistens Feststellungen sind. Leerstellen gibt es in seinem Werk zur Genüge, und so muss der aktive Leser selbst Verbindungen herstellen. Auch in seinem neusten Werk, den Korrekturen antiker Mythen, muss Zeitnahes vom Leser selbst erarbeitet werden. Hein wartet mit kleinen Änderungen am griechischen Mythos auf, mit neuen unerwarteten Wendungen, die zeigen, dass alles auch anders hätte verlaufen können. Der erste Eindruck des Lesers ist, dass Hein die unmittelbare Gegenwart verlasse und weit zurückgehe, aber es scheint nur so. Hein benutzt vertrautes mythologisches Material, um die Gegenwart durchschaubar zu machen. Hein präsentiert 25 Miniaturen mit Neuinterpretationen. Eingeleitet werden diese Miniaturen von einem “korrigierenden” Bericht über den “wahren” Entdecker Trojas (“Das Paradies der Paradiese”) , den heute vergessenen englischen Archäologen Frank Calvert, der Heinrich Schliemann anvertraute, wo er Troja vermutete, und der Schliemann somit die Ausgrabungen ermöglichte. Die Miniaturen enden mit dem Bericht über das “erste Buch Homers”, in dem der blinde Sänger Profitsucht, Machtstreben und Kolonialisierungsabsichten als die wahren Wurzeln und Motive des Krieges entlarvte, eine Tatsache, die der verrohte Odysseus nicht akzeptieren konnte. Er wird – Hein erinnert hier unaufdringlich an seine DDR-Erfahrungen – zum Zensor, fordert Änderungen und Auslassungen, letztlich eine Neuinterpretation des Trojanischen Krieges: Ehre, verletzte Gastfreundschaft und der Raub der schönen Helena seien die wahren Motive dieses “gerechten” Krieges gewesen. Homer muss eine zweite Fassung über den Krieg schreiben. Die beiden Miniaturen in diesem Band weisen einführend und abschließend auf einen Kontext “vor der Zeit”, also vor einer sich auf Quellen stützenden Geschichtsschreibung, in dem es um die Götter des Olymp geht, um den Trojanischen Krieg, um Situationen und Ereignisse, in denen Götter und Menschen aufeinanderstoßen oder in denen sie sich abstoßen. Was geschah zum Beispiel mit der schönen Helena, nachdem der Krieg zu Ende war? Hein wartet mit verschiedenen Spekulationen auf, schließt jedoch mit der Mutmaßung ab, dass die alternde Frau, um den Mythos der Schönheit zu wahren, sich bis zu ihrem Lebensende in einem spiegellosen Raum versteckte. Und wie fühlte sich der vom Krieg geprägte, gewalttätige Odysseus wirklich, als er wieder zu Hause in der Zivilgesellschaft war? Fremd und verwirrt verbrachte er die Tage. Erst als sein Sohn ihn aufforderte, Penelopes Freier zu vertreiben, war er in seinem Element. Er tötete alle: “Er war daheim.” Hein projiziert den Olymp als Ort, der von Machtgier, Profitsucht, Verleumdung, Korruption, sexueller Lust, Gewalt, Verrohung und Sittenverfall gezeichnet ist. Liegt hier Zeitnahes? In einem Interview deutet Hein selbst auf das in den Miniaturen Ungesagte: “Auf dem Olymp sah es genauso aus wie in Berlusconis Italien oder den Vorstandsetagen der Banken.” Andererseits jedoch ist der oberste Gott und Herrscher im Olymp auch unberechenbar, denn er ist durchaus humanitärer Gesten fähig. Als Herakles, so korrigiert Hein den griechischen Mythos, eine dreizehnte Arbeit abverlangt wird, nämlich seinen Vater Zeus zu töten, fällt er, der Sohn, weinend auf die Knie und betet zum Göttervater. “Das rührte das Herz des unrührbaren Gottes, und er erbarmte sich seiner.” Dem Ruf der Weichheit wollte sich Zeus allerdings nicht aussetzen. Also wurde die dreizehnte Arbeit des Herakles verschwiegen. Eine prekäre Thematik berührt Hein in seiner Behandlung der Asklepiosfigur, des Arztes und Heilers, der auf Ansinnen des Gottes Hades von Zeus mit dem Tode bestraft wurde, weil er Kranke heilte und somit dem Griff des Gottes Hades entzog. Führt die Langlebigkeit der Menschheit zur Vergreisung, und ist der Mensch selbst oder die geriatrische Gesellschaft darauf vorbereitet? Asklepios wird in Heins Miniatur nicht nur mit dem Tod bestraft, sondern in der Unterwelt auf den Stuhl des Vergessens gesetzt, wo er selbst die Vergreisung erlebt: “Bald wusste er nicht mehr den eigenen Namen […] Das Vergessen hatte ihn völlig umfangen, und mit offenem Mund und erloschenen Augen sitzt er für alle Zeit auf dem Stuhl des Vergessens.” Eine der schönsten Miniaturen ist die, die von Prometheus handelt, der, laut mythologischer Vorlage, den Menschen das Feuer brachte und deshalb von Zeus bestraft wurde, der ihn an einen Felsen im Kaukasus schmiedete. Hein gibt dem Schicksal des Menschenfreundes eine andere Wendung: Prometheus wurde von Zeus bestraft, weil er den Menschen der Figur der Hoffnung zugesellte. So wurde die Vorausschau der Menschen auf eine furchterregende Zukunft überstrahlt von leuchtender Hoffnung. Und so geht es weiter. Hein beschwört das mythische Personal des Olymps herauf. Er berichtet, korrigiert, versieht seine Text mit Widerhaken, schmückt aus und verfremdet. Sein schöpferisches Weiterarbeiten am Mythos beleuchtet unaufdringlich Gegenwärtiges. Doch Hein moralisiert nicht. Er stellt einfach dar, geht auf eine Partnerschaft mit dem Leser ein, den er zum Nachdenken provoziert. Wohl kaum ist anzunehmen, dass Heins Überlegungen die Welt korrigieren, aber sie korrigieren den Blick.

Christine Cosentino

 

Zu Teju Coles Open City. Roman(New York: Random House, 2011. Dt.: Open City. Roman (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012)

Was uns an einem Menschen wie an einem Buch fesselt, ist seine Haltung zum Leben. Der Erzähler von Open City ist ein Entwurzelter, nicht zu Hause in Berlin, wo seine Mutter herkommt, nicht in Nigeria, woher sein Vater stammt und wo er selbst seine Jugend verlebte. Daher findet er sein Zuhause in New York City, der ältesten modernen Heimatstadt der Entwurzelten. Er ist ein Solitär, ohne eigene Familie, und das verbindet ihn mit der Hauptlinie der europäischen und der amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, mit den Bildungsromanen der Deutschen, den Gesellschaftsromanen der Franzosen, mit Kafka, Proust und vielen anderen, aber es trennt ihn gleichzeitig von der Tradition des Familienromans, von den Buddenbrooks ebenso wie von The Corrections. Sein Thema ist die Einsamkeit in der Masse, in der Anonymität, nicht die Einsamkeit in der Familie. Genauer gefasst, ist es nicht die Einsamkeit, sondern das Standhalten gegen sie. Von Glück ist nicht die Rede, und wenn davon Ahnungen in dem konsequenten inneren Monolog, der an keiner Stelle von Dialogen oder anderen literarischen Darstellungsmitteln unterbrochen wird, aufscheint, dann ist es an Kunst (Bilder, Musik) oder an meist zufällige menschliche Begegnungen gebunden. Diese Anlage des Buches hält Kontakt zum Existentialismus, der aber dadurch unter Kontrolle gehalten wird, dass der weiße schwarze Erzähler gar nicht anders kann, als historisch zu fühlen und zu denken. Der Kontakt, das Zwiegespräch mit den und die Erinnerung an die Toten ist (wie wohl bei aller großen Literatur) das Stoffzentrum des Romans, obwohl er sich im (vorwiegend New Yorker) Alltag bewegt wie ein Fisch im Wasser. Selbstverständlich ist es ein Buch über Rassismus. Aber es wirbelt die oberflächlichen, den alltäglichen westlichen Diskurs darüber bestimmenden Kategorien so gewaltig durcheinander, wie es die Wahrheit erfordert. Der Held verachtet seine Mutter, die sein natürlicher Leidensgenosse sein könnte, ist sie doch die Frucht der Vergewaltigung einer Berlinerin durch sowjetische Soldaten im okkupierten Kriegsberlin, gleichzeitig ist ihm seine Berliner Oma eine Sehnsuchtsfigur, einer Umarmung wegen, die er einmal in Nigeria von ihr erfahren hat. Über den Grund dieser kalten Verachtung erfährt der Leser nichts –– ist sie eine “geerbte” Kälte der Kriegsgewalt? Ist sie ein in sehr tief im Unbewussten verriegelter “existentieller” Rassismus der weißen Mutter gegen ihr schwarzes Kind oder umgekehrt schwarzer Rassismus des Sohnes gegen seine weiße Mutter, vielleicht noch gestärkt durch den frühen Tod seines Vaters? Die Tragik dieses verbrecherischen Unfallknäuels der historischen Verwerfungen, die Menschen aber existentiell prägt, wird vollends unentwirrbar, wenn der Erzähler, der Benjaminsche Flaneur in der Hauptstadt des zwanzigsten Jahrhunderts, von drei jungen Schwarzen, also “brothers”, überfallen, verprügelt und beraubt wird, aber ganz besonders auch in der Szene, in der er auf der Party eines Hedgefond Managers von dessen schwarzer Freundin erfährt, dass er sie als Siebzehnjähriger in Nigeria betrunken vergewaltigte, etwas, dass der Held offenbar völlig aus seinem Bewusstsein entfernen konnte und auch jetzt nicht kommentiert. An dieser Stelle des Nachdenkens über das Buch liegt der Vorwurf der Trivialität wegen der Inflation von Stoffen nahe. Am wenigsten entgangen ist der Verfasser dieser Falle in einem Kapitel, das in Brüssel spielt, wohin ihn, freilich erfolglos, die Suche nach seiner Oma trieb, die er aber weniger als halbherzig betreibt, wohl ahnend, dass das Proustsche Großmutterglück der “belle epoche” zwar für jeden Erzähler notwendig, weil es doch von alters her die Großeltern sind, die den Enkeln die Erfahrung, zuerst in den Märchen, weiterreichten, aber doch mehr und mehr verloren ist. Stattdessen trifft er auf einen jungen Araber, einen Angestellten in einem Internet-Café, der Benjamin und Barthes liest, auf seiner “Differenz” besteht und dies mit einer Weigerung der Distanzierung von Al-Kaida verbinden kann. Die eitle rassistische Dummheit, die hier intellektuell geschminkt ihren Ausdruck findet, wird aber im selben Kapitel durch die robuste politische Vernunft einer amerikanisch-belgischen Ersatzgroßmutter zurechtgerückt. Man bemerkt, dass das ein bisschen viel Stoff ist, aber es zeigt Coles Talent, dass er dem Scheitern in der Stofffalle entkommt. Ein anderer Vorwurf, der bei vielen Stellen, wo es um Kunst oder Intellektuelles geht, aber bei diesem “Farouque” besonders naheliegt, ist, dass der Roman sich weniger mit dem Leben als mit dem Denken, mit den Theorien linksliberaler Intellektueller beschäftigt. Die Figur des sterbenden Professor Saito, den der Erzähler verehrt, bringt z.B. auch noch die Gender- und Schwulen-Debatte ins Spiel. Nun ist dieser Vorwurf schon Größeren wie Musil und Proust gemacht worden, und er trifft auch für Cole nicht zu. Man irrt sich leicht über die angebliche Trennung von Denken und Leben. Es mag zwar stimmen, dass Open City einen Teil seines Erfolges der Tatsache verdankt, dass jede (amerikanische) Studentin, die intellektuell-politisch up-to-date ist, “ihre Sache” darin häppchenweise konsumieren kann, aber die wirkliche, die subkutane Wirkung des Buches beruht doch auf etwas anderem: auf der Ökonomie des Zusammenhangs. Dieser Zusammenhang ist das autonome Individuum, ein Mann, der seinen Weg geht. Und das ist eigentlich das Erstaunlichste an dem ganzen Buch: wie kann einer im 21. Jahrhundert, wo wir Europäer in Europa und New York doch (seit Marx, Freud, Benjamin, Adorno, Foucault und Derrida – oder: seit zwei Weltkriegen, den Konzentrationslagern und dem Fall des World Trade Centers) wissen, dass es damit endgültig vorbei ist, einen solchen Zusammenhang in der Ökonomie eines geschliffen geschriebenen Buches, also in der Haltung, authentisch darstellen? Vielleicht kann das nur ein “naiver” amerikanischer Schwarzer. Zweifellos ist dieses “Individuum” beschädigt, nicht “unteilbar”, keine “Persönlichkeit” (sondern z.B. ein Vergewaltiger), aber es besteht doch auf einer pragmatischen inneren Konsistenz des Einzelmenschen, die etwa Kafka schon vor hundert Jahren in Richtung Tierreich hinter sich gelassen hat. An einer Stelle wird das explizit deutlich, wenn der Erzähler, der doch Psychiater ist, kurz auf Freud zu sprechen kommt und dabei ganz den in der psychologischen Praxis der USA herrschenden Antifreudianismus wiederholt, obwohl er sich doch für Freud zugänglich zeigt. Freud als Kulturwissenschaftler ist jedoch ein weißer Fleck in seinem Bewusstsein. Und so kann dieses Buch auf einen Europäer vielleicht etwas anders wirken als auf einen Amerikaner, nämlich romantisch, so als ob der Gottfried Benn der frühen Rönne-Novellen von 1916 noch einmal politischere Gestalt angenommen hätte und als ob Döblin, Joyce und Dos Passos, obwohl der Autor die beiden letzteren sicher gut kennt, ihre Hauptwerke noch nicht veröffentlicht hätten.
Rainer Stollmann

 

Liebeserklärungen an einen Hund. Utz Rachowski, Miss Suki oder Amerika ist nicht weit! Niederfrohna, Mironde Verlag, 2013. Mit Zeichnungen von Thomas Beurich

Dass sich Rachowski sowohl als Prosaautor wie auch als Lyriker und Essayist längst einen Namen gemacht hat, ist bekannt, besonders die Bände „Red‘ mir nicht von Minnigerode“ und zuletzt „Beide Sommer“ haben ihm seinen Platz in der deutschen Gegenwartsliteratur gesichert. Für sein Werk wurde der 1954 in Plauen/Vogtland geborene und in Reichenbach aufgewachsene Dichter u.a. 2007 mit dem Reiner-Kunze-Preis ausgezeichnet. Seine Literatur ist aufs engste verbunden mit seiner Biographie: Fünf Gedichte und die Verbreitung verbotener Texte (Biermann, Fuchs, Pannach) brachten ihm in der DDR eine Verurteilung zu 27 Monaten Gefängnis ein. Nach seinem

Freikauf durch die Bundesrepublik lebte er bis 1989 in Westberlin.

Sein neuer Band „Miss Suki“ wendet sich einem Hund zu, was im Vergleich zu seinen bisherigen Themen zunächst überrascht. Der Hund ist eine Cavalier-Prince-Charles-Spaniel-Lady, er ist in Amerika zu Hause. Diese mit scheinbar leichter Hand geschrie-benen Gedichte um einen Hund, die im Grunde Liebeserklärungen sind, inspirierten Rachowski, als er eine Gastprofessur am Gettysburg College in Pennsylvania bekleidete. Aber die Gedichte weisen darüber hinaus, sie feiern die Freiheit, das Leben schlechthin, die Beständigkeit der Liebe und Treue, erinnern jedoch gleichzeitig daran, wie Wasser in Wein geschüttet wird, dass wir endlich sind, auch wenn wir es oft vergessen, indem auf das Alter angespielt wird ebenso wie auf

den Tod: die großen Themen der Literatur.

Aber Rachowski wäre nicht Rachowski, wenn es nicht Reminiszenzen an seine Diktatur-Erfahrungen gäbe.

„Mein Hündchen / mein kluges / mit langen Ohren // findet das Zusammenleben / mit einem Dichter // angenehm // soviel Schweigen / von beiden Seiten // zwei die zu oft / angebellt wurden“.

Die Gedichte leben von dem Spannungsverhältnis, das sich aus dem Vergleich zwischen Hund und Mensch ergibt, was mitunter  charmant-selbstironische Züge annimmt: Miss Suki liegt auf Platz 24 der Hunde-Intelligenzliste, das lyrische Ich tappt im dunklen, was den eigenen Platz anbelangt. Das kann man nur mit Augenzwinkern lesen und feststellen, dass sich das lyrische Ich nicht zu ernst nimmt.

Doch der Dichter weiß, dass die Oden an den Hund allein diesen Band vielleicht nicht ganz tragen. Deshalb hat er einige lange Gedichte eingebaut, die thematisch weiter gefasst sind. Neben dem „Ich hatte Nachbarn“ ist „Culp’s Hill, April 19, 2012“ das bemerkenswerteste: Es hat Tiefe, spannt einen großen historischen Bogen und bleibt im Tonfall dennoch lakonisch. Wer Gettysburg hört, assoziiert den amerikanischen Bürgerkrieg. Im Juli 1863 standen sich hier die Truppen der Nord- und Südstaaten zur entscheidenden Schlacht gegenüber. An drei Tagen starben auf jenem Hügel 50 000 Soldaten. Der Gastprofessor begeht mit seinen Studenten den für immer gezeichneten Ort des Todes. „Ich bin das Gras. Ich decke / zu. Häuft Berge bei / Gettysburg. Häuft Berge / bei Ypern und Verdun.“ Als sie hinunter zur Stadt laufen, fällt das Bedrückende des Ortes, die Last der Geschichte von ihnen allen ab, ohne sich gänzlich von ihr befreien zu können.

Michael G. Fritz

Zuerst erschienen in: Dresdner Neueste Nachrichten 

 

“balance zwischen zerstäuben / und zentrieren“.  Zu Michael Speier: Haupt Stadt Studio. Gedichte Aphaia Verlag. Berlin 2012.

Man kennt den Autor seit vielen Jahren als ausgewiesenen Schriftsteller, Übersetzer Literaturwissenschaftler und Herausgeber. Er ist in der romanischen und angelsächsischen Welt in gleicher Weise zuhause wie hierzulande. Eine ganze Reihe von Gedichtbänden liegt vor. Diese neue Sammlung setzt den in den Bänden “Scherbenschnitte“ (2001) und “welt/raum/reisen“(2007) eingeschlagenen Weg des ‘Erzählgedichts‘ fort. Die vielen von Speier aufgesuchten Orte werden für ihn zum Terrain ausladender Bewußtseinserkundungen. Äußere und innere Reflexe spiegeln die lyrisch erfaßte Radikalität seines Erlebens. Die assoziativ aufgenommenen Erzählelemente schlagen sich in der aufgelockerten, eigenwilligen Sprache nieder. Sie erlaubt sowohl spielerische Leichtigkeit wie hintergründige Tragik. In rhythmisch abgestuften Abläufen schwingt gleichermaßen existentielles Unheil wie distanzschaffende Ironie mit. Sein stichwortartig lapidares Nennen erfaßt die paradoxe Weltlage mit großer Genauigkeit vom Detail her. Solche Sprachverkürzung führt oft zu Sprachverhärtung. Nicht so im Falle von Speiers Gedichten. Ihm gelingt die schwierige “balance zwischen zerstäuben / und zentrieren“ (S. 41) und damit die Verwandlung des komplex Dargestellten in sinnlich ausgefüllte Plastizität.  Dabei entsteht ein sprachliches Geflecht von Geschichte, Alltag, Mythos, Erinnerung, Reflexion, Depression, Sehnsucht und Erwartung. Allerdings setzt der lyrisch-narrative Wortfluß den mitdenkenden Leser voraus. Sonst bleibt die sinnliche Abstraktion der Textgestaltung unerschlossen. Die im Grunde negative Welterfahrung mündet letzten Endes in der produktiven Erkenntnis vom “Verlernen der Welt“ (Nelly Sachs). Speiers Gedichte eröffnen haltbare Positionen gefaßten Weiterlebens im unsicheren Wissen: “ist es wenig fast nichts, und zwar heftigst? / lehne ich mich ins weite, greife ich tief / bin ich forsch, grammatisch, eifrig / beim horten von worten lauf ich / die serpentinenstraße“ (S. 69). So wünscht man sich heutige Lyrik: welthaltig, formstreng, hart in der Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die den Alltag zum Schrecken machen kann, im Endeffekt aber befreiend durch die lyrisch entfalteten Gegenkräfte. Speier hat wahrlich “nachgedacht und verstanden“ S. 36). Wir sollten unsererseits über seine Gedichte nachdenken und – hoffentlich – verstehen.

Theo Buck, Aachen

 

Charlotte Roche, Schoßgebete. München: Piper, 2011, pp. 283.

Im Zuge der um die Jahrtausendwende entstandenen Gattung der sogenannten Pop-Literatur entfaltete sich auch das genderspezifische Genre des sogenannten, wenn auch begrifflich umstrittenen „literarischen Fräuleinwunders“, in dem junge Autorinnen wie Judith Hermann, Tanja Dückers, Julia Frank, Sarah Kuttner et al. ihre Lebenserfahrungen als junge Frauen in einer postmodernen Spass- und Leistungsgesellschaft thematisieren. Bisheriger publizistischer Höhepunkt dieser literarischen Entwicklung war sicherlich Charlotte Roches senstionell-skandalöser Bestsellerroman Feuchtgebiete (2008), der monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand und in kürzester Zeit in mehr als ein Duzend Sprache übersetzt wurde.

Auch Roches neuer Roman Schoßgebete (2011), der ebenfalls monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste rangierte, ist als chronique scandaleuse konzipiert. Die 33-jährige Ich-Erzählerin hat sich nach ihrer gescheiterten Hochzeit in einen 50-jährigen Mann verliebt, den sie heiratet, um mit ihm, seinem jungen Sohn und ihrer jungen Tochter eine nach außen recht bürgerliche Patchworkfamilie zu gründen. Auch in diesem Roman spielt, wie schon in Feuchtgebiete, die Sexualität eine zentrale Rolle. In aller Ausführlichkeit werden die Liebesgepflogenheiten und Sexualrituale des Ehepaares dargestellt. Dieser Erlebnisbereich wird komplementiert durch eine außergewöhnliche Familientragödie. In einer Massenkarambolage  und ihrem Flammeninferno kommen drei Brüder der Erzählerin ums Leben, während ihre Mutter schwerverletzt überlebt. So wird der Traum von einer exzessiv ausgelebten Sexualität ergänzt durch das omnipräsente Trauma der menschlichen Mortalität.

Im Verlauf des Erzählgeschehens, das von einer intensiven Psychotherapie-Erfahrung durchwirkt wird, verdichtet sich diese Liebes- und Todesgeschichte zu einem exemplarischen Freudschen Familienroman, in dem sich wesentliche Verhaltensweisen der Romanheldin als bezeichnende Erscheinungsformen eines vielschichtigen Mutter- und Vaterkomplexes zu erkennen geben. Während ihre „Hypersexualität“ und ihre provokativen Praktiken und Phantasien unter anderem als Reaktionsbildungen gegen ihre „feministische Mutter“ zu verstehen sind und sich im psychoanalytischen Erklärungsmodell der Objekt-Beziehungen weiter deuten lassen, kann ihr „fetter Vaterkomplex“ mitsamt ihrer obsessiven Analfixierung als eine illustrative Fallstudie für die psychosexuelle Regression ins primäre Stadium infantiler Geschlechtsvorstellungen gedeutet werden, in denen Freuds Kloaken-Theorie zufolge der anale und vaginale Körperbereich eine polymorph perverse Einheit bilden. Dieses Regressionsphänomen ist mit dem Freudschen Todestrieb assozierbar und lässt sich sowohl  in der verkehrten Welt der faschistischen Vernichtungslager, dem „Anus Mundi“ von Auschwitz und seiner „Pornographie des Todes“ (Ruth Klüger), als auch in den archaischen Vorstellungen vom matriarchalen Mutter- und Totenreich und seinem imaginären orcus uterus weiterverfolgen. Zusammengesehen kristallisieren sich diese psychomythischen Phantasmagorien immer wieder zu einer morbiden Schauerromantik, in der Ekstase und Exitus, Eros und Thanatos eine magisch entgrenzte Einheit bilden. Immer wieder flirtet die Erzählerin mit ihrem „Gevatter Tod“, stimmt gar ein Loblied auf den Freitod an, diese letzte Entgrenzung allen Lebens. Es ist eine makabre Hymne, die vor allem für labile Jugendliche der „Gothic Scene“ verhängnisvoll werden könnte. Zum Glück schlagen Roches Lockrufe in den befreienden Tod in der Regel immer wieder schnell um in den Sirenengesang auf die entfesselte Liebe. Diesem Lockruf kann seit Neuestem auch Sönke Wortmann, (Der bewegte Mann, Deutschland – Ein Sommermärchen) nicht  mehr widerstehen, und so soll denn der Film zu Schoßgebete bereits im Herbst 2013 in die deutschen Kinos kommen.

Frederick A. Lubich

 

Ein Berliner Bilder- und Bildungsroman. Zu Gerald Uhlig-Romeros Neuerscheinung stoff.wechsel. Berlin: epubli, 2011, 124 Seiten.

Gerald Uhlig-Romero ist sicherlich einer der schillerndsten Künstlerfiguren des heutigen Berlin. Seine vielseitige Karriere begann er in Wien als Sänger und Schauspieler, um sie bald als Theaterregisseur, Autor von zahlreichen Bühnenstücken, Photograf, Radio-Moderator und Installationskünstler in verschiedenen deutschen Städten fortzusetzen. Ein Highlight seiner Lehr- und Wanderjahre war sicherlich die Inszenierung von Yoko Onos Musical New York Story, mit dessen deutschen Premiere ihn die Künstlerin persönlich beauftragt hatte. In den letzten  Jahren profilierte sich Uhlig-Romero zudem mehr und mehr in den Ausdrucksformen der Malerei, Lyrik und Prosa. Seine Gemälde fanden in nationalen und internationalen Ausstellungen Anerkennung und seine Gedichte erschienen in Buchform und wurden von führenden deutschen Printmedien wie der Frankfurter Allgemeine Zeitung wiederabgedruckt.

Gleichsam als kreative Quintessenz dieser All-Round-Reise durch die Welt der Künste kristallisierte sich das Café Einstein Unter den Linden in Berlin-Mitte heraus, das Uhlig-Romero im Jahre 1996 mitbegründete und heute als alleiniger Inhaber unterhält. In den letzten Jahren hat  es sich unter seiner engagierten Regie zu einer geradezu globalen Schaubühne entwickelt, auf der sich die nationalen und internationalen Akteure der Kultur, Wirtschaft und Politik ein Stelldichein geben und in dessen angeschlossener Galerie führende Künstler vor allem aus den Vereinigten Staaten ihre Werke ausstellen. Zudem wurde Café Einstein in den letzten Jahren auch zum beliebten Begegnungsort von Nobelpreisträgern aus dem In- und Ausland, die sich in regelmäßigen Abständen hier zum informellen Gedankenaustausch treffen. Kurzum, Café Einstein ist die konsequente Krönung von Uhlig-Romeros künstlerischem Schaffen, eine kulturelle Leistung, die ihm mit gutem Recht in der deutschen Boulevardpresse den Titel „Kaffeehauskönig von Berlin“ eingebracht hat.

Diese multi-mediale Erfolgsgeschichte wird allerdings überschattet vom Schicksalschlag Morbus Fabry, einer seltenen Erbkrankheit, an der Uhlig-Romero seit seiner Kindheit leidet, und die ihn vor Jahren fast das Leben gekostet hätte, wäre sie nicht im letzten Moment diagnostiziert worden. Die Gespenstergeschichte dieser heimtückischen Speicherkrankheit hat er 2009 in seinem Buch Und trotzdem lebe ich. Mein Kampf mit einer rätselhaften Krankheit eindringlich beschrieben.

Diese autobiographischen Hintergründe sind nicht unwesentlich für ein besseres Verständnis von Uhlig-Romeros neuestem Buch stoff.wechsel. Peter Baaks, der Protagonist dieses Textes, ist ein 40-jähriger Erfinder und Unternehmer, der es in der sich entfaltenden Internet-Industrie zu großem Ruhm und unermesslichem Reichtum gebracht hat. Zu Beginn des Romans sehen wir ihn in einem Zugabteil, das speziell für seine Reise reserviert worden ist. Er ist versunken in Erinnerungen an die geliebte, frühverstorbene Mutter, an die Leiden der Schulzeit und an die leidenschaftliche Suche nach sich selbst und seiner künstlerischen Selbstverwirklichung. Diese animierte Retrospektive changiert im Verlauf des Narrativs zusehends in die exaltierten Wunsch- und  Wahnwelten unserer heutigen Konsum- und Karrierekulturen und ihren prestige- und profitorientierten High Societies. Der Autor zieht alle kritisch-kreativen Register im Kaleidoskop seines facettenreichen Panoptikums, wobei sich die reale Reise mehr und mehr in eine voyage imaginaire verwandelt. In ihrem Verlauf beschwört die bewegte Bildersprache des Textes auch immer wieder ikonographische Reminiszenzen an die Berliner Kunstgeschichte herauf, seien es die expressionistischen Schrei-und-Angst-Visionen Edvards Munchs, die apokalyptischen Landschaften Ludwig Meidners, die satirischen Skizzen und Sittengemälde von Otto Dix und George Grosz und nicht zuletzt die heftige Malerei der Neuen Wilden im Berlin der achtziger Jahre. Diese kulturgeschichtlichen Assoziationen vermischen sich dabei durchgehend mit naturwissenschaftlichen Evokationen aus dem mikroskopischen und makrokosmischen Universum der Quarks und  Elektronen, der Lichtjahre und ihren unendlichen Dimensionen. Erratische Bildfragmente von „brennendem Eis“ und „gefrorenem Feuer“ treiben darüber hinaus die verkehrte Welt, die unheimlichen Abgründe der deutschen Schauerromantik herauf.

Diese Bewusstseinsflut mit ihrem irrlichternden Bilder- und Wissensgut konkretisiert sich schließlich in der schimärischen Erscheinung einer weiblichen Figur namens Johanna, die der Romanheld im Speisesaal des Zuges trifft und die von Beruf Kellnerin und von Berufung Malerin ist. Der Blick- und Wortwechsel dieser beiden, das Spiel ihrer beginnenden Tuchfühlung, führt schließlich zur vollständigen Enthüllung  ihrer „vollkommenen Schönheit“,  mit der sie sich ihrem Bewunderer zügel- und grenzenlos hingibt – nur um sich danach in den Tod zu stürzen.

Im Gefolge dieser seltsamen Ereignisse verwandelt sich der mondäne Speisesaal in einen ominösen Operationssaal, dessen Decken mit den Szenarien aus Himmel und Hölle ausgemalt sind. Unter diesem zwiespältigen Horizont und seiner halluzinatorischen Erscheinungswelt wird schließlich Baaks‘ krankes Herz durch das einer jungen Frau ausgetauscht, „die sich selbst getötet hat“. Spätestens hier lassen sich Parallelen zum Autor dieses Romans nicht mehr ignorieren. So gewinnt zum Beispiel in der Darstellung von Uhlig-Romeros eigener Krankengeschichte eine Nierentransplantation zentrale Bedeutung, wobei seine junge Frau als Organspenderin eine ausschlaggebende Rolle spielt. So hat der Autor von stoff.wechsel mit der Überlebensgeschichte seines maroden Protagonisten auch seiner eigenen Ehefrau ein mehr oder weniger verschlüsseltes Denkmal gesetzt.

In der weiteren Entwicklung der Handlung stellt sich schließlich heraus, dass Baaks’ Liebhaberin und Lebensretterin mit ihren „25 Jahren bereits einige Milliarden Jahre alt“ war. Auf diese Weise gibt sie sich als eine Verkörperung des „Ewig Weiblichen“, als ein leibhaftiger Avatar der aphroditischen Magna Mater zu erkennen. Darüber hinaus figuriert Johannas Glücksversprechen auch als eine vollständige Verkehrung der Geheimen Offenbarung des heiligen Johannes. Dessen Buch der Sieben Siegel hat sich bei Johanna verwandelt in die Geheimschrift ihres entsiegelten Schoßes: „Sie öffnete ihm ihre Schenkel wie Tagebücher.“ So mutiert das apokalyptische Weltgericht Gottvaters im Himmel in die ekstatische Welterlösung durch die Muttergöttin auf Erden. In dieser chiliastischen Kontrafaktur ist nicht mehr das Wort Gottes, der himmlische Logos, sondern der irdische Eros, die Wollust der Göttin, das schöpferische Urgesetz, das die Welt im Innersten zusammenhält. Goethe hat dieses muttermythische Mysterium auf die Faustische Formel gebracht: „So herrsche denn Eros, der alles begonnen.“

Auf diese epische Rückkehr zu den archaischen Ursprüngen spielt auch eine Anekdote des Romans an, die das Menschenleben mit seinem Tod beginnen lässt, es durch verschiedene Entwicklungstufen bis zu seinen Anfängen in der Gebärmutter zurückverfolgt, um es schließlich im Zeugungsorgasmus enden zu lassen. Diese ontogenetische Regression führt mythographisch gesehen zurück in den elementarsymbolischen Orcus Uterus, das sagenhafte Mutter- und Totenreich, über dessen prima materia die allmächtige Magna Mater herrscht und richtet und deren Urstoffe sie zu lebendigem Dasein verdichtet. Diesem Vorbild entsprechend wird Johanna mehr und mehr zum delphischen Orakel, aus dem immer wieder die Zaubersprüche dieses Stoffwechsels, die Beschwörungsformeln von Zufall und Notwendigkeit, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit wie leitmotivische Nebelschwaden aufsteigen und das gesamte Erzählgeschehen schwängernd durchziehen.

Der Rausch der Bilder und Einbildungen erreicht seinen numinösen Höhepunkt, als Baaks auf einer Kunstauktion das Gemälde „Dame Evolution“ für eine astronomische Summe ersteigert und es damit zum teuersten Kunstwerk aller Zeiten macht. Wie es sich herausstellt, handelt es sich bei diesem Gemälde um ein Selbstportrait Johannas „nackt in einem Zugabteil, die Beine übereinandergeschlagen, schwarze Stiefeletten“. Für Baaks ist dieses Bild ein Inbild sinnlich-sinnbildlicher Vollkommenheit, Darwinsche Domina und Munchsche Madonna in matriarchaler Personalunion. Und so errichtet Baaks, ganz ödipaler Muttersohn, seiner enigmatischen Sphinx eine Art Herrschaftsthron, ein museales Mausoleum, das er täglich zur „geheiligten Stunde“ besucht. Für ihn haben sich in diesem idolischen, erotisch-religiösen Idealbild Kunst und Leben zu einem einzigartigen Gesamtkunstwerk verdichtet.

Hand in Hand mit dieser sakralen Hommage an seine symbolische Kunstfigur geht die satirische Demontage des internationalen Kunstmarktes, dessen Hype und Hysterie in diesem Roman immer wieder zur Zielscheibe von Spott und Hohn werden. Die jüngste chronique scandaleuse um den Gemäldefälscher Wolfgang Beltracchi kann als ein weiteres Exempel gelten für die unheilige Allianz von Kunst und Kapital und ihre zwielichtige Welt aus Tausch und Täuschung. Die doppelte Optik, mit der Uhlig-Romero Sein und Schein dieser Kunstwelt ins Visier nimmt, macht seinen Roman zu einem kongenialen Reflexionsmedium, in dem sich komplexe Aspekte der Berliner Kulturgeschichte beispielhaft widerspiegeln.Wohl keine andere Metropole Europas hat in den letzten Jahren kunstschaffende und kunstvermarktende Synergien so magnetisch angezogen wie das wiedervereinte Berlin. Hier schossen Kunstgalerien aus dem Boden wie einst die Amüsierkabaretts in der Weimarer Republik. Zudem spielte Berlin im zwanzigsten Jahrhundert eine exemplarische Rolle als Barometer für die fundamentalen Veränderungen der Epoche. Hier vollzog sich der Wandel der Moderne, der systematische Paradigmenwechsel von der patriarchalen Realität zur matriarchalen Utopie, sicherlich am spektakulärsten.

Während zum Beispiel im imperialen Berlin Kaiser Wilhelms die Stechschrittparaden der zum Krieg aufmarschierenden preußischen Soldaten das Stadtbild bestimmten, ist vice versa das Image des republikanischen Berlins der Zwanziger Jahren von den Attraktionen der Revue Girls, dem Nackttanz des Weimarer Cabarets und – last but not least – der beginnenden gesellschaftlichen Selbstverwirklichung der „Neuen Frau“ geprägt. Entsprechend wurde die Weimarer Republik als „Frau Republik“ und Berlin als „Hure Babylon“ so berühmt wie berüchtigt. Die treibende Kraft dieser sexuellen Revolution inspirierte auch noch die Eskapaden der Berliner Kommune I zu Beginn der siebziger Jahre und feierte schließlich im Berlin der neunziger Jahre und seiner bunten Love Parades ihre letzten, fröhlich-frivolen Urständ. Ultimatives Sinnbild dieser hedonistischen Körperkultur sind wohl Helmut Newtons weltberühmte „Big Nudes“, die unübersehbar die Wände der Helmut Newton Bar in Berlin Mitte zieren. „Make Love not War“, dieses Fanal der 68er Generation ist ihren veritablen Venus-Figuren buchstäblich von Kopf bis Fuß auf den Leib geschrieben. Ihr photogener Auftritt inszeniert metaphorisch gesehen das Comeback der antiken Amazonen, der fabelhaften Vorreiterinnen aller modernen Frauen-Emanzipationen. Zudem figurieren die schamlos Schönen von Helmut Newton auch als passende Ergänzung zu Käthe Kollwitz‘ gramvoller Mutter in Berlins Alt-Neuer Wache, wo sie der Opfer ihrer zahllosen, im Krieg gefallenen Söhne gedenkt.

Das ikonische Potential dieser imaginären Konstellationen ließe sich kulturutopisch noch bedeutend weiter projizieren. So wie einst die „Langen Kerls“ für den preußischen König ihr Leben in die Schanze schlagen mussten, so könnten heute die „Big Nudes“ sinnbildlich gesprochen der deutschen Kanzlerin als ehrwürdige Leibgarde dienen. Statt männlichem Kampfgewühl böten sie nun weiblicher Sex-Appeal. Damit ließe sich symbolisch bestens Staat und Reklame machen. In diesem Sinne repräsentierten Newtons „Nudes“ nicht nur Weimars legendäre Freikörperkultur, sie reflektierten auch den Geist der heutigen Zeit und sein so vielberufenes Ideal der größtmöglichen Freiheit. So wären diese Super Models auch die Muster- Mädel der Kanzlerin und – quod erat demonstrandum – die schönen Freudenfunken der vielbesungenen „Tochter aus Elysium“.

Angesichts des Wunderjahres 1989 und seiner friedlichen Berliner Revolution – dem Wunder aller deutschen Nachkriegswunder von „Fräuleinwunder“ bis „Wirtschaftswunder“ – ließen sich Newtons „Wonder Women“ auch als wunderbare Wiedergängerinnen von Walter Benjamins „Angelus Novus“, dem umstürmten „Engel der Geschichte“ denken und deuten. Als wandelnd verwandelte „Angela Nova“ könnten sie zu neuen, schönen Schutzengeln von – nomen est omen – Angela Merkel werden, um sie fortan auf ihrem umstrittenen Feldzug als große Mutter Courage der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft schützend und schirmend zu begleiten. – Doch genug der Projektionen in Raum und Zeit, genug der endlosen Männerphantasien rund um die „Imaginierte Weiblichkeit“.

„Back to the Future“, diese Parole der Postmoderne ist auch Uhlig-Romeros Zeitreise auf mannigfaltige Weise eingeschrieben. Anfang und Ende aller menschlichen Sehnsüchte ist und bleibt – allen kritischen Theorien zum Trotz – die „restaurative Utopie“ der Großen Mutter, in anderen Worten, das aphroditische „Paradise Now“. Dieser mythisch moderne Spannungsbogen verleiht auch Uhlig-Romeros Bilder- und Bildungsroman seine innere Dynamik und dem wissenschaftlichen Eros seines schillernden Liebespaares immer wieder logische Kohärenz und imaginative Brillanz.

Frederick A. Lubich

 

Grit Poppe, Abgehauen (Hamburg: Cecilie Dressler Verlag, 2012) 336 Seiten.

„Es war dunkel, vollkommen dunkel. Sie stand allein in der Finsternis und rührte sich nicht.“ Sie ist die 16jährige Gonzo, die seit Tagen wegen rebellischen Verhaltens in Einzelhaft in einer Dunkelzelle im berüchtigten Jugendwerkhof im sächsischen Torgau einsitzt.

Es ist Spätsommer 89. Von Veränderung oder gar Zusammenbruch der DDR ist in dem Knast, in dem sogenannte verhaltensauffällige Jugendliche zu „vollwertigen sozialistischen Persönlichkeiten umerzogen“ werden sollen, nichts zu spüren. Gonzo ist sadistischen „Erziehern“ und willkürlicher körperlicher wie psychischer Gewalt erbarmungslos ausgesetzt. Nur einen Weg aus der Hölle gibt es: Sie verletzt sich so schwer, dass sie in ein Krankenhaus muss. Bei der Überführung in ihren Stammwerkhof nutzt Gonzo eine Pinkelpause als Gelegenheit zur Flucht.

„Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere“, heißt vielleicht darum sinnbildlich eine Zwischenüberschrift in dem neuen Roman „Abgehauen“ von Grit Poppe, in dem Gonzos Odyssee durch diverse Kinderheime und Werkhöfe erzählt wird, aus denen sie abhaut (im DDR-Jargon wird sie unter der Rubrik  „Dauerentweicherin“ geführt), immer wieder eingefangen wird, bis sie schließlich in Torgau landet.

Sie entkommt, trifft in einer Schrebergartensiedlung auf den 18jährigen René, der über Prag aus der DDR fliehen will. Sie schließt sich ihm an. Das ist die andere Tür, die sich ihr öffnet, raus aus der DDR, „in ein Land ohne Torgau“, denn „wenn dir ein Riegel durch die Seele gerammt wird, hast du jedes Recht der Welt, nach dieser verdammten Tür zu suchen.“  Gemeinsam wagen sie den Weg über die grüne Grenze von Sachsen in die Tschechoslowakei und finden in die deutsche Botschaft, wo sie, wie Tausende andere, auf dem Gelände ausharren.

Eindringlich, als wäre sie selber dort gewesen, beschreibt Poppe im zweiten Teil des Buches die Zustände in der Prager Botschaft: die beengten Verhältnisse, das ewige Warten, den Schmutz, die Langeweile, die Zweifel, die wachsende Anspannung, die sich in Aggressionen entlädt, weil die Menschen zur Untätigkeit verdammt sind.

Doch das sind nur die äußeren Umstände. Vielmehr geht es Poppe in Abgehauen — dem Nachfolgeroman von Weggesperrt, in dem sie bereits den Weg der 14jährigen Anja durch staatliche Erziehungsanstalten schilderte — um die Verwüstungen der Seele, die Erlebnisse an Orten wie Torgau hinterlassen.

Stets verflechten sich Begebenheiten mit Assoziationen. So erzeugt der Geruch von Sauerkraut bei der Essensausgabe im Hof der Prager Botschaft einen widerlichen Geschmack auf der Zunge, Gonzo hört Riegel knallen, einen Schlüssel im Schloss, „dann wird es dunkel, stockdunkel“.

In äußerst prägnanter Sprache, beinahe abgehackten Sätzen, beschwört Poppe die Schrecknisse herauf, schildert feinnervig die Gefühlswelt der Protagonistin, wobei sich die Autorin auf Zeitzeugenberichte stützt, verwebt ziseliert Gegenwart und Vergangenheit. Kleinste Begebenheiten katapultieren Gonzo in die Hölle zurück . Unvermittelt ist er wieder lebendig, der „Torgauer Dreier“, eine Kombination aus Liegestütz, Hockstrecksprung und Hocke, der bis zur völligen Erschöpfung ausgeführt werden musste. Oder der „Entengang“: die Treppen hoch und runter, bis  einer zusammenbricht. Die Zwangsarbeit wie das Zusammenschrauben von Waschmaschinenschaltern – und wehe, die Norm wurde nicht erfüllt.  Krank werden gab es nicht. Wer sein Essen erbrach, musste das Erbrochene aufessen. Wer sich nicht mehr zu helfen wusste, schluckte schon einmal Schrauben oder Nägel.

Was bleibt, ist ein verunsicherter, misstrauischer junger Mensch, der schweigt, über das, was war. „Ihr war nicht zu helfen. Niemand konnte das. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern. Sie hatte sich in ihr festgesetzt: in ihrem Blut, ihren Knochen, ihrem Herzen.“ Es ist ihre ganz persönliche Hölle, der Gonzo scheinbar nicht entrinnen kann, die ihr wie ein böser Kobold, sie nennt ihn „Panik-Punk“,  im Kopf sitzt und jeden Versuch der Befreiung von den dunklen Schatten zu torpedieren sucht: „Eine Flucht ist sinnlos. Wohin du auch gehst, du wirst ES immer mit dir herumschleppen“.

Auch wenn am Ende Genscher die Ausreise der Flüchtlinge in die Bundesrepublik verkündet und der Weg frei ist, die Türen offen sind, Gonzo endlich ein neues Leben beginnen kann, kommt sie nicht los vom alten. Es verschwindet nicht einfach wie das Jugendgefängnis, das nach dem Mauerfall stillschweigend aufgelöst wurde. Gonzo begibt sich noch einmal zurück an den Ort der Folter. Die Sichtblenden der Zellenfenster und der Stacheldraht sind abmontiert und verrotten im Hof, Unkraut bahnt sich überall seinen Weg. „Schau mal einer an, da wollen sie wohl Gras über die Sache wachsen lassen.“  Solche Verknappungen, ebenso wie die Selbstzweifel und Verunsicherungen der Protagonistin und der von Poppe durchweg nüchern gehaltenene Ton, ohne jegliche Larmoyanz, sind es, die das Buch zu einer überaus beklemmenden Lektüre machen.

Susanne Schädlich (Berlin)

 

Ulrich Bergmann, Doppelhimmel Bonn: Free Pen Verlag, 2012. 182 Seiten 

Halle an der Saale. Sowjetische Besatzungszone. Anfang der Fünfziger Jahre.  Hier wohnt Janus Rippe zusammen mit seiner Mutter und seinen Großeltern Luise und Carl in einem bürgerlichen Haus. Janus’ Vater Robert, ein Arzt, gilt als verschollen. Das Kind, es wurde im letzten Fronturlaub gezeugt und wird im vorletzten Kriegsjahr geboren, kennt seinen Vater nicht.  Eine typische Nachkriegsfamilienkonstellation, eine vom Krieg verwundete Familie.

Mit  Doppelhimmel hat Ulrich Bergmann,  selber aus Halle stammend, seinen ersten Roman vorgelegt, der biografische Züge erkennen lässt. Feinfühlig und unsentimental erzählt er darin den Kosmos einer Familie in der Zeit nach 1945. Das besondere daran: er erzählt die Geschichte zum größten Teil aus Sicht des Jungen Janus, der, neugierig, aber vor allem unversehrt, die zerrüttete Welt der Großen erfährt, ohne sie als zerrüttet zu empfinden. Er ist wie ein Schwamm. Nimmt wahr, setzt sich aus, hört hin, lässt sich ein, deutelt nicht.

Es ist ein scheinbares Miteinander, denn im Grunde lebt jeder für sich allein, die Erwachsenen mit ihrer Vergangenheit und den Erinnerungen, das Kind in seiner Phantasie, und doch leben sie alle unter einem Dach.  Da ist Usch, Janus Mutter, jung und lebensfroh. Janus’ eigenwilliger Großvater, der sich dem Aufbau eines neuen Deutschland verschrieben hat, sich noch Illusionen hingebend liberaldemokratische Artikel verfasst und weltfremd über alte Zeiten und große Themen philosophiert wie Gott, das Leben und den Tod.  Die Großmutter Louise, zupackend, der Fels in der Brandung,  den Umständen entsprechend realistisch. Und eben Janus, der den Namen des römischen Gottes des Anfangs und des Endes, der Ein- und Ausgänge, der Türen und Tore trägt. Mittler zwischen Menschheit und Göttern. Als könnte er irgendwann die Brücke schlagen zwischen dem Jetzt und Später. Janus unter zwei Himmeln, auch politisch, Deutschland ist geteilt.

Doch Janus ist ein Kind, gerät als solches in das Getriebe des Weltgeschehens und der Erwachsenenwelt mit all ihrer Schuld und Geschichte. Konkret wird sie, als Janus’ Vater 1953/54 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt. Usch hatte ihn für tot erklären lassen, hat wieder geheiratet und ein zweites Kind. „Janus ist neun, er hat Usch und Mama Luise und Carl. Und er hat einen Vater. Der war tot. Aber jetzt lebte er wieder.“

Bergmanns Stil ist eindringlich, knappe Sätze evozieren Bilder und Emotionen, kunstvoll variiert der Autor die Erzählperspektiven. Störend allein, wenn er sich als Ich-Erzähler einbringt und aus der Gegenwart reflektiert.  Immer wieder mischen sich Gedanken und Erinnerungen in die Geschichte von Janus, am eindrucksvollsten die Schilderung der Kriegs- und Gefangenenerlebnisse des Vaters.  Illusionen, Träume, Hoffnungen, sie haben im Himmel, egal welchem,  keinen Platz. „Die Hoffnung ist Wundpflaster und Selbstbetrug zugleich“, so hatte sich Robert sein Dasein schon im sibirischen Schweigelager zurechtgelegt.  Nach seiner Heimkehr beschließt er, in die Bundesrepublik zu gehen. Seine Eltern, die in der DDR längst als ‚reaktionär’ gelten und im Visier der Staatssicherheit sind, holt er nach.

Janus kommt ebenfalls zum Vater, Usch übergibt ihn höchstpersönlich, sozusagen als Schuldpfand. „Gib Robert wenigstens seinen Sohn! Kein Tag ohne diese Gedanken … an Russland, an das Lager… Ich war allein, ich war eine junge Frau. Ich wollte wieder leben, ich verlor mich an den Frieden, der Stacheldraht schnürt mir die Luft ab, der Stacheldraht in Russland, und der Stacheldraht hier“, so resümiert Usch.

So ziehen sich Trennung und Teilung durch das Leben des Knaben. Nichts ist zu haben, ohne etwas anderes dafür hergeben zu müssen. Doch er ist sonderbar entrückt. Unweigerlich hineingezogen in die Geschichte der Eltern und Großeltern, „Ich bin geteilt“ sagt Janus; als er 1967 in Ost-Berlin seiner Mutter begegnet, will er sich ihr gleichzeitig entziehen.

Doch ein Ende gibt es nicht, auch keine Türen und Tore. Er steht dazwischen. Zwischen Vater und Mutter, Ost und West, sich und der Welt, kann kaum etwas dagegen setzen. Mit „Doppelhimmel“ ist Bergmann ein bewegendes Buch über das geteilte Deutschland der Nachkriegszeit gelungen, das es zu entdecken gilt.

Susanne Schädlich (Berlin)

 

Bernd Cailloux, Gutgeschriebene Verluste. Roman memoire. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012

Café M, Domina, Dschungel, Risiko, Ruine, Kumpelnest, das Café Swing. Wer kennt sie nicht, diese Orte aus den guten alten Zeiten im guten alten Westberlin. Ich eroberte sie erst mit 16 oder 17 für mich, in den 80ern, als die hippen Künstler und Schriftsteller und Musiker schon in die Jahre kamen, dort herumhingen, das Flair der Bohéme verbreiteten und das alternative Kunst- und Kulturleben dieser halben Stadt prägten. Einstürzende Neubauten, Notorische Reflexe, Manna Maschine. Jeder war ein Star, und wer noch keiner war, wollte einer werden. Ich bestaunte sie, diese Leute und diese Welt, saß meist in einem dieser Cafés, scheu, mit einem Buch und beobachtete.

Jetzt, dreißig Jahre später, halte ich wieder ein Buch in der Hand: „Gutgeschriebene Verluste“ von Bernd Cailloux, Jahrgang 1945. Ich schmunzle des öfteren nicht schlecht, denn obwohl ich so viel jünger bin, so erkenne ich doch den einen oder anderen Portraitierten wieder in dieser selbstironischen, zuweilen sarkastischen, Lebensbilanz eines „Übriggeblieben“.

So nennt ihn seine wesentlich jüngere Freundin, die er im Café Fler in Schöneberg kennenlernt. Diese Liebesgeschichte zwischen Ella und dem Flaneur, der nun sein Leben durchstreift wie einst Franz Hessel das Berlin der 20er Jahre, bildet die Rahmenhandlung des Romans. Nach kurzfristiger Ekstase des Glücks zeigen sich unüberbrückbare Differenzen zwischen dem zaudernden Ironiker und der zur Exaltiertheit neigenden, überemotionalen Alleinerziehenden. Der durchs Leben treibende, einzelgängerische, launische Mittsechziger und „sich selbst zum Geistesmenschen erhebende Geringverdiener” ist zum gemeinsamen Nestbau nicht zu überreden. Der schwindenden Hoffnung auf eine feste Bindung geschuldet, schüttet Ella ihren ganzen Männerhaß über dem Helden aus, und so führt der späte Versuch, eine konventionelle Bindung einzugehen, sich ganz konventionell selbst ad absurdum. Die tragische Komik dieser Beziehung verwandelt sich in melancholisches Scheitern, das irgendwie immer vorprogrammiert zu sein scheint.

Sein zweites Gegenüber hat der Ich-Erzähler in Leiser, einem Freund aus alten Tagen, einem wortkargen Poeten, der es, im Gegenteil zum Erzähler, zu etwas gebracht hat, mit dem er im Fler über alles und jeden spricht und der sein kritisches alter ego zu sein scheint. In der Rückbetrachtung werden sich gegenseitig die Versäumnisse und Verfehlungen aufgetischt – das Leben passiert Revue.

Eine Reise mit Ella an den Geburtsort im Thüringischen bringt zwar ein wenig Licht ins Dunkel der frühesten Kindheit des Ich-Erzählers, stellt sich aber als „therapeuticum interruptum“ heraus, weil eben doch nicht das ganze Leben mit den frühen Leiden und Verlusten zu erklären bzw. zu rechtfertigen ist; ebensowenig mit der Hepatitis C, die er sich in einer Drogennacht beim needle sharing vor Äonen eingefangen hat. Auch das Virus – eine Metapher für die 1968er? -, muß für das halb verkrachte Leben herhalten und führt jetzt zur klinischen Diagnose von noch zwei Jahren Lebenszeit. Nur die Inferon-Therapie kann den sicheren Tod abwenden. Katharsis in der Postmoderne.

„Gut geschriebene Verluste“ hat keine chronologische Handlung. In kreisenden Reflexionsprozessen setzt der Autor immer wieder an neuen Lebensstationen an, mit feiner Ironie führt er sich und die 1968er vor, die Hedonisten, die alles umwälzen, die nicht dazu gehören wollten und jetzt etabliert in sicheren Häfen ihren spießigen Existenzen frönen. Nur der Held des Romans ist und bleibt ein „Schwellenwesen“, wie er am Ende so schön non chalant feststellt, als er zusammen mit dem Ex-Terroristen Peter Jürgen Boock und anderen Mitdiskutanten auf einem Podium sitzt und merkt, er sitzt mal wieder zwischen allen Stühlen, jedes bon mot verfault ihm im Munde, und mit dem SDS konnte er sowieso nie mithalten.

So ist das mit der Vergangenheit. Sie ist voller Abgründe und Peinlichkeiten, vor allem aber voller Verluste, die aber gutgeschrieben werden müssen. Das ist Bernd Callioux glänzend gelungen: Gut geschrieben, abgeklärt, gnadenlos bissig, pointiert ist es, dieses autobiographische perpetuum mobile, das den vermeintlichen Glanz einer ganzen Generation noch einmal aufleuchten läßt, die sich selbst erledigt hat. Nicht mehr Zukunft, sondern Vergangenheit ist er, stellt der Ich-Erzähler irgendwann lakonisch fest, als sei es schon immer so gewesen, und kehrt die Maxime seiner Sinnsuche, daß das Leben zwar rückwärts verstanden, aber vorwärts gelebt werden müsse (Kierkegaard), sinnreich um.

Susanne Schädlich, Berlin

 

Hans Joachim Schädlich: Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II. Eine Novelle. Rowohlt. Reinbek bei Hamburg 2012

Friedrich II. von Preußen war eine höchst widersprüchliche Persönlichkeit. Einerseits hat er sein Land zur Großmacht erhoben, nutzbringend den Kartoffelanbau befördert und Sumpfgebiete trockenlegen lassen, ja sogar Rechtsgleichheit verfügt und ein Toleranzgebot erlassen, die Folter (allerdings nicht die Leibeigenschaft) abgeschafft, ferner sein Rokokoschloß Sanssouci ganz nach eigener Vorstellung erbaut, barocke Flötenstücke komponiert und Gedichte in französischer Sprache verfaßt. Deshalb galt der Autor der bemerkenswert human angelegten Schrift „Antimachiavell“ nicht wenigen als aufklärerischer „Philosoph auf dem Thron“ sowie, eigener Bekundung nach, als „der erste Diener seines Staates“.  Auf der anderen Seite aber charakterisierte ihn, wenn man der begründeten Meinung des Schweizer Kulturhistorikers Jacob Burckhardt folgt, eine völlige „Mißachtung der menschlichen Würde“. In der Tat gehörte er zu den schlimmsten Kriegsverbrechern und Massenmördern seiner Zeit. Rücksichtslos verfolgte der ruhmgierige Hasardeur nämlich seine widerrechtliche Machtpolitik. Nicht ohne Grund galt der „alte Fritz“ in den betroffenen Gebieten als berüchtigter „Witwenmacher“. Über eine Million seiner Untertanen verloren durch das eroberungssüchtige Gehabe des Königs ihr Leben.

Die Erhebung des Preußenkönigs durch die Nachwelt zum „Großen“ hat viel zu tun mit dem auffallenden Mangel an überzeugenden Regierenden in deutschen Landen seit der Neuzeit, ebenso mit dem Mißverständnis, in ihm einen „aufgeklärten Monarchen“ zu sehen. Denn allemal endete sein Aufklärungsbedürfnis dort, wo sein absoluter Machtanspruch tangiert wurde. Bezeichnenderweise legte Friedrich Schiller Wert auf die Bemerkung über seinen Zeitgenossen, er könne „diesen Charakter nicht liebgewinnen“. Sogar der zur Zeit des Ersten Weltkriegs eher preußenfreundliche Thomas Mann mußte in seinem Aufsatz von 1915 über „Friedrich und die große Koalition“ einräumen, der ungute Charakter des Königs sei mit zunehmendem Alter „noch höhnischer und boshafter denn zuvor“ geworden.

Die besondere Vorliebe des sich gerne als Schöngeist gerierenden Herrschers, der mit der deutschen Sprache auf Kriegsfuß stand, gehörte der Kultur Frankreichs. Deswegen bemühte er sich um die Gunst Voltaires, der als „König der Philosophen“ höchstes Ansehen in ganz Europa genoss. Dieser vielseitig begabte Freigeist repräsentierte unangefochten die Kultur seines Landes. Er hatte lediglich eine große Schwäche: er war adels- und geldversessen. Zwar hatte diese Einstellung einen durchaus achtbaren Grund. So glaubte er seine Unabhängigkeit als freier Schriftsteller sichern zu können. Doch trieb er dabei im Falle des preußischen Absolutisten, wie sich zeigen sollte, den Teufel mit Beelzebub aus. Der Kontakt zu dem achtzehn Jahre jüngeren König schmeichelte freilich seiner Eitelkeit. Ungeachtet der Warnungen seiner Geliebten, Emilie du Châtelet, beging er den Fehler, sich auf das gefährliche Spiel mit dem absolutistischen König einzulassen.

Die ungleiche Beziehung zwischen Regent und Freigeist ist Gegenstand des neuen Buches von Hans Joachim Schädlich. Im Gegensatz zu den meisten der zahlreichen Veröffentlichungen zum 300. Geburtstag des ‚großen Königs‘ ist es ihm nicht darum zu tun, die Bedeutung von dessen Leben und Wirken darzustellen. Mit souveränem Überblick über die gegebenen Fakten konzentriert er seine Erzählung auf die wesentlichen Momente des für Friedrich unrühmlichen Ablaufs der Begegnung beider. Insgeheim wird im selben Zug der unselige preußisch-deutsche Mythos vom „großen König“ demontiert. Ersichtlich hat der Autor vor dem Beginn der Arbeit an seiner Geschichte eine Fülle von Quellen genau studiert: Briefe, Dokumente, Biographien und Abhandlungen. Stellenweise wirkt die Erzählung wie eine Montage überlieferter Fakten. Aber Schädlich war von Beginn an ein Meister der Verbindung von historischen Zeugnissen mit eigener Erfindung. So auch hier. Durch die Authentizität seines Schreibens wird Faktisches Fiktion und Fiktion faktisch. Mit bewundernswerter Fähigkeit zur narrativen Reduktion gelingt es ihm auf nicht ganz 150 Seiten, die entscheidenden Begebenheiten des Zusammentreffens dieser konträren historischen Persönlichkeiten mit konkreter Schärfe zu vermitteln. Beispielhaft verfolgt er dabei den eigentlichen Antrieb seines Schreibens weiter: den Mißbrauch der Macht anzuprangern und ihm ein, oft zwischen den Zeilen verstecktes, aber deutlich spürbares Zeichen humaner Haltung entgegenzusetzen.

Klar gegliedert in zwei Teile entfaltet Schädlich seinen Erzählzusammenhang. Der erste Teil beschreibt in 18 Kapiteln den Beginn der freundschaftlichen Begegnung zwischen Friedrich von Preußen und dem „König der Aufklärung“ in den Jahren von 1736 bis zum Aufbruch Voltaires nach Potsdam 1750. Der aus 14 Kapiteln bestehende zweite Teil deutet lediglich kurz den Verlauf seines fast dreijährigen Aufenthalts bei Friedrich II. (1750-1753) an, konzentriert sich jedoch hauptsächlich auf die Wiedergabe des kläglichen Endes der unmöglichen Verbindung von Freigeist und Machtmensch. Mit der ausführlich geschilderten Inhaftierung Voltaires in Frankfurt erreicht die Darstellung dann ihren bezeichnenden Endpunkt. Von diesem schäbigen Finale her geht dem Leser auf, warum der Marquis de Mirabeau nach dem Tod Friedrichs 1786 nüchtern registrieren konnte. „Alle Welt beglückwünschte sich. Kein Bedauern wird laut“.

Der frei entwickelte Erzählzusammenhang enthält eine Menge eingefügter Zitate aus Briefen und anderen Quellen. Authentisch sprechen sie für oder gegen die Urheber. Dennoch gibt der Autor den Erzählfaden keinen Augenblick aus der Hand. Er entscheidet über die Auswahl. Die eigenen Schilderungen und in den Kontext von ihm eingearbeitete Dialoge ergänzen, gelegentlich nicht ohne ironische Untertöne, die zitierten Partien. Historische Realität und Erzählwirklichkeit sind so aufeinander abgeglichen, dass manch ein Leser vom spannenden Geschehen voll absorbiert werden kann und dabei die durch den Gestaltungsprozess herbeigeführte poetische Verwandlung übersieht. Denn der Erzählablauf enthält einen für das ästhetische Verständnis entscheidenden, durchgängig mitschwingenden kommentierenden Subtext. Um ihn zu vermerken, bedarf es gründlich mitvollziehender Reflexion.

Souverän setzt Schädlich die von ihm gewollten Akzente. Die wohlüberlegte Komposition verfolgt ein klares Ziel. In jedem Kapitel kommt schlaglichtartig eine sich einprägende charakteristische Verhaltensgeste zum Ausdruck. Etwa, um ein Beispiel herauszugreifen, im fünften Kapitel (I,5) die für die stimmige Beziehung zwischen Voltaire und seiner „göttlichen Geliebten“ (27), Emilie du Châtelet, mitgeteilte Beobachtung: sie „fühlten sich … glücklich, als Liebende, als geistige Arbeiter, als Freunde“ (23). Über diese qualitative Zuschreibung kann man lange nachdenken. Offenkundig bildet die menschlich gelingende Begegnung den Gegenpol zu der am Ende katastrophal mißlingenden ‚Freundschaft‘ mit Friedrich, dem bloß vorgeblichen Aufklärer, weil der sich als rücksichtsloser Despot mit einer „Schlachterseele“ (56) entpuppt.

Oder als weiteren Beleg ein anderes Schlaglicht: Die klare Erkenntnis Emilies im achten und elften Kapitel (I,8, I,11), dass Friedrich den umworbenen Voltaire nur für seine Interessen benutzen will: „Er ist nicht dein Freund. Er will dich besitzen, wie er andere Schmuckstücke besitzt. Du sollst seinen Ruhm mehren“ (47). Weil diese besondere Frau Friedrichs Absichten durchschaut und ihn deswegen ablehnt, wird sie zur menschlich überzeugenden Kontrastfigur. Friedrich erkennt das rasch und will sie darum wegschieben. Ungescheut schreibt er Voltaire: „Es geht … um Sie, um meinen Freund. … Die göttliche Emilie, bei all ihrer Göttlichkeit, ist doch nur ein Accessoire des newtonisierten Apoll“ (47). Freilich schützt die Klarsicht der Geliebten Voltaire nur, solange er mit ihr zusammen ist, – „Solange ich lebe“ (47), wie sie ihn ahnungsvoll wissen läßt.

Voltaire reagiert anders. Viel zu sehr fühlt er sich vom königlichen Werben geschmeichelt. Obwohl er schon bei der ersten Begegnung auf Schloß Moyland bei Kleve erfahren muß, dass der vermeintliche schöngeistige Partner in Wahrheit ein übler „Machtmensch“ (47) ist, der, ohne ihm gegenüber auch nur ein Wort darüber zu verlieren, seine Truppen aufmarschieren läßt, wo und wie es ihm gerade zupaß kommt. Ungeachtet dessen gefällt der Philosoph sich in der Rolle des Mentors für den von ihm als „Salomon des Nordens“ (44 und 51) gefeierten Herrscher. Schlimmer noch: Nach Friedrichs Überfall auf Schlesien notiert er zwar für sich die zutreffende Bemerkung: „Der König von Preußen hält sich für einen zivilisierten Mann, doch unter der dünnen Außenhaut des Ästheten liegt … die Seele eines Schlachters“, lobt ihn jedoch ebenso als seinen „Helden“. Einerseits schreibt er ihm mahnend: „Werden Sie denn niemals aufhören, Sie und Ihre Amtsbrüder, die Könige, diese Erde zu verwüsten, die Sie, sagen Sie, so gerne glücklich machen wollen“ (59). Gleichzeitig aber betont er emphatisch: „dennoch, großer König, lieb‘ ich Sie“ (60). Zwei Reisen nach Rheinsberg 1740 und Berlin 1743 vertieften dann eher noch die beidseitige Wertschätzung. So kam es, wie es kommen mußte.

Bald nach Madame du Châtelets frühem Tod macht Voltaire sich, der dringlichen Aufforderung Friedrichs folgend, im Juni 1750 auf nach Sanssouci („Sire, ich eile“, 84 und Titel). In seiner Verblendung begibt er sich ungeschützt in die Höhle des Löwen. Er wird, nach außen mit allen Ehren bedacht, als Kammerherr unversehens zum Besitz Friedrichs („Voltaire – besitzen! Schlesien – besitzen“ (85). In Kapitel II,2 findet sich das vom Autor für diese ambivalente Situation treffend ausgewählte Bild: „Friedrich streichelte Voltaire mit königlicher Samtpfote. Voltaire schien vergessen zu haben, dass es eine Tigertatze war, deren Hieb ihn zerschmettern konnte“ (87). Wahrlich, eine Schlüsselmetapher des Ganzen.

Den zeremoniell geregelten Umgang während des für den Philosophen in intellektueller Hinsicht bald eher langweiligen Aufenthalts läßt der Autor weithin beiseite. Ihn interessieren die Auswirkungen auf den privilegierten, aber bald nicht mehr so gern gesehenen Gast. Zunächst gelten des Königs „verletzende Scherze“ beim abendlichen Souper noch anderen. Als jedoch Voltaires unglückliche Finanzspekulation mit sächsischen Steuerscheinen ruchbar wird, demütigt ihn Friedrich mit Vorwürfen. Ein letztes Mal beugt sich der abhängig Gewordene den Launen des Regenten: „Ich habe Ihnen mein Leben geweiht. … Haben Sie Mitleid mit Bruder Voltaire“ (96). Er muß indes vernehmen, dass Friedrich über ihn verlauten ließ: „Ich brauche ihn höchstens noch ein Jahr. Man preßt eine Orange aus und wirft die Schale weg“ (97).

Insgeheim war damit der Bruch vollzogen. Nun konnten die Masken der Freundschaft fallen. Zum offenen Konflikt kommt es bald danach, weil Voltaire sich bei der Kontroverse zwischen Maupertuis, dem Präsidenten der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, und Samuel König auf die Seite des in den Niederlanden tätigen Gelehrten stellt, obwohl Friedrich seinen Akademie-Präsidenten stützt. Für Voltaire ging es darum, die Freiheit des Schriftstellers zu verteidigen. Deswegen veröffentlicht er gegen die von Friedrich eigenhändig verfaßte Streitschrift für Maupertuis eine Spottschrift, welche der verärgerte König in Anwesenheit Voltaires verbrennen läßt. Die dann noch folgende öffentliche Verbrennung auf dem Berliner Gendarmenmarkt macht ihm vollends die Gefahr bewußt, in der er sich befindet. Darum will er nun bloß noch „ehrlich … desertieren“ (117). Friedrich gibt ihm den erbetenen Abschied mit der Auflage: „lassen Sie mir vor Ihrer Abreise Ihren Dienstvertrag, Kreuz (Orden Pour le mérite) und Schlüssel (Kammerherrn-Schlüssel) und den Gedichtband zurückbringen, den ich Ihnen anvertraute“ (119). Unverzüglich reist Voltaire am 26. März 1753 ab, allerdings ohne die ersuchten Objekte zurückzugeben. Er war der Meinung, „der Gedichtband stehe ihm zu angesichts der zahlreichen stilistischen Hilfen, die er Friedrich geleistet hatte“ (119). Das sollte er in der Folge bitter bereuen.

Die Reise Voltaires wurde schon in Frankfurt am Main jäh unterbrochen. Dort hatten zwei preußische Gesandte, Kriegsrat Freytag und Hofrat Schmidt, den von Friedrich erlassenen Befehl, dem Durchreisenden unverzüglich den Kammerherrenschlüssel und den Orden „ab(zu)fordern … und alles Beschriebene, … ingleichen ein Buch, welches Einlage besaget“ abzunehmen. Widrigenfalls solle er „arretiert“ werden. Erst wenn ihm „ohne Komplimente Alles genommen“ sei, dürfe er „alsdann reisen“ (121 f.). Mit einem zweiten Befehl wurde präzisiert, „alle königlichen Manuskripte“ und „das Buch … Oeuvres de Poésie“ (123) seien sicherzustellen. Da Voltaire allein die königlichen Briefe, das Ordenskreuz und den Schlüssel aushändigen konnte, weil das Buch sich in einer in Leipzig zurückgelassenen Kiste befand, wurde ihm die Weiterreise unter Androhung der Arretierung verweigert. Er mußte sich ehrenwörtlich verpflichten, „unter Hausarrest im Gasthaus zu bleiben“ (124), bis die Kiste nachgekommen sei. Die Behörden der Freien Reichsstadt ließen das, vom königlichen Befehl eingeschüchtert, geschehen. Damit begann eine böswillige Schikane, die Voltaire später mit guten Gründen als „Ostgoten- und Vandalengeschichte“ bezeichnete (140). Es zeigt das wahre Gesicht des rachsüchtigen Königs und seiner willfährigen Handlanger, dass der Gefangene nicht nur über einen Monat festgehalten und in übler Weise schikaniert wurde, sondern dazu auch noch sein ganzes Reisegeld abgenommen bekam. Der lange Arm des Preußenregenten bewirkte sogar die Verweigerung des Aufenthalts im Einflußbereich des französischen und lothringischen Hofes. Mit einem Schlag war Voltaire „heimatlos“ (141). Aber er hatte nun seine Freiheit wiedergefunden.

Spürbares Vergnügen bereitete es Schädlich, in einem gesonderten Kapitel (II,6) am Beispiel einer ganzen Reihe von Briefen Friedrichs an seinen Kammerdiener Fredersdorf den miserablen Umgang des Monarchen mit der deutschen Sprache kritisch zu beleuchten. Zu Recht läßt er dabei durchblicken, wie sehr der die deutsche Literatur verachtende, selbstverliebte Schöngeist sich mit einer Art „Kutscherdeutsch“ (31) an seiner Muttersprache versündigte. Nebenbei deutet der Autor mit den zitierten anteilnehmenden Briefen an Fredersdorf äußerst diskret die homophile Neigung des Königs zu seiner „Pompadour“ (Wolfgang Burgdorf) an. Nicht ohne Grund vermißte Voltaire am preußischen Hof die „Anregung schöner Frauen“ (53).

Der vom Autor spannungsreich ausgestaltete Erzählbogen wird im kurzen Schlußkapitel (II,14) gezielt noch einmal weitergeführt. Im auswertenden Epilog findet nämlich Voltaire, der wieder freie Schriftsteller, hoch über dem Genfer See „ein köstliches Refugium: Les Délices – Die Wonnen“ (141). Die Wortwahl Voltaires für seine Bleibe bezeugt resümierende, in sich ruhende Gefaßtheit. Schädlichs Erinnerung an den Hausnamen genügt, um diese wichtige Haltung zu vermitteln. Damit kommt die letzten Endes unmögliche Begegnung Voltaires mit Friedrich II. zu ihrem wirkungsvollen Abschluß. Zurück bleibt im Bewußtsein des Lesers das entlarvende Bild eines zynischen Machtmenschen und das versöhnliche Gegenbild eines freien Denkers sowie, ergänzend und menschlich vertiefend, das Warnbild der hellsichtigen Emilie du Châtelet, jener großen Verfechterin vollkommener Unabhängigkeit. Hauptsächlich um dieses Paares willen hat der Autor seine ebenso scharfe wie überzeugende Abrechnung mit dem sogenannten großen, menschlich jedoch sehr kleinen Friedrich vorgenommen.

Angesichts der überwältigenden Flut mehr oder weniger huldigender Darstellungen zum 300. Geburtstag dieser vermeintlichen Lichtgestalt der deutschen Geschichte kann der kurzen, aber eindringlichen Erzählung Schädlichs wohltuender Abstand aus der Sicht eines kritischen Humanisten bescheinigt werden. Er hat das Kunststück fertig gebracht, die sich über einen weiten Zeitraum erstreckende Partnerschaft zweier Charaktere in ihrem Kern herauszukristallisieren, ohne sie auf ein Schema einzugrenzen. Mit unnachahmlicher Finesse versteht es nämlich der Autor, den dargestellten Figuren Lebensfülle einzuhauchen. Sie sprechen zu uns. Dank der parabolischen Stilhaltung des Textes zielt der erzählte Fall des 18. Jahrhunderts unmittelbar auf das Bewußtsein eines jeden heutigen Lesers. Ihm obliegt es, die damit zur Entscheidung vorgelegte Wahl zu treffen.

Theo Buck, Aachen

 

Anna Schädlich – Susanne Schädlich (Hrsg.), Ein Spaziergang war es nicht. Kindheiten zwischen Ost und West. Wilhelm Heyne Verlag. München 2012

An Berichten oder Zeugnissen von Künstlern und Intellektuellen, die in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Dissidenten und Regimegegner die DDR verlassen mußten, ist kein Mangel. Allerdings bleibt bei der Darstellung ihrer weiteren Lebensläufe meist unberücksichtigt, dass sie in der Regel nicht allein vom einen Teil Deutschlands in den anderen übersiedelten, sondern ihre Familienmitglieder, vor allem die Kinder mitnahmen. Für sie, die ungefragt den Systemwechsel erleben mußten, bedeutete das Herausgerissenwerden aus dem bisher gewohnten Alltag oft einen existentiellen Bruch mit langanhaltenden psychischen Nachwirkungen. Es ist den beiden gleichfalls davon betroffenen Herausgeberinnen hoch anzurechnen, mit dem von ihnen zusammengestellten Buch diese Lücke geschlossen zu haben. Die von ihnen versammelten Beiträge geben dem Leser, ungeachtet des unterschiedlichen Niveaus der Lebensgeschichten, Aufschluß über dieses bisher ausgespart gebliebene Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte. Die achtzehn Berichte der neunzehn zwischen 1965 und 1980 geborenen ‘Schicksalsgenossen und –genossinnen‘ ergeben im Zusammenwirken ein authentisches, reich facettiertes Bild der von ihnen gemachten Erfahrungen des Heranwachsens zwischen Ost und West. Von Verlusten, Verunsicherung, Verweigerung und Schwierigkeiten dieser zudem noch mit der Pubertät zusammenfallenden Zerreißprobe ist ebenso die Rede wie von gewonnener Selbstfindung und ungewohnter Kraft zu freier, kreativer Entfaltung.

Orientierende Schrittmacherdienste leisteten dabei sicher die beiden Bücher der Herausgeberin Susanne Schädlichs, in denen sie über die Geschichte ihrer eigenen Verunsicherung im anderen Deutschland ausführlich berichtet hat: Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (2009) und Westwärts, so weit es nur geht (2011). Was dort mit bemerkenswerter Selbstdistanz und in gebührender Breite und Tiefe zur Darstellung kommt, wird uns in gebotener Kürze und Konzentration in nicht wenigen der Beiträge gut nachvollziehbar vermittelt. Sie leisten wirklich, was der Titel von Anna Schädlich, der anderen Herausgeberin, ankündigt: “Erzählte Erinnerung“. Gemeint ist erinnerte “Zerrissenheit, Entwurzelung, Trennungsschmerz“ (135). In bemerkenswerter Offenheit erfahren wir auf diese Weise, was es bedeutet, auf der Suche nach Identität in eine fremde Welt hineinwachsen zu müssen. Nicht immer gelingt es den Chronisten, so wie Nicki Pawlow ihren Beitrag mit den hoffnungsvollen Sätzen abzuschließen: “Vor dem Mauerfall legte ich Wert darauf zu sagen: Ich bin Ostdeutsche. Einige Zeit nach der Wende erklärte ich: Ich bin Gesamtdeutsche. Und heute bin ich einfach: Deutsche“. Es bleiben viele ungeheilte seelische Wunden. Wir lesen bei Dagny Dewath das anrührende Bekenntnis: “Dieses Gefühl, nicht gewollt, der Störfaktor einer sonst stimmigen Welt zu sein, und zu glauben, dass sich Menschen deshalb von mir abwenden, werde ich wohl in diesem Leben nicht mehr ganz los“. Die meisten halten es wohl mit Anna Langhoff, die resümierend festhält: “Meine Gegenwart teile ich ohne Besitznahme. Mit jeder Zukunft versöhnt. Und meiner Zuversicht, keinerlei Wirklichkeit anzugehören“. Wir sollten sehr genau auf diese “Stimme einer zerrissenen Generation“ (so der Umschlagtext zum Buch) hören, weil wir danach auch viel über unsere eigene Zerrissenheit nachdenken könnten.

Theo Buck, Aachen

 

Anna Schädlich und Susanne Schädlich, (Hrsg.), Ein Spaziergang war es nicht. Kindheiten zwischen Ost und West. München: Wilhelm Heyne Verlag, 2012. 317 S.

In dieser von Susanne und Anna Schädlich mit Sorgfalt zusammengestellten Anthologie kommen 19 Autoren zu Wort, die heute zwischen 30 und 48 Jahren alt sind und mit Ausnahme von Dagny Dewath, die 1981 in Westberlin zur Welt kam, zwischen ihrem zweiten und fünfzehnten Lebensjahr mit ihren Eltern in den siebziger und achtziger Jahren in den Westen ausgereist, oder, wie Nicki Pawlow, mit ihnen geflüchtet waren.

Sie waren “kein leichtes Gepäck” für die Eltern, wie Anna Langhoff in ihrem Beitrag vermerkte, aber es war auch kein Spaziergang für die Kinder, besonders für die schon älteren, die diese oft sehr plötzlichen Abschiede — manchmal blieben nur 24 Stunden –, durch die sie ihrer vertrauten Umgebung, ihren engsten Freunden und ersten Lieben entrissen wurden, sehr bewußt erlebten.

Viele Autoren dieser Anthologie sehen ihren Wechsel von Ost nach West aus heutiger Sicht nicht ausschließlich aber vor allem als eine große Chance, der Enge und Bedrohung entkommen zu sein. Andere empfanden den Ortswechsel von Anfang an als etwas Positives. Moritz Kirsch z. B. sah seinen Weggang aus der DDR im Nachhinein zu hundert Prozent als einen Glücksfall an. Moritz Schleime genoß die Buntheit des Westens, die Bravo und die Nähe zu den türkischen Migranten in Kreuzberg, unter denen er sich überhaupt nicht fremd fühlte, weil sie wie er aus einer anderen Welt kamen. Jakob Schlesinger fühlte sich schon von Anfang an im Westen wohler, weil er die Ostschule nicht ausstehen konnte.

Und doch haben viele den Umzug in den Westen nicht unbeschadet überstanden. Nadja Klier spürt noch heute den tiefen Schmerz, den sie am Tag der Ausreise erfuhr. Anna Schädlich berichtet, dass sich mit der Erlaubnis zur Ausreise ihre ganze bisherige Welt in ein Nichts auflöste und dass sie unvorbereitet in die Fremde gestoßen wurde. Auch hatten sie es schwer, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Ob es die neuen, fremden Freunde oder die manchmal sogar unangenehmen unbekannten Lehrer und Klassenkameraden in den Westschulen waren, ein Gefühl der Entwurzelung, Einsamkeit und Hilfslosigkeit in der “terra incognita” stellte sich wohl bei den meisten, besonders bei den schon etwas Älteren, wenigstens zeitweise ein.

Den Jüngsten unter ihnen wurden die Verletzungen später deutlich, als sie begannen, sich mit der Biografie der Eltern und mit den Abschieden und Trennungen innerhalb der Familie auseinander zu setzen. Das Gefühl, eine Heimat war verloren oder nie besessen zu haben, hielt Jahre an. Und die Ankunft im neuen Land brauchte die gleiche Zeit, wenn sie nicht gar noch andauert.

Hinzu kam, dass es, wiederum gerade für die Älteren unter den in den Westen Mitgenommenen, nicht nur um einen Orts- und Lebensstilwechsel ging, sondern auch um einen viel zu frühen Abschied von der Kindheit. Lebten sie im Osten noch halb in einem zwar noch unverstandenen aber behüteten Märchenland — Anna und Susanne Schädlich lebten sogar im Ostberliner Märchenviertel von Köpenick –, wurden nun im Westen einige zu unbeholfenen Behütern der Erwachsenen, die sich dort fast noch weniger zurecht fanden als sie und daher Mühe hatten, ihren Kindern die Zuneigung und Freiheit zu gewähren, die sie selbst benötigten. So mussten sich die Mitgenommenen vorerst allein behaupten, wurden aggressiv oder neigten im Gegenteil dazu, Konflikte mit der neuen Umwelt zu harmonisieren und eventuell sogar zu Vermittlern zwischen den Eltern zu werden, deren Beziehungen im “Neuland” ohne Ausnahmen trotzdem kaputt gingen, wenn sie es nicht vor der Ausreise schon gewesen waren.

Erschwerend für die Entwicklung der ehemaligen Kinder und Jugendlichen aus dem Osten wirkte sich aus, dass sich viele an die DDR der Kindheit nicht als eine Diktatur, nicht als einen Wolf, sondern eben hauptsächlich als an ein Märchenland erinnern, was ihnen ihre Abschiede auf längere Zeit unverständlich machte und den notwendigerweise entstehenden Frust, die die Eingewöhnung in den Wesen mit sich brachte, auf die Außenwelt, die Eltern eingeschlossen, projizierten. Denn nicht nur hatten die Eltern, ähnlich wie der Wolf im Märchen, sie in den Erinnerungen vieler von ihnen aus dem Märchenland entführt, sondern behinderten durch ihre Leid- und Mutbiographien, in deren Sog sie lange befangen waren und eventuell teilweise noch sind, ihren Prozess zu sich selbst zu kommen. Als Kinder der teilweise berühmten Eltern finden sie auch erst einmal keine Zuhörer für ihr eigenes Leben, für ihre eigenen Wunden und Erfolge. Wie Susanne Schädlich in einem Interview sagte: “Die Bühne gehörte den Eltern.”

Nicht mehr. Mit dieser Anthologie äußert sich die Generation der “Mitbringsel” in ihrer eigenen Sprache. Während sich der eine oder andere Text noch ein wenig wie ein Schulaufsatz liest oder eine “Selbsteinschätzung” und daher auf stilistischer Ebene das DDR-Erbe zu erkennen gibt, sind andere sehr persönlich, intim und frei geschrieben. Ein Spaziergang war es nicht ist eine sehr lesenswerte Anthologie der anderen Flucht-, Ausreiser- und Ausbürgerungsgeschichten, es ist eine notwenige Anthologie der bisher kaum wahrgenommenen Geschichten von Kindern des Ostens, die früh im Westen ankamen, über ihre Erfahrungen meist schwiegen und erst als Erwachsene über ihre Zeit der Abschiede, des Umbruchs und der Eingewöhnung mit sich und mit einander ins Gespräch kamen.

Wolfgang Müller, Carlisle

 

Christoph Hein: Weiskerns Nachlass. Roman (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011).  319 Seiten.

Christoph Heins neuer gesellschaftskritischer Roman Weiskerns Nachlass  wurde im September 1912 mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet. Der Klappentext des Verlags verspricht einen aktuellen, realistischen, literarisch durchgeformten Gesellschaftsroman. In der Tat handelt es sich hier um eine zutiefst pessimistische Zeitanalyse, in der Hein die  profitorientierte Bundesrepublik des Jahres 2011 kritisch unter die Lupe nimmt. In einer Gesellschaft, in der nur das Geld regiert, ist auch der Universitätsbetrieb  —  besonders  die nichtvermarktbaren  Geisteswissenschaften —  vor Kürzungen und  Herabwürdigungen nicht verschont. Geisteswissenschaften gelten als Belastung;  Fächer, für die es nur wenige Bewerber und kein Geld gibt, werden als Orchideenkunde gestrichen.

In diesem Milieu bewegt sich Heins neunundfünfzigjähriger Protagonist Rüdiger Stolzenburg, ein Kulturwissenschaftler an der Leipziger Universität,  der seit fünfzehn Jahren zum akademischen Prekariat gehört und mit einer  halben  Stellung recht und schlecht sein Leben fristet. Dieser Gruppe  abgehängter Akademiker fehlt jegliche Chance auf sozialen Aufstieg, jegliche Zukunftshoffnung. In Stolzenburgs  Leben  sind entwürdigende Zumutungen und Nichtachtung  geistiger Werte,  Dominanz des Profits, Respektlosigkeit bis zum Gewaltakt und totale  Bindungsunfähigkeit  verquickt. An der Universität sind die Studenten wenig interessiert an Bildung; das Diplom zählt allein, und an Versuchen, den Dozenten mit Geld oder Sex zu bestechen, fehlt es nicht. Das Leben im Bereich der Halbheiten im Prekariat überträgt sich, kaum unerwartet, auf das  Privatleben des Protagonisten: halbe Stelle, halbes Leben, unverbindliche  Affären: “Eine Beziehung ist eine Freundschaft mit Bettlaken, nicht mehr, allerdings auch nicht weniger.”

In dieser Atmosphäre des Geduldetwerdens findet Stolzenburgs Forschungsprojekt, den  Nachlass des im 18. Jahrhundert  in Wien lebenden Librettisten und Schauspielers Friedrich Wilhelm Weiskern  zu veröffentlichen,  ebenfalls weder Interesse  noch Sponsoren. Das Projekt wird als nicht publizierbar abgetan. Der Leser ist geneigt, diesen Akademiker und Schöngeist, der in eine Sackgasse von Mißlichkeiten geraten  ist,  als Opfer zu betrachten,  zumal der vom Unglück Verfolgte  sich auch noch mit dem Finanzamt herumschlagen muß. Dieses besteht auf eine irrsinnig hohe  Steuernachforderung, weil sich irgendein Bürokrat im Amt nicht vorstellen kann, wie Stolzenburg ohne heimliche Nebeneinkünfte von seinem Hungerlohn existieren kann. Hinzu kommt, daß er dreimal von einer Bande etwa zwölfjähriger Mädchen überfallen, verprügelt und verletzt wird. Doch Hein macht es sich bei der Charakterisierung  seiner Figur nicht leicht und distanziert sich. Stolzenburg ist arrogant, zynisch, lustlos, übersättigt, illusionslos, ist Liebäugeleien mit Unmoral durchaus nicht abhold. Er wird betrogen, spielt dann allerdings selbst mit dem Gedanken des Betrügens.  Wieweit er gehen würde, bleibt offen.  Heins bewährte Schreibweise chronistischen Beobachtens und distanzierten  Berichtens  läßt vieles offen und ungesagt.

Das ambivalent Schillernde dieser Dozentenfigur schlägt sich in einer geschickt gewählten Erzählstruktur nieder. Die Anfangsszene des Romans zeigt einen vor Angst erstarrten Stolzenburg, der in einem Flugzeug nach Basel sitzt und einer Wahnvorstellung verfallen ist: Er glaubt, die Propeller hätten versagt, wie überhaupt alles in seinem Leben, er selbst eingeschlossen versagt hat. Die suggerierte kreisförmige Bewegung der Propeller enthält die Poetik des Romans, wird zum Symbol fortwährender Mißlichkeiten im Leben Stolzenburgs. Die letzte Szene in dieser Retrospektive  mündet  kreisförmig wieder in die Anfangsszene. Doch der Ton hat sich geändert. Wieder ist Stolzenburg im Flugzeug, und wieder hat er die Wahnvostellung eines  Absturzes. Doch er vergegenwärtigt sich, daß  es eine optische Täuschung ist. Er blickt auf sein Leben zurück, seine Beziehung zu Frauen, seine finanzielle Notlage, seinen Umgang mit Studenten. Er reflektiert.  Wird er den finanziellen und sexuellen Versuchungen, die ihm von Seiten der Studenten drohen, erliegen, wird er korrupt? Der Text beläßt es bei der Leerstelle. Doch taucht das Wort “hoffen”  in Variationen auf: “ Er [Stolzenburg] kann nur hoffen.”  Trotzdem endet  Hein den Roman mit  einer freundlichen Geste, die Stabilität und Zufriedenheit suggeriert. Stolzenburg erinnert sich an seine Billardrunde in Leipzig: “Die Billardrunde wird er nicht aufgeben, mit diesen Freunden ist er bereits eine Ewigkeit zusammen, die Runde hat länger gehalten als seine Ehe, er gehörte dazu, noch bevor er an der Uni anfing, und dort hatte er keine halbe Stelle, dort zählte er zu den alten, erfahrenen Hasen.” Ein kleiner Lichtblick also doch noch;  ein volles Leben  im Kleinsten, aber nicht das schlechteste.

Christine Cosentino,  Rutgers University

 

Jens Sparschuh, Im Kasten. Roman.  (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012).  224 Seiten.

Der 1955 in Karl-Marx-Stadt geborene Autor Jens Sparschuh hatte verschiedentlich mit Romanen aufgewartet, deren Helden verschrobene Exzentriker sind. Man denke etwa an Hinrich Lobek aus dem Zimmerspringbrunnen (1995). In seinem neuen Roman Im Kasten, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde,  widmet sich Sparschuh dem Thema des Überflusses in der westlichen Konsumgesellschaft bzw. dem Thema, wie man Ordnung und Struktur in sinnloses Anhäufen von Gegenständen bringen kann. Der Name des Helden, Hannes Felix, ist eine Anspielung auf eine Märchenfigur: Hans im Glück, der, nachdem er sich vom Besitz befreit hat, zutiefst glücklich ist. Hannes Felix jedoch ist ein frustrierter Ordnungsfanatiker, der die Kontrolle über seine Ordnungssysteme verliert. Letztlich beherrscht die Ordnung ihn. Kurz, ein Neurotiker gleitet in die Psychose. Parallelen zu Jakob Heins neurotischem Sonderling, Herr Jensen,lassen sich erkennen, denn auch hier  (Herr Jensen steigt aus , 2006) handelt es sich um ein Psychogramm:  ein durch Ämterwillkür stillgelegter Mensch isoliert sich und endet im Wahnsinn.

Hannes Felix’ Ordnungsliebe bringt gleich zu Anfang des Romans Unordnung in sein Privatleben, denn  ihm läuft die Ehefrau davon. Hannes  — realitätsfremd und in der Zange seiner Zwangsnatur  —   versucht,  Ordnung in ihren liederlich gepackten Koffer zu bringen und empfiehlt ihr, ein Inhaltsverzeichnis anzulegen. Das ist das Ende der Ehe and der Beginn sich steigernder Isolation. Mit Rückblenden in Kindheit und Ehe entfaltet sich dann vor dem Leser die allmähliche Persönlichkeitsauflösung des Helden, der sich zu immer seltsameren Ordnungskonzepten versteigt.  Bereits im Kindergarten hatte Hannes  mit Begeisterung aufgeräumt und alles millimetergenau und nach Farbe und Größe geordnet. Das wird mit den Jahren schlimmer. Seinen Traumjob findet er als Marketingexperte bei NOAH (Kürzel für Neue Optimierte Auslagerungs- und Haushaltsordnungssysteme), einer Firma, die alles speichert, was andere temporär loswerden wollen: alte Kleidung, Einrichtungsgegenstände, Akten, Jalousien etc. Das Motto  des  Aufräumers  Hannes  ist “Weniger ist mehr” und “Das meiste ist nichts”. Eine durchaus akzeptable Strategie, nur steigert Hannes Felix diesen Werbespruch der Firma Schritt für Schritt ins Groteske.

Die Self-Storage-Firma NOAH ist für den Durchschnittskunden schwer erreichbar;  sie befindet sich am Berliner Stadtrand.  So ist es die Aufgabe Hannes Felix’, potentielle Käufer persönlich aufzusuchen und sie von den Lagerungsstrategien zu überzeugen. Im Laufe der Handlung werden seine Ordnungs- und Speicherungspläne  immer bizarrer, und langsam entgleitet ihm die Realität. Er entwickelt in komplizierten, jedes Detail erfassenden Gedankengängen den Felix-Quotienten, der bei der Kalkulation  des Mietpreises auch die Höhe eines Wohnraumes miteinbezieht, denn höhere Wohnungen haben mehr Platz zum Stapeln, Horten und Aufbewahren.  Dann, letztlich, nach einem Besuch des schwedischen Einrichtungshauses IKEA, entwickelt er im Irrsinn ein skurriles Marketingprojekt: dem Käufer wird empfohlen,  beim Kauf von Einrichtungsgegenständen die Wohnungen von Anfang an zu überspringen und das Gekaufte sofort bei NOAH einzulagern. Für die Hauptzentrale sieht er den freien Platz im Berliner Zentrum vor, wo einst das alte Berliner Schloß, dann der Palast der Republik standen, der nach der Wiedervereinigung abgerissen wurde. Im Wahn zieht Hannes Felix als König im Hermelin ins Schloß: ein Patient in der Zwangsjacke, der hinter Schloß und Riegel verschwindet. Der Wahnsinn des Ordnungsgedankens spiegelt sich im Wahnsinn des Helden.

Der Leser kann sich der Komik des zwanghaften Ordnens nicht entziehen; vielleicht aber auch berühren ihn die leitmotivisch wiederholten, so bekannten Parolen  “Ordnung muß sein” oder “Ordnung ist das halbe Leben” unangenehm, denn er wird mißtrauisch gegen deutschen Ordnungsgeist. Die akribische, bis ins kleinste Detail gehende Analyse von Ordnungssystemen im Gewand der Logik scheint für den Autor ein Leichtes, denn er promovierte 1983 mit einer Arbeit in seinem Spezialgebiet der Philosophie der Logik. Für den Leser jedoch mag es hier und da  ermüdend sein. Hannes Felix ist ein Zwangscharakter mit gescheitertem Lebensentwurf. Das Buch ist tragisch und komisch, also tragikomisch, letztlich irrsinnig komisch.

Christine Cosentino, Rutgers University

 

Volker Braun, Die hellen Haufen. Erzählung.  (Berlin: Suhrkamp, 2011)  97 Seiten.

In dem schmalen Bändchen Die hellen Haufen  wendet sich Volker Braun wieder einem seiner Lieblingsthemen zu:  dem historisch “Nichtgeschehenen, Unterbliebenen, Verlorenen.” Was er meint, sind Aufstände, die nicht stattgefunden haben, aber in der Wunschvorstellung denkbar sind. Das Werk ist auf historischer Folie konzipiert, greift zurück  – der Titel suggeriert es  – auf die von Thomas Müntzer und Florian Geyer organisierten  Haufen in den Bauernkriegen und auf den von Max Hoelz 1921 aufgerufenen Mitteldeutschen Aufstand der Mansfelder Knappen.  Braun berichtet vom Hungerstreik der Kalikumpel von Bischofferode nach der Wende, den ein Ich-Sprecher  zu einem weit um sich greifenden Arbeiteraufstand gegen die Treuhand fiktionalisiert. Fakt ist, daß im thüringischen  Bischofferode  Anfang der neunziger Jahre vierzig Bergleute in den Hungerstreik traten, weil die Treuhand  beschlossen hatte, das Werk stillzulegen. Aufgrund der Konkurrenz aus dem Westen, so wurde erklärt, war das Werk nicht mehr zu halten. Bischofferode wird bei Braun zu Bitterode. Ähnliche  Schließungen der Gruben wurden im Mansfelder Bereich vorgenommen. Es geht dem Autor  in dieser als sozial ungerecht empfundenen Situation um die “alte Lust zu handeln”, um dumpfe Wut und frischen Zorn. So liefert er ein Gewebe von Realem und Erdachtem.

Braun berichtet zunächst faktengetreu vom Protest der Kumpel von Bischofferode, die nach Berlin ziehen, um ihre Ansprüche anzumelden und sich doch letztlich mit einer lächerlich kleinen Abfindung abspeisen lassen, denn  “das Kämpfen war ihnen von  Partei & Regierung abgewöhnt worden.”  Es kommt nicht zum Generalstreik. Die kleine Gruppe von Bergleuten und  einigen wenigen Sympathisanten, die nach Berlin marschieren, wirken grotesk: “Ein Narrenzug (die Polizisten eingeschlossen), pfeifend, eine Karnevalsrotte, man applaudierte diesen Artisten, aber keiner kam mit.” Doch der Gedanke des “Was-wäre-wenn” läßt den Autor nicht los. Er erdenkt den Widerstand: ein Aufstand großen Formats findet in der Tat statt, erfaßt die Massen. Die historische Folie, auf der sich diese utopische Vision gestaltet, gründet auf den “Zwölf Artikeln von Memmingen” (1525), die die schwäbischen Bauern im Bauernkrieg ausgearbeitet hatten. Diese erste Formulierung von Menschen- und Freiheitsrechten wird dann in der Gegenwart umgeschrieben zu den Mansfelder Artikeln. Eingebettet in diesen fiktionalen Geschichtsverlauf sind reale Personen aus der unmittelbaren Nachwendezeit oder der Geschichte, deren Namen verändert sind, die man aber trotzdem erkennt. Hinter Schurlemmer verbirgt sich Schorlemmer, hinter dem Treuhandmanager Schufft der Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt Klaus Schucht und hinter dem immer wieder erwähnten Mintzer der Bauernführer Thomas Müntzer.

Die Parole  “Keine Gewalt”  führt die Aufständischen letztlich auf einen Schlackeberg, und dort kommt es zu einer  blutigen Niederlage. Sie werden hingemetzelt. Hier meldet der Dichter lauthals Protest an: “Einer aus dem Vogtland, Braun, rief im Jähzorn  GEWALT, GEWALT, und es war nicht klar, wollte er sie konstatieren oder ausrufen.”   Dieses sperrige Statement suggeriert Offenheit und  Widerspruch. Nimmt Braun sich ernst? Der Ich-Sprecher in der Erzählung ist ein Narr, so bezeichnet er sich jedenfalls: “Ich beginne wie ein Narr mit den Fakten.”  Ist es der weise Narr, der hier spricht, oder der Kritiker, oder ist es gar der Tor, der veraltete Weltsichten längst nicht mehr ernst nimmt und trotzdem von ihnen nicht lassen kann? In Betrachtungen solcher Art greift ein Ernst-Bloch-Zitat, das der Autor der Erzählung als Motto voranstellt: “Was wir nicht zustande gebracht haben, müssen wir überliefern.”  Wendet sich Braun hier an jüngere  oder kommende Generationen, die lernen sollen, was da falsch gelaufen ist? Es ist das Privileg des  Dichters, Träume aufs Papier zu bringen  in einer materialistischen und profitgesteuerten Wirklichkeit, an deren Unabänderlichkeit er sich keineswegs gewöhnen mag. Der Narr hat den Glauben an die Utopie verloren, kann sich ihr  jedoch trotzdem nicht entziehen. So bleibt die Utopie, aber  –  meint der Autor  in dem Gedichtband  Auf die schönen Possen  –  : “Sie hat nichts Besseres zu tun als nichts/ beschäftigt mit Überleben, von der Hand in den Mund/ Ein Gespenst aus der  Zukunft arbeitslos” .

Christine Cosentino, Rutgers University

 

André Kubiczek, Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn (München, Zürich: Piper, 2012). 479 Seiten.

André  Kubiczek wirkte im Kreis jener um 1970 in der DDR geborenen Autoren, die in der Literatur als Generation Trabant auf sich aufmerksam machten. Man denkt an Julia Schoch, Jana Hensel, Jakob Hein oder Falko Hennig. Der Gestus der Orientierungssuche innerhalb dieser Gruppe, der sich auf den Tonlagen von Frust, bösem  Ärger oder nostalgischem Stolz mitteilte, fehlte in Kubiczeks Debütroman Junge Talente (2002)  jedoch völlig. Bei ihm geht es um das Spiegelbild  einer Jugend ohne politische Ambitionen in einem Staat, der in staubiger Tristesse und eigenem Mief längst erstickt ist. Der Roman fand ein breites Publikum.  Weniger wirkungsvoll waren jedoch Kubiczeks folgende  grell-satirische Romane Die Guten und die Bösen (2003) und Kopf unter Wasser (2009).

Ein neuer Roman, eine  bemerkenswert  eindrucksvolle  Autobiografie mit dem märchenhaft anmutenden Titel Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn  erschien erst kürzlich, Anfang des Jahres 2012. Hier kann man getrost von einer Autobiografie sprechen, denn der Ich-Erzähler, Kubi genannt, wartet mit Erlebnissen auf, die eng mit seinem Leben verbunden sind. Geboren wurde Kubiczek im Jahre 1969 in Potsdam als Sohn eines DDR-Diplomaten  und einer laotischen Mutter, Tochter eines Politikers, der später Opfer eines Attentates wurde.  Seine Eltern hatten sich in Moskau während des Studiums kennen- und lieben gelernt. Die Mutter, die früh an Krebs starb, läßt im Krankenhaus ein Tagebuchfragment zurück. Dieses Fragment wird zum handlungsauslösenden Element, denn es  inspiriert den Sohn, den Spuren der geliebten Toten in Laos nachzuspüren und die neue Familie zu entdecken. So wird  dieses Erinnerungsbuch zum Geflecht  verschiedener Handlungsstränge:  es ist ein Abenteuer- oder Reisebuch, eine Familiengeschichte,  eine Kindheitsgeschichte in der DDR, aber auch eine kühl und distanziert registrierende Chronik politischer Ereignisse um die Wende.

Die Distanz zur DDR ist jedoch nicht unfreundlich, eher versöhnlich.  Von einer Freundin einmal als klein, grau und duckmäuserisch bezeichnet, reflektiert der Ich-Erzähler: “Als gäbe es keine originellere Sprache, die Vergangenheit zu beschreiben, die immerhin die Gegenwart unserer Kindheit gewesen war und auch die unserer Jugend, als gäbe es nur die dröge Sprache der Gegenpropaganda, das Zeitungsdeutsch der Zufallssieger.” So beleuchtet dieses Werk dann auch einen  politisch durchaus  grenzübergreifenden Kindheitsbereich jenseits jeglicher Ideologien. Von fortwährendem Trauma ist die Rede, das der frühe Tod der Mutter und des jüngeren Bruders im Erzähler auslöste; von Kissenschlachten, Kinderfreundschaften, Berlin-Erlebnissen und Besuchen bei den Großeltern in einer kleinen Provinzstadt.

Der Roman hat Kreisstruktur und ist in einem Rahmen eingebettet. Am Anfang der Handlung ist der Erzähler gerade in Vientiane in Laos angekommen, nachdem ihm von einem Anwalt eine Flugkarte zugeschickt wurde. Am Ende lernt er  den laotischen Teil seiner Familie kennen. Dazwischen liegen – von vielen Zeitsprüngen miteinander verbunden – fesselnde Berichte über Kindheit und  Jugend, über das enge Verhältnis zur Mutter, über Liebschaften, Freundschaften, den Dienst bei der Fahne. Vorrangig handelt es sich jedoch um den Versuch,  ein Porträt seiner Mutter zu rekonstruieren, seiner vereinsamten Mutter, die ihrer großen Liebe in die DDR folgte und dort  –  eine ewige Fremde  – Staatsbürgerin wurde. Dem Erzähler geht es jedoch auch um  Historie: die Geschichte der Mutter und des Vaters der Mutter im fernen Laos wird rekonstruiert ; dann  die Geschichte von Kubis eigenem Vater mit dem Aufstieg im östlichen Deutschland und dem entsprechend  demütigen Abstieg im westlichen Deutschland. Doch auch die eigene private Geschichte wird  heiter-ironisch, oft mit leiser Trauer unter die Lupe genommen bis zu jenem politischen Wendepunkt, an dem das Neue, Nichtzuändernde beginnt.

Der Roman endet in Laos mit dem Gestus der Integration.  Kubis Großmutter, die ein Pflegefall ist und fast nur noch schläft, öffnet die Augen, als sie den Enkel trifft, und sie lächelt. Er verbeugt sich und begrüßt sie auf laotisch. Die Tonlage freundlicher  Akzeptanz des Neuen und Fremden gibt dem Roman eine erfrischend optimistische Note. Der Autor stellt sich der neuen Problematik von Ost und West mit Selbstbewußtsein.

Christine Cosentino, Rutgers University

 

Lutz Seiler, Die Zeitwaage. Erzählungen. (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009). 285 Seiten.

Lutz Seiler, born in 1963 in Gera/Thuringia in the former GDR, is primarily known as a poet. In 2007, he ventured into prose and published the short story Turksib, for which he received the Ingeborg Bachmann Prize. Turksib was re-published in 2009 in a new prose volume, titled Die Zeitwaage (Time Scales), which contains fourteen stories, some of them linked by the same characters or the same setting. All are interconnected, unobtrusively, by a prevailing feeling of loss and disillusionment caused by occurrences that mark a change in people’s lives. It should be noted that a leitmotif in Turksib, a “Geigerzähler,” an instrument that measures toxic nuclear activity, sets the tone for the entire volume. The term “Geigerzähler” evolves into “Geig-Erzähler,” i.e. a narrator who detects inner toxins and damages in troubled people that cause their lives to take a turn.

Seiler focuses on short but decisive moments that assume a momentuous existential significance. It should be noted that in the year 2003, Seiler was Writer-in-Residence at the Villa Aurora in Los Angeles, a position that presumably led him to familiarize himself with the American short story. Indeed, stylistic elements of this particular genre – sparseness, turning points, narrative gaps, undercurrents, and the revelation of trauma or angst concealed behind the banal – are clearly discernible in all the texts presented in this volume. The skillfully chosen title of the cover story, “Die Zeitwaage,” refers to a device that watchmakers use, a time scale, that identifies inconsistencies in the measurement of time. In interviews, Seiler has referred to “Momente, die schwanken,” i.e. situations that develop on shaky grounds with people who are off-balance, disorientated, or confused, people who have lost their grip on a situation. In the interlinked stories “Frank” and “Im Geräusch,” both set in California, a marriage falls apart with husband and wife being unable to talk to each other; in “Gavroche” the reader gains insight into a relationship that rests on a lie; and in “Der Stotterer,” Seiler portrays the loneliness of a man who stutters and finds himself isolated. Several stories deal with young children – a boy, for example, who wins a chess game against his father, a victory which is a farewell to childhood, as his father never plays with him again. There are tragic accidents: a man bleeds to death but nobody notices (“Der Badgang”); a worker repairs a stretch of a tram line but gets stuck on an electric cable while people are watching. And so it goes: Seiler’s “heroes” are anti-heroes, very ordinary people who lose control and find themselves depressed or helpless. The reader will notice one stylistic device which might be called Seiler’s own contribution to the short story: throughout this volume he works with metaphoric sound effects which are most often cacophonous and shrill. They exude irritation, angst and the state of imbalance that a time scale can detect.

One would assume that Seiler, who was twenty-six when the Wall fell, would be a convincing recorder of the turmoils of the Wende of 1989, as well as the ensuing social problems for Eastern Germans in the aftermath; and indeed, the GDR is present as far as atmosphere and setting are concerned. But the reader will notice soon that Seiler exposes psychological wounds that could have been inflicted on either side of the Wall. In short, he illuminates universal human experiences beyond political ideologies, such as death, separation, divorce, lost childhood, loneliness, alienation, and futile endeavors to alter the course of events. It would miss the point to force Zeitwaage’s texts into the confines of GDR-oriented literature, or into a kind of “Bewältigungsliteratur.” Seiler’s stories are timeless.

Most of the stories are bleak and depressing. Nevertheless, the reader is intrigued. Seiler’s portrayal of dark moments refers by no means to the spectacular or eccentric. These are situations familiar to all of us. With poetic tenderness, this very talented and precise stylist presents us with a volume of stories that will place him among the leading authors of fiction.

Christine Cosentino, Rutgers University

 

Julia Schoch, Selbstporträt mit Bonaparte  (München: Piper, 2012) 142 Seiten.

In ihrem letzten Werk, Selbstporträt mit Bonaparte, nimmt Schoch das Thema privater und gesellschaftlicher Verlorenheit und Perspektivlosigkeit erneut auf. Wie in ihrem vorletzten Roman, Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009), geht es um DDR-Biografien und um Erinnerungsarbeit. Die fiktiven Ich-Sprecherinnen, die in vielem autobiografische Züge aufweisen,  umkreisen das Thema des Verlustes eines geliebten Menschen, einer Liebe, eines Staates und einer für sie verbindlichen “normalen Zeitrechnung”. Im gesellschaftlichen und privaten Dahintreiben in der unmittelbaren Gegenwart ist Zeit bedeutungslos geworden. In der erinnerten Rekonstruktion  des geliebten Menschen kristallisiert sich Selbstanalyse: “Und sobald ich mich im Spiegel betrachte, erscheint sein Kopf hinter meinem. Eine Art Doppelporträt oder Selbstporträt als Paar.” (30)

Wenig  geschieht in Selbstporträt mit Bonaparte. Der Geliebte, der urplötzlich auf der Bildfläche erschien, verschwindet ebenso plötzlich, ohne Erklärung, wortlos. Auf einer Konferenz trifft die namenlose Ich-Sprecherin, die von Beruf Autorin und  Katalogtexterin ist,  einen Historiker, der mit großer Gleichgültigkeit und mit offensichtlicher Verachtung für sein Publikum seinen Vortrag hält. “Wozu das Ganze”, moniert er. Einige Tage später folgt er ihr in einen Badeort an der Ostsee, und beide zieht es ins Kasino. Roulettespielen, das die Ich-Sprecherin schon als Kind im “verriegelten” Land aus Filmen kannte, bedeutete für sie Freiheit, Sehnsucht, Reisen, Ekstase, kurz, war der Inbegriff einer “gänzlich anderen Welt”. In der künstlichen zeitlosen  Atmosphäre des Kasinos  beginnt nun eine “unwirkliche”,  sonderbare Liebe, die außerhalb, in der  realen  Welt undenkbar wäre.  Die Ich-Sprecherin weiß, “dass meine Liebe zum Roulette mit der Liebe zu Bonaparte [so nennt sie ihn] ganz einfach in eins fällt.” Das suggeriert Wahlverwandtschaften.  In einer Zeit großer gesellschaftlicher Veränderungen in der westlichen Welt fühlen sich beide, so darf man annehmen, überfordert und ratlos und suchen Zuflucht in einer Gegenwelt, in der Vergangenheit und Zukunft bedeutungslos sind: “Mit den … uhren- und also zeitlosen Interieurs, ihren samtenen Abpolsterungen gegen das Draußen sind sie [Kasinos] die sichersten Orte der Welt.”  Im Bewusstsein einer abrupt endenden geschichtlichen Vergangenheit und  einer unsicheren, bedrohlichen Zukunft  in der wirklichen Welt geben sich beide  “in der ewigen Gegenwart des Spiels” dem Rausch des angehaltenen Moments hin. Roulette wird zum Ritual ihrer Liebe. Wie lange diese Liebe dauert, ist unklar, denn konventionelle Zeitbegriffe sind in diesem Roman aufgehoben. Anzunehmen ist, dass die Handlung in den neunziger Jahren anberaumt ist.  Erzählt wird ohne  Chronologie. Das Kasino selbst ist zeitlos, ist ein Ort des Zeitvertreibs, ein Ort, an dem die Zeit vertrieben ist.

So manchen Leser wird die Gestaltung der glorifizierten  Gegenwelt  des Kasinos  irritieren, besonders, wenn die Autorin mit Thesen des “vernünftigen Spielens” aufwartet, die jeglichem Suchtverhalten konträr sind.  Doch das griffe  zu kurz.  Eher handelt es sich um Überforderung, Haltlosigkeit und Desorientierung, vielleicht auch um einen übersteigerten Individualismus. Beispiele von Nonkonformismus gibt es genug in diesem Werk.  So erinnert sich die Ich-Sprecherin  an ein Ereignis aus ihrer Kindheit. Um einmal ganz anders zu sein, protestierte sie gegen Regeln in der Schule und trug Badelatschen, als sie in die Klasse kam.  Aufgebracht versicherte  ihr der Direktor, dass sie ein Fremdsprachenstudium an den Nagel hängen könne;  er  höhnte: “Sie … Sie Individuum.” Ähnlich verhält es sich mit Bonaparte, der sich weigert,  konventionelle Kleidung zu tragen und stattdessen nur in Anzügen herumläuft, die er sich nach Hollywoodaufnahmen schneidern lässt. Sein Motto:  “etwas aus sich zu machen, was man gerade  nicht gezwungen worden war zu sein, darum, gewissermaßen so unselbst wie nur möglich zu werden. ” Das Kasino wäre in diesem Sinne der ideale Ort der Selbstauflösung oder Selbstvergessenheit.

Der unberechenbare  Drifter Bonaparte, der  der Ich-Erzählerin nie Liebesbriefe geschrieben hatte, sie nie mit Liebesbezeugungen  überschüttet hatte, verschwindet eines Tages. Warum? fragt sich die Ich-Erzählerin und erkennt in ihrem Bonaparte-Porträt sich selbst. Illusionslos und traumwandlerisch treibt  auch sie in der realen “undurchdringlichen”  Welt dahin und wartet. Sie glaubt,  in diesem Zustand passiven  Verharrens Klopfzeichen zu hören. Nichts wird jedoch  geschehen, sie ist überzeugt.  Ob dieser Roman in seiner Verherrlichung der  Weltflucht und seiner unkritischen Roulette-Ekstase  allerdings den Leser überzeugt, ist eine offene Frage.

Christine Cosentino, Rutgers University

 

Edwin Kratschmer, Wahnwald.  Stadtroda: UND Verlag, 2011. 249 pages.

In Edwin Kratschmer’s fourth novel, Wahnwald, a first-person narrator called Edmund Kraut explores the history of his ancestors back to 1423, mainly by following the family tree his father Johann had created (it is included at the end of the book.)  He travels to the deep woods of Bohemia where they had lived, hears his ancestors’ souls murmuring in the treetops, and asks: “wo sie mögen sein: im Himmel oder in der Hölle.” As a reason for his trip to this “Ahnwald,” which by means of word play is transformed to “Wahnwald,” the narrator states: “Ich will wissen, woher ich komme des Wegs, wie meine Erbschaft seit Herdenzeit, wie die Vorfahren in mir fortahnen fortleben fortlieben forthassen fortdichten, wie sie sich in mir eingerichtet haben, in mir schalten walten.”

While he is investigating the lives of those earlier Krauts (the question if Kratschmer chose deliberately this Anglo-Saxon nickname for Germans remains open until the end), the narrator in his imagination identifies with them and experiences being victim and perpetrator, winner and loser, believer and heretic.  As with Kratschmer’s former novels and essays (see, for instance, Das ästhetische Monster Mensch), the reading gave me goose pumps due to the author’s fatalistic vision of the human being.  In all chapters (their events take place around wars in 1945, 1866, 1805, 1626, and 1423), the protagonists experience incredible violence, be it by marauding soldiers, domestic violence, or plague.  The goose bumps grow the biggest during the Thirty Years War when foreign soldiers invade the Bohemian village in which the Kraut family lives and torture some people to death; after one torture scene, I had to put the book away for some days.

Also Kratschmer’s Baroque style and his preference for a vocabulary that belongs to an aesthetic of the ugly are bewildering.  In a handout provided by the editor of Kratschmer’s book, states about this language: “je tiefer er [the narrator] in die Vergangenheit greift, umso karger, härter, ungelenker, grober, kakophoner, unrationaler, aber auch umso bildhafter wird sie.” This observation is correct; the farther back the reader is led into history, the more terror this language causes.  However, does this not mean that Kratschmer is actually an optimist? Because, if we read the book backwards in time (i.e., from the past to the present), the language becomes lighter, softer, more elegant, and also more rational.  Does Edwin Kratschmer unconsciously believe that there is a historic progress toward more humanity? It almost seems that way.  An epigraph by Georg Maurer at the beginning of the book reads: “Was ist das für ein Singen, das man hört?  Niemand ist doch zu sehen.”  This “Singen” that can also be heard, although only very softly, between the lines of Kratschmer’s book that is so full of the blackest humor, I read as a sign of hope.

The text starts with a “Vorspiel” and ends with a “Nachspiel” – both frame this literary research project on the narrator’s ancestors’ and his own biography.  In the “Vorspiel,” he remembers some episodes of the time when he lived in Bohemia before he had to leave as one of the “Vertriebenen” at the age of fourteen.  With horror, he sees himself as a boy participating in a brutal attack on a Jewish merchant.  Later, when his car passes a sign to the Czech town of Lidice, disturbing memories return.  In this town, the SS had massacred all male inhabitants and sent the women to a concentration camp.

Most ancestors’ lives are narrated in the third person; however, some of them, for example, the narrator’s grandfather, who uses expressions from his local dialect such as “Puer” or “Gung” for boy, tell their story in the first person.  Such changes in the narrative voice enrich Kratschmer’s style.  Around page fifty the “Wahnwald” is transformed to a “Wahnsinnswald.”   This happens when for the first time in the text, gangs of soldiers move through the village looting, raping, and burning.  The second epigraph of the book, a quotation from Georg Büchner, says: “Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen.” Kratschmer’s text attempts to deal with this question that Büchner did not want to follow up on. The answer is that we humans are a failure; no matter how much we try to improve: “Du rutschst immer wieder in die gleiche Spur […] Und alle hundert Jahre eine Plage biblischen Ausmaßes, der Durchmarsch einer Seuche Keulung und Ausmordung.”  However, as mentioned earlier, there is a very slight hope that progress in the human condition might be possible. Some of the narrator’s ancestors were writers and artists who suffered from censorship measures. Jaschek Kraut, for instance, a muralist, had been recruited to fight in the Napoleonic Wars. When he was commissioned to paint Jesus on the cross later in his life, he remembered the agony of dying soldiers and portrayed their suffering in the image of the son of God. Only because of good luck, did Jaschek himself avoid being crucified for that portrayal.

The narrator uses these instances of censorship in his ancestors’ lives for a discussion of the differences between two aesthetics, that of the beautiful and the ugly (he calls the latter “Ästhetik des Schreckens and Grauens”).  The second always wins the competition since according to Edwin Kratschmer, art must tell the truth relentlessly; if it doesn’t it is not art.  Censors, however, see this matter differently.

Several critics have noted the author’s “Wortmächtigkeit.”  As Udo Scheer states, it seems as if this great language in its coarseness and its reductions is “aus jener Zeit herübergeweht” — the time of Luther and Erasmus.  Scheer’s observation seems correct  because Edwin Kratschmer re-read their texts before he wrote “Wahnwald” in order to tune himself into the language of the past.

Also, Kratschmer’s successful use of synesthesia enriches his style in a way that makes it sound old-fashioned, for instance: “rosa meckerte die Zibb, grau grunzte die Sau, rot sprach Marie, gelb keuchte Hochwürden, gold schlug die Glock von Sankt Martin.” Although synesthesia — in which stimulation of one sensory pathway leads to experiences in a second and allows for transcendence of everyday experience — is still used by writers today, in Kratschmer’s book, it seems to be an atavism and fits well with the attempt to revive the past stylistically.

Scholars who are interested in the motif of old age in literature can find plenty of material in Kratschmer’s book since the eighty-year-old main narrator indulges in mercilessly examining his own symptoms of aging and often tells the lives of his ancestors with a focus on age and mortality.  In addition, for scholars who conduct research on the notion of “Heimat,” the text is a rich source, especially since in the chapter “Das Buch Pšan” (Pšan is the Czech name for “Ahnwald”), in which the narrator describes his trip to his Bohemian hometown in great detail, the notion of Heimat is discussed from many interesting angles.  Most of all, readers from former communist countries who are still traumatized by their experiences will love Kratschmer’s book because it raises an important question that only a few dare to ask: Is it really over, once and for all? In the Pšan-chapter, the narrator remembers a recent conversation with Milan Kundera that should be quoted here.  After the famous Czech writer complained about the horrible loss of years of his life, “umkreist und umzingelt von Geheimpolizei,” the narrator expresses relief that so-called real existing socialism has landed on the garbage heap of history. “’Ist er das wirklich?’ fragte Kundera bang, und der Löffel im Teeglas tremolierte.”

I hope that this interesting book will find many readers!

Gabriele Eckart, Southeast Missouri State University


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Apr 14 2012

Warum Günter Grass besser geschwiegen hätte. Ein ‘Gedicht‘ und seine Folgen

 

Günter Grass

Warum schweige ich, verschweige zu lange,
was offensichtlich ist und in Planspielen
geübt wurde, an deren Ende als Überlebende
wir allenfalls Fußnoten sind.

Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,
der das von einem Maulhelden unterjochte
und zum organisierten Jubel gelenkte
iranische Volk auslöschen könnte,
weil in dessen Machtbereich der Bau
einer Atombombe vermutet wird.

Doch warum untersage ich mir,
jenes andere Land beim Namen zu nennen,
in dem seit Jahren – wenn auch geheimgehalten –
ein wachsend nukleares Potential verfügbar
aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung
zugänglich ist?

Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,
dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,
empfinde ich als belastende Lüge
und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,
sobald er mißachtet wird;
das Verdikt “Antisemitismus” ist geläufig.

Jetzt aber, weil aus meinem Land,
das von ureigenen Verbrechen,
die ohne Vergleich sind,
Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,
wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch
mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,
ein weiteres U-Boot nach Israel
geliefert werden soll, dessen Spezialität
darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe
dorthin lenken zu können, wo die Existenz
einer einzigen Atombombe unbewiesen ist,
doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,
sage ich, was gesagt werden muß.

Warum aber schwieg ich bislang?
Weil ich meinte, meine Herkunft,
die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,
verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit
dem Land Israel, dem ich verbunden bin
und bleiben will, zuzumuten.

Warum sage ich jetzt erst,
gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet
den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muß,
was schon morgen zu spät sein könnte;
auch weil wir – als Deutsche belastet genug –
Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,
das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld
durch keine der üblichen Ausreden
zu tilgen wäre.

Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,
weil ich der Heuchelei des Westens
überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,
es mögen sich viele vom Schweigen befreien,
den Verursacher der erkennbaren Gefahr
zum Verzicht auf Gewalt auffordern und
gleichfalls darauf bestehen,
daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle
des israelischen atomaren Potentials
und der iranischen Atomanlagen
durch eine internationale Instanz
von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.

Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,
mehr noch, allen Menschen, die in dieser
vom Wahn okkupierten Region
dicht bei dicht verfeindet leben
und letztlich auch uns zu helfen.


 

 

Unauffällig im Gewand eines lyrischen Produkts kommt eine tagespolitische Schrift daher, die der Schriftsteller Günter Grass am Mittwoch, 4. April 2012, wohlkalkuliert an die Öffentlichkeit gebracht hat. Zeitgleich erschien das polemische ‘Gedicht’ unter der Überschrift “Was gesagt werden muß“ in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG sowie in LA REPUBBLICA. Der Autor kritisiert in diesem Text die israelische Politik gegenüber dem Iran, vor allem die drohende Gefahr eines Atomschlags (“Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden“, V. 44/45)). Ausgangspunkt hierzu ist für ihn die quälende Überlegung “Warum aber schwieg ich bislang?“ (V. 36). Erklärend erinnert er dabei an den Holocaust, also Deutschlands “ureigene Verbrechen, die ohne Vergleich sind“ (V. 24/25), wie er etwas ungenau umschreibend sagt. Von da her wäre Grassens Wortmeldung sachlich angängig, denn seit geraumer Zeit beschäftigen sich viele mit der dringenden Frage eines möglichen israelischen Militärschlags gegen die iranischen Atomanlagen und den damit verbundenen möglichen katastrophalen Folgen. Demnach bricht der Autor mit seiner Polemik in Gedichtform gewiß kein Schweigen. Er setzt sich für das ein, was die meisten gleichfalls wollen – Frieden. Leider bringt ihn seine im Ansatz erkennbar gute Absicht auf eine völlig falsche Fährte. Er vereinseitigt nämlich in den unglücklichen ‘Versen‘ das in der Tat existentiell wichtige Problem auf unerträgliche Weise, indem er aus dem üblen Gewaltfanatiker Ahmadinedschad einen bloßen “Maulhelden“ macht, der zwar sein Volk unterjocht und “zum organisierten Jubel“ lenkt (V. 6/7), dessen kalkuliert aggressives Atomprogramm aber dahin verharmlost, in seinem “Machtbereich“ werde bloß “der Bau einer Atombombe vermutet“ (V. 9/10). Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit – man denke an die viel zu spät “geschälte Zwiebel“! – hat Grass hier vorschnell und auch ungerecht gehandelt. Der eigentliche Gefahrenherd liegt bekanntlich in Teheran. Von dort wird zur Auslöschung Israels aufgerufen. Die Politik des jüdischen Staates kann in vielerlei Hinsicht kritisiert werden, doch nur, wenn im selben Augenblick die Bedrohung dieses Landes durch die umliegende islamische Welt mitberücksichtigt wird. In seiner Argumentation verwechselt Grass eindeutig Ursache und Wirkung. Von politischer Klugheit zeugt das gewiß nicht. Er macht es sich zu leicht, wenn er gegen ihn vorgebrachte Kritiken bloß ins Feld führt, es handle sich um die “Kampagne“ einer “fast wie gleichgeschalteten Presse“.
Natürlich kann und darf der Schriftsteller das sagen, was er denkt. Nur muß er sich dann auch den Reaktionen Anderer aussetzen. Gleich nach der Veröffentlichung löste seine polemische Verlautbarung in den Medien und sogar in einigen Regierungskreisen heftige, überwiegend ablehnende Reaktionen aus. Wohl noch nie hat ein lyrisch daherkommender Text so viel Aufsehen erregt. Grass mußte sich über das eingegangene Risiko im klaren sein. Schrieb er doch selbst in seinem herausfordernden ‘Gedicht‘: “das Verdikt ‘Antisemitismus‘ ist geläufig“ (V. 22). Prompt wurde dem Autor von Henryk M. Broder bescheinigt, er sei “der Prototyp des gebildeten Antisemiten“. Daß der israelische Regierungschef Netanjahu gleiche Töne anschlägt, wird niemanden wundern. Ähnlich sieht der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, im Grass‘schen Text kurzerhand ein simples „Haßpamphlet“ (“Grass redet Blech und trommelt in die falsche Richtung“). Auch Marcel Reich-Ranicki ließ sich in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG dementsprechend vernehmen. Das Gedicht sei “ekelhaft“ und ein “geplanter Schlag nicht nur gegen Israel, sondern gegen alle Juden“. All das ist natürlich auch wiederum einseitig und ungerecht. “Grass ist kein Feind Israels“, betonte mit gutem Grund Avi Primor, der frühere israelische Botschafter in der Bundesrepublik. So ungerecht der Schriftsteller auch immer argumentiert hat, ein Antisemit ist er gewiß nicht. Hinreichend widerlegt das sein Werk. Im ‘Gedicht‘ spricht er gleichfalls betont vom “Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will“ (V. 40/41). In dieser Hinsicht hat Grass wirklich Grund, eine ihm entgegengebrachte “verletzende Gehässigkeit“ zu registrieren. So gesehen nimmt es auch nicht wunder, daß Israels Regierung, primitiv populistisch und “hysterisch“ (HAARETZ) überzogen reagierend, ein Einreiseverbot für den Schriftsteller ausgesprochen hat, weil er, wie der dafür verantwortliche Innenminister Eli Jischai, seines Zeichens Vorsitzender der ultraorthodoxen Schas-Partei, fanatisch formulierte, das Ziel verfolge, “das Feuer des Hasses auf den Staat Israel und das Volk Israel“ anzufachen. Beifall von der falschen, der iranischen Seite konnte da nicht ausbleiben. Darüber sollte der Autor nachdenken.
Lob für das von Grass Gesagte ist natürlich ebenso unangebracht. Dem Nobelpreisträger für sein ‘Gedicht‘ zusätzlich noch einen Friedenspreis zuerkennen zu wollen, wie das der ARD-Journalist Thomas Nehls vorgeschlagen hat, ist absurd. Selbst das Lob des Literaturkritikers Denis Scheck (“ein gutes, ein notwendiges tagespolitisches Gedicht“) greift entschieden zu hoch. Bestenfalls kann er in Grass den “Minenspürhund der deutschen Literatur“ ausmachen, der sich gerne als Tabubrecher in Szene setzt. Daß der sich nun in der Rolle des Opfers sieht, entbehrt freilich nicht unerträglicher Scheinheiligkeit.
Eine literarische Leistung ist das angebliche Prosagedicht “Was gesagt werden muß“ ohnehin nicht. Der Autor hätte gut daran getan, seine politische Meinung nicht in den Mantel des Poetischen zu hüllen und dabei ungeniert Namen wie Walther von der Vogelweide und Goethe zu bemühen. Direkter Klartext, haltbar formuliert, wäre in diesem Fall besser gewesen. Wer politisch streiten will und dafür die Form des Gedichts wählt, muß poetischen Ansprüchen genügen. Davon aber ist das “mit letzter Tinte“ (V. 43) Geschriebene von Grassens Feder in der Sprachsubstanz viel zu dürftig ausgefallen. Nicht allein der Schriftstellerkollege Wolf Biermann stuft das ‘Gedicht‘ als “stümperhaft“ ein. Reich-Ranicki sekundiert ihm mit der Feststellung, das Gedicht sei “politisch und literarisch wertlos“. In der Tat hat der Text mit Sinnintensität, Formprägung und Bedeutungsqualität der Gattung Lyrik nicht entfernt zu tun. Er ist viel zu schlicht dahingesagt und zudem noch einseitig befangen und insofern realitätsblind.
Mit seiner berichtigenden Stellungnahme im Interview der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom 7. April 2012 hat Grass dem Pseudo-Gedicht noch mehr geschadet. Wenn er nämlich relativierend verlauten läßt, er würde es jetzt “anders fassen“, spricht das nicht gerade für eine überlegte Arbeitsweise, erst recht nicht für ästhetische Qualität. Gedichte sind eben nicht jederzeit nach äußeren Umständen veränderbar. Offenkundig verbindet der Autor sein gesellschaftspolitisches Argumentieren irrtümlich mit künstlerischem Anspruch. Dabei weiß er: “Lyrik bietet die Möglichkeit, einen komplizierten Sachverhalt auf den Punkt zu bringen“. Nur hapert es genau daran in seinem ungenau formulierten ‘Gedicht‘. Die von ihm praktizierte polemische Textsorte wird nicht einfach zu Literatur, weil ein weltweit bekannter Romancier sie in vorgebliche ‘Verse‘ gesetzt hat. Allerdings überzeugt der Inhalt seiner lyrisch aufgemachten Anklage betrüblicherweise ebenso wenig. Wer eine “klärende Debatte“ auslösen will mit dem Tenor: “Meine Kritik galt nicht dem Land Israel, sondern der Politik von Premierminister Netanjahu“, muß seine Worte wesentlich sorgfältiger wählen. Danach eingestehen zu müssen, sich im Ausdruck vertan zu haben, ist zumal für einen Schriftsteller, schlicht peinlich. Wer nicht schweigen will, sollte auch wissen, was er sagt und wie er es sagt. Im Nachhinein muß man die Redaktion der ZEIT höchlichst dafür loben, den ihr zuerst zur Veröffentlichung angebotenen Text nicht abgedruckt zu haben. Übrigens handelte es sich dabei um eine wiederum andere Fassung, die nicht einmal die Forderung nach beidseitiger internationaler Kontrolle der Atompolitik Israels und Irans enthielt (!). Wie heißt es doch seit alters: ‘Wenn Du geschwiegen hättest … !‘ Grassens Friedensbotschaft hat das genaue Gegenteil herbeigeführt. Die Tinte des Dichters ist ihm schon längere Zeit ausgegangen. Weitere “letzte Tinten“ möge er uns ersparen.

Theo Buck (Aachen)

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