Jun 01 2020

Locked down in Berlin

Published by at 11:41 am under Comments on current affairs

Locked down in Berlin

Hans Mayer

 

“Etwa zu Frühlingsanfang des genannten Jahres begann die Krankheit schrecklich und erstaunlich ihre verheerenden Wirkungen zu zeigen.”*

 

In unserer Berliner Straße ist alles wie immer, auch die Bäume haben in den Wochen seit dem Beginn der Corona-Krise ausgeschlagen wie sie es jedes Frühjahr, mal früher mal später tun, unbeeindruckt von dem Virus.

Noch vor dem offiziellen Lockdown wurden die ersten Veranstaltungen abgesagt. Die letzte von fünf außerordentlich interessanten Gesprächsrunden zur Wilhelm und Alexander von Humboldt Ausstellung in den Räumen des Pei-Baus am Deutschen Historischen Museum fiel ins Wasser. Es war der Auftakt zum Rückzug ins Private.

Wir sind privilegiert. Wir sind finanziell abgesichert. Wir haben eine große Wohnung und können uns aus dem Weg gehen, wenn dazu Anlass besteht. Wir müssen nicht zur Arbeit. Wir können auch nicht entlassen werden. Wir müssen nicht den öffentlichen Nahverkehr benutzen, bei uns können wir fast alles um die Ecke besorgen. Und wenn denn doch etwas Ungewöhnliches zu besorgen ist wie beispielsweise ein Kabel, um die Angebote der Mediathek nutzen zu können, dann genügt ein Anruf bei dem kleinen Händler, den man persönlich kennt, und man wird trotz Lockdown durch die Hintertür beliefert. Die Stadt ist ruhig. Keine Touristen. Man kann die Zeit zum Ausruhen, Aufladen und Entspannen nutzen, wenn man sich nicht von den Virologen und der Politik überwältigen lässt.

Nach dem Lockdown intensivierten wir unser morgendliches Nordic Walking, blieben aber ansonsten zumeist zu Hause. Die hektische Berichterstattung in den Medien, die schrecklichen Bilder aus Italien und Spanien blieben bei aller intellektuellen Distanz und einer kritischen Einschätzung der der Politik zugrundeliegenden epidemiologischen Schätzwerte nicht ohne Wirkung auf uns. Die Verletzlichkeit des Körpers, in unserem vorgerückten Alter ohnehin täglich zu spüren, wurde einem schließlich noch bewusster. Wir wollten uns schützen, indem wir uns im öffentlichen Raum ertüchtigten. Auf den breiten Trottoirs der Berliner Straßen war Platz-Machen angesagt. Wenn es trotzdem zu eng werden schien, weil einem eine ganze Truppe ungestümer Jugendlicher entgegen kam, machte man einen Bogen. In der Anfangszeit konnte es geschehen, dass man seinem unbekannten Gegenüber ein Lächeln, vielleicht sogar ein „Bleiben Sie gesund“ schenkte. Ungewohnte Verhaltensweisen in einer anonymen Großstadt, die für ihre Ruppigkeit bekannt ist.

Was mich am meisten schmerzt: Ich kann in kein Archiv und keine Bibliothek, ohne die ich nicht arbeiten kann. Der Lockdown hat alle ohne Unterschied geschlossen. Auch wenn die Bibliotheken für die Ausleihe durch Universitätsangehörige mittlerweile wieder geöffnet sind, als Externer gehöre ich nicht dazu. Ich brauche diese Einrichtungen. Meine Erinnerung und Phantasie reichen nicht aus für meine Textproduktionen. Die Recherche und das akkumulierte verschriftlichte kulturelle Wissen, das dort gesammelt und bereitgehalten wird, sind unverzichtbar. Da hilft die ganze Digitalisierung nichts. Nicht zuletzt kann ich dort in Ruhe konzentriert arbeiten, denn die Lesesäle sind leer, seit den Studenten das Lehrmaterial von den Dozenten digital zur Verfügung gestellt wird.

Freunde sehen wir in dieser Zeit nicht. Dafür telefonieren wir umso eifriger. Die Gespräche sind länger und intensiver als vor der Pandemie. Sie kreisen um dieselbe. Ich rufe auch Freunde an, mit denen ich seit längerem keinen Kontakt mehr hatte. Grundsätzliche Fragen zur gesellschaftlichen und politischen Verfasstheit werden aufgeworfen. Inwieweit trauen die Politiker ihrem Volk, und inwieweit traut das Volk seinen Politikern? Es gibt auch Streit über die Proteste der Querfront-Anhänger vor der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Am Ende erweist sich das Volk der Berliner in seiner großen Mehrheit lange Zeit als folgsamer, als die Politiker das vermutet haben, die sich dann artig bedanken, um gleich danach noch eine Warnung auszusprechen, es könne ja wieder schlimmer werden. Für ein Aufatmen sei es noch zu früh.

 

„Der kurzen Trauer folgen alsbald die Lust und die Süßigkeit“*

 

Ich esse mehr Süßigkeiten, fällt mir auf. Solange es keinen Impfstoff gegen Covid-19 gibt, so denke ich, könnten Süßigkeiten über manches hinweg trösten. Im späten Mittelalter wurde ihnen ja noch ein therapeutischer Wert beigemessen. Die Apotheker wiederum machten die Medikamente mit Zucker schmackhafter und wurden deswegen „confectionarii“ genannt. Also warum nicht.

Auch der Berliner, insbesondere der junge Berliner, nimmt es nach einigen Wochen der Betroffenheit wieder gelassener, versammelt sich an den Ufern des Landwehrkanals in den Szenebezirken Neukölln und Kreuzberg oder auf dem Tempelhofer Feld. Die Hotspots des Nachtlebens, die Bars und Clubs bleiben ihm im sexy Berlin allerdings wohl noch für längere Zeit verschlossen. Kein Grund zu verzweifeln, würde ich meinen, und lege schließlich Lou Reed auf:

 

Just a perfect day
Drink Sangria in the park
And then later
When it gets dark, we go home

Just a perfect day
Feed animals in the zoo
Then later
A movie, too, and then home

 

*) Zitate aus Giovanni Boccaccio: Das Dekameron

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