Jun 2013

Frederick Lubich

Bis ans Ende der Welt: Von der Heidelberger Dichterrunde über das Berliner Café Einstein in die Todesfalle von Timbuktu

Erste Station: Heidelberg

Poesie und Politik mit Revolte und Romantik

 

„Poetry – what was it again?
A portal to bygone emotions”

(Durs Grünbein)

 

 

Bild am Sonntag brachte am 20. Januar 2013 aus politisch aktuellem Anlass unter dem Aufmacher „Wüstenkrieg in Mali“ mit der Schlagzeile „Dieser Berliner in Mali von Terroristen erschossen“ ein Feature mit einem großen Foto des Ermordeten. Er war ein jahrzehntelanger Weltenbummler gewesen, der, wie die Zeitung berichtete, rund hundert Länder bereist und erfahren hatte. Über den Hergang des Attentats hieß es unter anderem:

 

Die Männer mit den Kalaschnikows kamen noch vor dem Abendessen. Sie zerrten die Touristen aus dem Restaurant im Zentrum von Timbuktu, der Hauptstadt Malis. Nur Martin A. aus Berlin wollte nicht folgen. Er wehrte sich gegen seine Entführung. Das war sein Todesurteil.

 

Die drei Touristen, die damals am 25. November 2011 bei diesem Überfall entführt wurden, befinden sich bis heute in der Gewalt der Islamisten. Während die französische Presse damals ausführlich über dieses Ereignis berichtet und auch das Todesopfer beim vollen Namen genannt hatte, war in der deutschen Presse sehr wenig über die Identität des Ermordeten bekannt geworden. In diesem Bild-Bericht stellt sich jetzt heraus, dass der gebürtige Karlsruher Reiseabenteurer auch mit Gerald Uhlig-Romero, dem Besitzer des bekannten Café Einstein Unter den Linden in Berlin Mitte, seit  ihrer gemeinsamen Schulzeit im Internat befreundet war. Uhlig-Romero ist auf Grund seiner mannigfaltigen Kunst- und Öffentlichkeitsarbeit in der deutschen Boulevardpresse als „Kaffeehauskönig“ weit über Berlin hinaus bekannt geworden. Zudem hat er wie kein anderer in den letzten Jahren berühmte Künstler vor allem aus der amerikanischen Welt des Films, der Mode- und Portraitfotografie wie Joel Grey, Dennis Hopper, Richard Gere, Helmut Newton und zahlreiche andere ins Café Einstein gebracht, ihre Werke in seiner angeschlossenen Galerie ausgestellt und somit eine bedeutende transatlantische Brücke zwischen Deutschland und Amerika aufgebaut.

Vieles von der Freundschaft zwischen dem Weltenbummler und dem Kaffeehausbesitzer konnte im Interview mit Bild am Sonntag kaum angedeutet, geschweige denn ausgeführt werden. Da jedoch auch den Autor dieser Zeilen mit beiden eine lange Freundschaft verbindet, kontaktierte mich Uhlig-Romero unmittelbar nach dem Bild-Feature mit dem Vorschlag, über uns drei eine längere Erinnerungsgeschichte zu schreiben. Auch andere Freunde aus jener Zeit fanden diese Idee gut. Also schreibe ich.

Obgleich es uns nach unserer gemeinsamen Heidelberger Zeit in den Siebziger Jahren bald in alle Himmelsrichtungen verschlug, sodass wir uns in drei verschiedenen Kontinenten wiederfanden, sind wir dennoch über die Jahrzehnte in Kontakt geblieben, haben uns immer wieder für längere Zeit besucht und nicht zuletzt auch regelmäßig an verschiedenen kreativen Projekten zusammengearbeitet. Höhepunkt war sicherlich Geralds deutsche Uraufführung von Yoko Onos Musical New York Story, die sich John Lennons Witwe von ihm gewünscht hatte und für die ich dann die deutsche Übersetzung schrieb. Aber das ist schon eine spätere Geschichte aus der zweiten Reisestation im vereinten Berlin.

Folgende Aufzeichnungen stellen eine dreifache Erinnerungsgeschichte dar, nämlich einen persönlichen Nachruf auf unseren ermordeten Freund, eine Schilderung unseres langen, transatlantischen Dreierbundes, und last but not least auch eine Darstellung unserer jugendbewegten Zeit, die in mehrfacher Hinsicht eine moderne Umbruchsepoche repräsentiert, die sich nicht zuletzt in der Sexuellen Revolution manifestiert. Der folgende Text ist ein Vorabdruck von Auszügen aus dem ersten Teil eines Buches, das nächstes Jahr in einem Berliner Verlag erscheinen soll.

Martin und ich lebten zur Zeit seines Todes bereits über dreißig Jahre im Ausland, er in Bangkok, also im fernen Osten, und ich in immer wieder anderen Städten und Staaten Amerikas von New York bis Kalifornien, also im fernen und fernsten Westen. Auf Grund unseres langen Aufenthalts im nichtdeutschsprachigen Ausland war auch bereits unsere deutsche Muttersprache immer wieder von englischen Ausdrücken wenn nicht gar ganzen Sätzen durchzogen. So auch Martins E-Mails von seiner letzten, großen Reise. Seine vorletzte Nachricht stammt vom 6. Oktober 2011 aus Madrid, kurz bevor er mit der Agentur Dragoman, bekannt für ihr Motto „Adventure Holidays“, seine Mega-Tour durch Afrika begann. Darin schrieb er: „ ….jetzt in Madrid, bin ich just zu meiner laengsten overland tour unterwegs: Gibraltar to Capetown, 22 wochen camping, overland: morocco, mauretania, burkina, ghana, togo, benin, nigeria, cameroon, gabun, les deux congo, angola, namibia, u. south africa.“ Bei genauerem Hinsehen erweist sich jedoch Martins detaillierte Auflistung seiner bevorstehenden Reisestationen als äußerst merkwürdig. Er führt systematisch sämtliche 15 Länder in genauer Etappenfolge von Spanien bis nach Südafrika auf, vergisst auch nicht das kleinste von ihnen – und überspringt Mali, lässt es unerwähnt, dieses große Land zwischen Mauretanien und Burkina Faso, das Land, in dem er so bald seinen gewaltsamen Tod finden sollte. Ein oberflächlicher Zufall oder eine tiefere Notwendigkeit?

Betrachtet man Martins Reiseschicksal aus symbolischer Perspektive, so gewinnt es zudem weitere Dimensionen. Mali wurde für ihn zum realen Schwellenland ins irreale Schattenreich. Dieser Blickwinkel lässt sich noch erweitern durch die figurative Bedeutung,  die Timbuktu sowohl in der deutschen wie auch in der englischen Sprache hat. Die Redewendung „All the Way to Timbuktu“ ist im Englischen synonym für die Reise ans Ende der Welt und somit repräsentiert diese Stadt in beiden Kulturen auch einen sinnbildlichen Ort für das Ende der Lebensreise. Und nicht zuletzt verwandelte sich Martins lebenslange Wanderlust in seinen letzten Weltschmerz, den ihm die tödliche Kugel verursachte, genau in jenem Erdteil, in dem die Mutter Erde einst die Menschheit geboren hatte. Die mythische Einheit von Mutterschoß und Todesgrab, hier wurde sie für Martin zum real-symbolischen Ereignis. Entsprechend entpuppt sich denn auch die Stadt Timbuktu als „Frau mit großem Nabel“. Das ist die malische Bedeutung ihres Namens, und dergestalt wird sie zur metaphorischen Mutterstadt des Schwarzen Kontinents, zum bedeutungsschwangeren „Herz der Finsternis“:

 

Timbuktu

Womb and Tomb

Oh Mother Earth, oh Heart of Darkness,

man’s ancient dawn – man’s final doom.

 

Drum zurück in unsere Heidelberger Jugendzeit. Damals Mitte der Siebziger Jahre lernte ich Martin in einer Runde junger Poeten kennen, die sich regelmäßig trafen, um ihre Texte zu rezitieren und bis spät in die Nacht hinein zu debattieren. Martin war Student der Literatur und Philosophie und was einem sofort an ihm auffiel, war seine große Bildung, sein scharfer Verstand und nicht zuletzt sein hintergründiger Humor. Blicke ich heute zurück, so scheint mir seine Gestalt in so mancher Hinsicht geradezu beispielhaften Charakter zu haben. Er verkörperte unseren Zeitgeist, unsere systematische Gesellschaftskritik und unsere Forderungen nach radikaler Freiheit, maximaler Toleranz und konsequenter Selbstverwirklichung par excellence. Und nicht zuletzt sollte er unser Fernweh nach der großen, weiten Welt leben und ausleben wie kein anderer.

Schönheit und Schrecken der Geschichte: Martin und ich hatten im Laufe unseres Lebens auch verschiedene Länder Nordafrikas bereist. Mich faszinierte seit meiner Tour durch Südspanien und Marokko vor allem die spanisch-maurische Kultursymbiose im andalusischen Mittelalter. Ich habe seit dieser Reise auch immer wieder in diesem Bereich recherchiert und publiziert. Schon als Jugendlicher hatte mich die Abenteuerwelt der maghrebinischen Nomaden und insbesondere ihrer Tuareg-Krieger in ihren Bann geschlagen. Was sich mir aus der Lektüre über ihre Kultur und Geschichte vor allem in der Erinnerung eingeprägt hatte, war ihr Brauch, im Haschischrausch ihre Raub- und Eroberungszüge durchzuführen. Das englisch-französische  Wort „assassin“, auch das hatte ich mir gemerkt, hatte seine sprachlichen Wurzeln in dieser berauschenden Substanz. Welche Ironie des Schicksals, dass unter Martins Mördern die Nachfahren meiner mittelalterlich-maghrebinischen Helden waren.

Auf seinem letzten, fast einwöchigen Besuch im Spätherbst 2010 war Martin guter Dinge. Ich hatte ihn eigentlich noch nie so im Einklang mit sich selbst gesehen. Er kam auch immer wieder ausführlich ins Plaudern und hat unter anderem viel von den musikalischen  Bildungserlebnissen seiner Kindheit und Jugendzeit erzählt. Mich interessierte das sehr, doch so konnte ich andrerseits meine eigenen jugendlichen Bildungserlebnisse, genauer, meine metaphysischen Schauergeschichten kaum an den Mann bringen. Martin, ich bin sicher, wir hätten uns an so Manchem gemeinsam erschaudern können. Drum will ich dir hier einiges kurz nacherzählen. Meine frühe Kindheit war sehr heimelich und glücklich. Unheimlich begann es mir erst zu werden, als ich von meinen katholischen Religionslehrern mehr und mehr von der ewigen Verdammnis erfuhr. Es hieß, es gälte sich ganz besonders vor allem Gespaltenen zu hüten. In anderen Worten, vor dem huf- und zungengespaltenen Fürst der Finsternis und seiner zwielichtigen Unterwelt. Er war der Meister der sieben Todsünden. Sein bevorzugtes Einfallstor war das schöne, verführerische Weib. Allein schon die Ahnung ihrer zauberhaften Geheimnisse, die wirre Sehnsucht nach ihren wonnigen Wundern konnte, so hieß es immer wieder, furchtbare Folgen haben. Oh schlüpfriger Sündenpfuhl ins bodenlose Verderben, oh welch schlechtes Wissen und noch viel schlechteres Gewissen rund um die Leiber dieser ewig lockenden Teufelsweiber. Bald war mir klar, dass ich auf immer und ewig verloren war. Der Weg war vorgezeichnet: Vom irdischen Jammertal direkt in die Folterkammern der brennenden Höllenwelt. Keine Frage, aus heutiger Perspektive war ich ein idealer Kandidat für eine exemplarische Fallstudie zu ekklesiogenen Neurosen.

Spätestens während meiner Pubertät fiel jedoch dieses mittelalterliche Jenseitsjoch ab wie ein zerbrochenes, gründlich vermodertes Mühlrad. Umgekehrt tauchten jedoch zur gleichen Zeit mehr und mehr Bilder aus einer sehr diesseitigen Schreckenswelt auf, nämlich aus dem Höllenreich des Holocaust. Es waren Horrorvisionen wie aus dem perversen Pandämonium eines spätmittelalterlichen Höllen-Brueghel. So war der Topos der „verkehrten Welt“, der für die deutsche Schauerromantik des neunzehnten Jahrhunderts so bezeichnend ist, schließlich in der Mitte des zwanzigsten Jahrhundert grauenhafteste Wirklichkeit geworden und hatte das einstige Land der Dichter und Denker in ein Reich grausamer Richter und blutiger Henker verwandelt. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, diese Zeile aus Paul Celans „Todesfuge“ war in den siebziger Jahren für uns schlechterdings zur negativen Nationalhymne geworden.

„Memories of Heidelberg are memories of you”, trällerte Peggy March damals durch Jukeboxen und Hitparaden. Als Amerikanerin hatte sie gut singen. Wir Nachgeborenen des Dritten Reiches wollten raus aus den deutschen Erinnerungen. Martin hatte es da schon besser, er war links- und rechtsrheinischer Abstammung. Aber vielleicht war das ja nur noch schlimmer, hatte er doch gewissermaßen die blutige Erbfeindschaft unserer beiden Nationen bereits in seinem deutsch-französischen Halbblut – folgte man den Volksvorstellungen unserer Vorväter. Auf jeden Fall war er in beiden Sprachen und Kulturen bewandert und bildete dergestalt für mich auch eine wandelnde Brücke ins schöne Paris und sonnige Südfrankreich. Denn dort hatte ich, kaum dass die Gymnasialzeit hinter mir war, meine erste Freundin gefunden und mich dabei nicht nur in sie sondern auch in die Provence, ihre wunderschöne Heimat, verliebt. Doch wie sich bald herausstellte, war auch sie keine richtige Provencalin im Sinne der kultureller Verwurzelung und ethnischer Abstammung. Catherines Mutter war eine marokkanische Sephardin und ihr Vater stammte aus dem seinerzeit noch österreichisch-ungarischen Czernowitz. Und bald sah ich auch die Tätowierung an seinem Arm. Das Brandmal von Auschwitz. Mein geliebtes Mädchen, sie war eine Verschonte der deutschen Massenmörder. Ein Schreibtischfehler im System der „Banalität des Bösen“. Hallo, Hannah Arendt, da kann der Teufel nur lachen!

„Dein blondes Haar, Margarete, dein aschenes Haar, Sulamith“, so der Kehrreim der „Todesfuge“ Celans, des wohl berühmtesten Czernowitzer, der in diesen Zeilen im Namen der Geliebten Salomons noch einmal das „Hohe Lied“ auf die Liebe heraufbeschwört, und somit für einen Augenblick die Todesklage in ihr Gegenteil verkehrt. Die Geschichtsgroteske der „verkehrten Welt“ sollte schließlich in unserer eigenen Liebesgeschichte vollends ad absurdum geführt werden. Denn wir beiden verdanken sie letztendlich dem Führer und seiner grenzenlosen Gewaltherrschaft. Denn ohne den systematischen Völkermord des Dritten Reiches und ohne die extensive Völkerverschleppung nach seinem Zusammenbruch wären sich unsere Eltern nie begegnet.

„Don’t trust anybody over thirty“, dieser Spruch der Flower-Power-Kids der amerikanischen Woodstock Generation wurde für uns Deutsche, die nach dem zweiten Weltkrieg geboren wurden, zum Fanal gegen das Vaterland unserer Väter schlechthin. „Make Love not War“, das war unser Schlachtruf gegen eine Elterngeneration, die sich als Mitläufer, Handlanger und Vollstrecker am größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte schuldig gemacht hatten. Infolge dessen wurde der Spruch „Das Politische ist das Persönliche“ zum Motto der damaligen Studentenrebellion und ihrer sich zunehmend radikalisierenden außerparlamentarischen  Opposition. Für so manchen von uns war der nationalsozialistische Größenwahn der Väter zur narzisstischen Wunde ihrer Söhne geworden. Entsprechend erhofften wir uns nicht nur vom Studium der Literatur und Philosophie Antworten auf unsere Fragen, wir suchten auch in den Disziplinen der Psychologie und politischen Wissenschaft weitere Aufklärung. Und letztendlich waren es unsere eigenen Texte, mit denen wir uns zu verstehen und zu erklären versuchten. Streng genommen widersetzten wir uns mit unseren poetischen Experimenten obendrein Adornos Verdikt, dass nach Auschwitz keine Gedichte mehr möglich seien. Und er war schließlich eine der letzten Autoritäten, auf die unsere anti-autoritäre Generation noch hörte. Aus der Perspektive unseres Frankfurter Schulmeisters war also unsere Heidelberger Dichterrunde zudem ein suspekter Zirkel.

 

 

Martin, Herbert und Thomas in Martins Wohnung in Heidelberg

Martin, Herbert und Thomas in Martins Wohnung in Heidelberg

 

Heidelberger Poeten

Vergesst Des Knaben Wunderhorn, Stabreim und Skandieren,

Martin hol dein Megaphon, wir gehen demonstrieren.

 

Das waren die Reime unserer Sponti-Sprüche, die Rhythmen unserer politischen Poesie. Von den zahlreichen Demonstrationen der damaligen Zeit ist mir besonders die große Protest-Aktion  gegen die Fahrpreiserhöhung der Heidelberger Straßenbahn in Erinnerung geblieben. Hinter dieser Maßnahme steckten natürlich auch wieder Väter, in diesem Fall Stadtväter und – ultima ratio – Vater Staat, also einmal mehr das ganze, korrupte Patriarchat. Zudem war die aufgebotene Bereitschaftspolizei mit ihren martialischen Wasserwerfern ausgerechnet aus Göppingen, meiner schwäbischen Heimatstadt angerückt. Also galt es einmal mehr Farbe und Flagge zu zeigen. Ich kann mich gut erinnern, wie Martin damals auf einen besonders engagierten Randalierer deutete und dabei die Vermutung äußerte, dass es sich bei ihm möglicherweise um einen „agent provocateur“ handeln könnte, also um einen vom Staat bezahlten Lockspitzel. Wer immer er war, ich fand mich wenig später mit mehreren anderen auf der Flucht vor den aufbrausenden Wasserwerfern – „die Polizei, dein Freund und Helfer“! – auf der Kellerstiege eines alten Hauses wieder, wo ich in einem Knäuel hinuntergepurzelter Revoluzzer gelandet war. Nachdem sich der Haufen einigermaßen berappelt hatte, begann er sich mehr oder weniger kaputtzulachen. Jedenfalls waren wir alle in diesem chaotisch subterranen Moment in unserem besten, solidarischen Element.

Es dauerte nicht lange, so führte Martin auch Gerald in unsere Poetenrunde ein. Mit seinen dichten, dunklen Haaren mit den eingefärbten blonden Strähnen, seiner großen, hageren Gestalt und seinen dramatischen Gesten erschien er uns bei der ersten Begegnung eher wie ein verwegener Hasardeur aus dem glamourösen Hollywood, der sich in unser verwinkeltes Alt-Heidelberg verirrt hatte. Jedoch bei genauerem Kennenlernen gab er sich zusehends als ein schillernder Doppelgänger von Hugo von Hofmannsthals Tor und Tod aus dem Jungen Wien um 1900 zu erkennen. Bald stand er denn auch als Todgeweihter in Hofmannsthals exemplarischem Jugendstil-Schauspiel melancholisch auf der Theaterbühne. Im Rückblick gibt sich dieses Szenenbild als eine ominöse Vorwegnahme jener tödlichen Erbkrankheit Morbus Fabry zu erkennen, die zwei Jahrzehnte später brachial in ihm ausbrechen sollte und ihm fast das Leben gekostet hätte, wäre sie nicht im letzten Moment erkannt worden. Aus dieser Perspektive geben sich die rätselhaften Zustände, die ihn schon damals in Heidelberg heimzusuchen begannen, in der Tat als frühe Vorzeichen dieser unheilbaren Krankheit zu erkennen. So hielt der Tod ihn bereits damals in der Kunst wie im Leben zum jugendlichen Narren.

In Phasen, in denen Gerald frei von seinen morbiden Symptomen war, entfaltete er sich umso mehr. Oft war er ein wahrer Felix Krull wie er bei Thomas Mann im Buche steht. Dessen Romanfigur vergleichbar gab er sich besonders gern als artistischer Gaukler und charmanter Hochstapler, der mit seinen Energien und Phantasien die Menschen zu bezaubern verstand.

 

 

Gerald in der Heidelberger Studentenbude des Autors

Gerald in der Heidelberger Studentenbude des Autors

 

Schau

ich bin ein

Mauerschauer

und ein Berliner

Traumschlossbauer.

 

Noch herrscht das Wintermärchen

aus kaltem Krieg und Stacheldraht

und zwischen einer hohen Mauer

Deutschlands zerrissene Hauptstadt.

 

Doch mir träumte, es käme der Frühling,

gefallen die Mauer, zerronnen der Schnee,

die Stadt erblühte zum Sommermärchen

und überall roch es nach frischem Kaffee.

 

Im Grunde seines Wesens war dieser romantische Traumtänzer jedoch ein klassischer Stürmer und Dränger, ein ruheloser Wiedergänger des Goethe’schen Prometheus, dessen „heilig glühend Herz“ noch einmal die „Grenzen der Menschheit“ überwinden wollte, um es den Göttern gleichzutun. „Bedecke Deinen Himmel, Zeus ….!“ So hatte Goethes Originalgenie dem Olymp entgegengerufen. Jahrzehnte später schien es, Gerald hätte sich selbst die Abrechnung auf seine Götterbestürmung ausgestellt, heißt es doch in seinem Gedicht „Himmel“ aus seinem Bild- und Gedichtband Alphabet der Fische

 

„ich bin der gott

der vom himmel

zur erde verramscht wurde.“

 

Das ist der Hochstapler als Tiefstapler, der sarkastische Ikonoklasmus eines prometheischen Multitalents, das sich im Laufe der Jahre nicht nur einen Namen als Sänger und Schauspieler, Regisseur und Performance Artist, sondern auch als Dichter und Maler machen sollte, dessen Texte in den renommiertesten deutschen Publikationsorganen wie etwa der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gedruckt wurden und dessen Gemälde in Ausstellungen von Berlin bis Brasilien zu sehen waren.

Schon in Heidelberg gründete Gerald eine Schauspieltruppe mit dem bezeichnenden Namen  „Hoch- und Tiefstapler“. Ich war bei ihren artistischen Veranstaltungen auch schon mal hinter der Bühne für die Hell-Dunkel-Effekte zuständig. Ausgerechnet ich, dem in der Tat schon ein einziger Schaltknopf beträchtliches Kopfzerbrechen bereiten konnte. Viel lieber hantierte ich mit Bleistift und Papier und kritzelte meine eigenen Verse fürs poetisch-politische Kabarett. Erst unlängst hatte ein letzter Freund aus jener Heidelberger Runde bei sich zu Hause ein altes Flugblatt aufgestöbert mit dem Titel „Chanson Abend mit Gerald Uhlig“. Angekündigt wird darauf  „Lyrik und Prosa noch lebender und schon toter Freunde“, wobei neben dem toten Freund Jacques Prevert nur noch Martin und ich namentlich genannt werden. Martin figuriert als „alter Leidensgefährte Uhligs aus den gemeinsamen Internatstagen“ und ich werde als „armer Student der Germanistik und Anglistik“ identifiziert. Was die neuesten Leiden des junge Martin betraf, so hieß es damals in unseren Kreisen, er wäre so unglücklich wie leidenschaftlich in die hübsche, lebenslustige Schwester Geralds verliebt.

Während Gerald in Heidelberg begann, sich im Schauspiel zu profilieren, fing ich an, mich mit der Schreibkunst zu amüsieren. Nebenbei inszenierten wir uns auch immer wieder mit Freunden zu theatralischen tableaux vivants, die wir in fotografischen Sequenzen festhielten. Sujets aus der Kunstgeschichte wurden dabei meine liebsten Vorlagen. Zu ihnen gehörte auch Carl Spitzwegs ikonisches Gemälde „Der armer Poet“, das schon seit meiner Gymnasialzeit zu meinen Lieblingsbildern zählte. Sein zwiespältiges Dachbodenglück, welches das einstige Scheitern des Jungen Deutschlands sowohl zu beklagen als auch zu verklären schien, wurde mir in meiner Heidelberger Zeit zum romantisch-rebellischen Passepartout für mein eigenes oft so widersprüchliches Lebensgeschick.

 

Der Autor als armer Poet

Der Autor als armer Poet

 

Vive la poésie

A la recherche du temps perdu …

 

Auf den Spuren der französischen poetes maudits, von Arthur Rimbaud zurück zu François Villon bis zu den maurisch-provenzalischen Trouvères und Troubadours und über die  staufischen Minnesänger wieder voran direkt zum rheinisch-französischen Heinrich Heine, Deutschlands poetisch-politischem Emigranten par excellence, köstlich und unverwüstlich, seine freche Poesie und seine romantische Ironie. Und obendrein war ich in meiner Heidelberger Studentenbude sicher auch noch besser aufgehoben als er in seiner muffigen Pariser Matratzengruft.

Doch während ich hier oben auf dem Trockenen saß, schwelgte ganz bestimmt irgendwo das große, alles berauschende Nass. Quellende Bewusstseinsströme, wellende, wogende Weltenmeere, Gesang der Geister über den Wassern, Sirenengesänge und sinnlich-übersinnliche Sphärenklänge. Die poetische Realität sah jedoch damals ganz anders aus: „Alltagslyrik“, „Neue Subjektivität“, so lauteten die lyrischen Tendenzen jener Jahre. Ein Glück, dass der gute, alte Adorno das nicht mehr erleben musste. Und statt theoretischem Überbau nur noch introspektive Nabelschau. Ich hingegen, ich wollte die weite Welt, die schöne, verführerische Frau Welt. Wollte neue Lieder schreiben, das Liederliche hörbar machen, es allen Empörten unter die Nase reiben, alle Schlüpfrigkeiten dieser Erde heraufbeschwören und auch noch den Tod zum Leben und zur unsterblichen Liebe betören. Salve Eros! Vivat Thanatos! Es galt nichts weniger als das Versepos der sexuellen Revolution zu komponieren und zwar so, bis alle Kirchenmauern ekstatisch vibrieren und alle Osterglocken nur noch frohlocken von Händels Hymnen zu Paganinis Vivaces, von Ravels Bolero bis zu Frank Zappas G-Spot-Tornado … remember, my friends  … “Music is your only friend, until the end …“ (Jim Morrison).

 

Und das in ewiger, weltenseliger Wiederkehr,

denn kommt man erst einmal in Fahrt

ist Herkunft hin und Zukunft her

letztlich alles Avantgarde.

 

Sollten sich diese poetischen Zukunftspläne zerschlagen, so wäre zumindest ein alltäglicher Lebenswandel in bohemienhafter Impertinenz immer noch bei weitem besser als diese bürgerliche Beamtenexistenz, in der man vom Kultusministerium als pünktlicher Pauker ein Leben lang Schulstund für Schulstund einer Horde pubertierender Rabauken zum regelmäßigen Unterricht vorgeworfen wird. So ein freies, höheres Leben auf dem Dachboden wäre zudem bestimmt auch ganz im Sinne der Frankfurter Schule. Ja, es wäre in der Tat das einzig richtige Leben im damals so oft beschworenen „falschen Leben“, die komplette Verweigerung jeglicher Fremdbestimmung, in anderen Worten, die konsequente Selbstverwirklichung jenseits aller gesellschaftlichen Zwänge und ihrer spätkapitalistischen Verblendungszusammenhänge! So der Originalton unserer ideologiekritischen Spekulationen, so das rhetorische Rüstzeug für den „Langen Marsch durch die Institutionen“! Letzterer war das große, subversive Polit-Projekt, unsere maoistisch-leninistische Projektion zur systematischen Unterwanderung der gesamten, westlich imperialistischen Zivilisation. Und kam einer im solidarischen Gleichschritt mal wieder aus dem richtigen Tritt – trotz Ernst Jandls Erkenntnis: „lechts und rinks kann man nicht velwechsern“ –, dem bot John Lennons Lied „Imagine“, die große Internationale des New Age, die nötige Bein- und Bewusstseinsfreiheit und nicht zuletzt mir die endgültige Rückversicherung  „ No hell below us, above us only sky“!

Poesie und Politik, Religion und Revolution, so manches davon war auch reine psychologische Kompensation. Das konnte man schon bei Sigmund Freud nachlesen. Siehe zum Beispiel Das Unbehagen in der Kultur. Wir vom anderen Geschlecht haben uns zwar auch schon immer wieder mal gegenseitig herumgekriegt, aber bereits nach kurzer Weile setzte auf der einen oder anderen Seite die schleichende Langeweile ein. Also dann schon lieber träumen, die ganze Wirklichkeit so richtig vom Grund aufschäumen … Denn oft ist die Realität recht einerlei und nur die Gedanken sind wirklich frei. So mein Fazit zur grauen Alltagslyrik.

 

Und die Zeit verrinnt

Tag um Tag und Jahr und Jahr,

und ewig bleibt im Dunkeln,

was einmal kommen wird,

was einmal war.

 

Weltenfrust und Wanderlust: Wenn es uns in den Kneipen und Gassen von Heidelberg zu eng wurde, dann fuhren wir mit Martin auf die Herrenalb im Schwarzwald, wo seine Familie Grundbesitz hatte, und schweiften stundenlang durch die Wiesen und Wälder. Hier in dieser Bergwelt war auch das Revier eines ganz anderen Martins, nämlich des berühmt-berüchtigten Martin Heideggers, des ruhelosen Poltergeistes von Todtnauberg. Wer weiß, vielleicht war er ja immer noch unterwegs auf den Holzwegen des holpernden „Seins“ und seines stolpernden „Geworfenseins“.

 

Heideggers Hüttenzauber

Heideggers Hüttenzauber

“Die Sprache ist das Haus des Seins”

So lehrte es der Denker und Deuter von Sein und Zeit, der es bis heute versteht, die letzten französischen Existentialisten und amerikanischen Dekonstruktionisten mit seinem teutonisch-philosophischen Radebrechen zu beindrucken. Nur die jungen Heidelberger Poeten, sie machten sich lustig über den Schwarzwälder Bergpropheten.

 

Oh dunkles Orakel der richtigen Richtung

hinan in das Licht der höheren Lichtung,

und überall die wegweisende Spur,

man schaue in diesem Bilde nur

 

die zwei pädagogischen Zeigefinger,

sie deuten gar anschaulich darauf hin,

das Sprachhaus ist des Geistes Zwinger

und sein direkter, didaktischer Sinn.

 

Einer von uns hat den Bogen schon raus,

der andere freilich rührt noch im Trüben,

ihm ist das Zeigen ein richtiger Graus,

man sieht es, er muss noch gehörig üben.

 

Doch zurück nach Alt-Heidelberg: Auch Joseph von Eichendorff hatte längere Zeit in dieser Hochburg der deutschen Sehnsucht verweilt. Mit seiner märchenhaften Taugenichts-Erzählung und seinen naturschwärmerischen Wandergedichten ist er wohl bis heute der bekannteste Vertreter der deutschen Romantik geblieben. Allein schon sein Name evoziert das Bild einer ländlich begüterten Heimatidylle. Zudem lag auch noch das Heimatdorf meiner mährischen Mutter nur wenige Kilometer von Sedlnitz entfernt, wo der schlesische Freiherr sein Sommerschlösschen hatte. Schon als Schulmädchen hatte sie von ihrem Partschendorf aus diesen Ort besucht und die Eiche im Schlossgarten bewundert, unter welcher Eichendorff gedichtet hat. Ein Leben lang konnte sie nicht mehr aufhören, von dem Sänger ihrer verlorenen Heimat zu schwärmen. Und so klang denn auch mir schon seit Kindheitstagen dieser Dichtername in den Ohren. Schließlich konnte ich ihn kaum noch hören. Als die Rockmusik dann lärmend die Weltbühne stürmte, schien endgültig Feierabend mit dem andächtigen Lauschen auf des Dichters fernes Waldesrauschen.

Jedoch das Verdrängte, es kehrt bekanntlich wieder. Nur wenige Kilometer hinter dem einstigen Sedlnitz lag das Städtchen Freiberg, der Geburtsort von Sigmund Freud, dem Gründervater der Psychoanalyse. Er sollte später in Wien die Traumwelt, die Eichendorff einst so sinnenselig verdichtet hatte, in seiner berühmten Traumdeutung wieder auf ihre seelischen Ursprünge in der Kindheit zurückführen. Hier also sind die romantischen Wurzeln der modernen Seelenkunde, des therapeutischen Verfahrens, die verschütteten Kindheitsdramen und Familienromane wieder ins erwachsene Bewusstsein zurückzurufen. Altheimatlich gewendet: Die einstigen Ortsnamen Sedlnitz, Partschendorf und Freiberg sind die heutigen Wegstationen Sedlnice, Bartoŝovice und Příbor. Das sind die slawischen Bezeichnungen der jetzigen Tschechischen Republik, also Wörter eines Idioms, das den deutschsprachigen Mähren schon immer fremd, in anderen Worten böhmisch erschienen waren. Ahnung und Gegenwart heißt Eichendorffs erster Roman und wenn man so will, dann verschlüsselt er auch die Träume meiner mährischen Vorfahren. Hier war die Welt der Ahnen, die verlorene Zeit mit all ihrer ahnungsvollen, seelisch-traumhaften Vergangenheit.

Jahrzehnte nach meiner Auswanderung in die Neue Welt, als ich immer öfter in die Alte Welt zurückkehrte, tauchte denn auch Eichendorff immer häufiger aus der jugendlichen Versenkung auf. In letzter Zeit begann ich mir gar einzubilden, dass so manche seiner Gedichte mir geradezu aus der Seele und auf den Leib geschrieben seien. Allen voran

 

„Schöne Fremde“

Es rauschen die Wipfel und schauern,

als machten zu dieser Stund

um die halbversunkenen Mauern

die alten Götter die Rund.

 

Man kann sich gut vorstellen, wie der romantische Poet vor der Ruine des Heidelberger Schlosses steht und seinen Blick in die Weite schweifen lässt, bis sich seine nächtliche Weltschau zur prächtigen Himmelsvision verdichtet:

 

Es funkeln auf mich alle Sterne

mit glühendem Liebesblick,

es redet trunken die Ferne

wie von künftigem, großen Glück.

 

Im Rückblick scheint mir, Eichendorffs so doppeldeutige „Schöne Fremde“ sei geradezu mein eigenes, romantisches Lebenslied geworden. Nicht nur hatte ich mich bereits bei meiner ersten Liebe in die „Schöne Fremde“ verguckt, in Heidelberg hatte ich dann – ganz der Folklore dieses Städtchens folgend – endgültig mein Herz an eine weitere „Schöne Fremde“ verloren. Und das Hals über Kopf.

 

 

 

 

 

„Schöne Fremde“

„Schöne Fremde”

 

„Hello, I love you …

won’t you tell me your name?”

 

Das Dunkel ihrer großen Augen, ihr verheißungsvolles Lächeln, bevor es in ihr strahlendes Lachen ausbrach.

 

„Hello, I love you …

Let me jump in your game …

 

She’s walkin’ down the street,

blind to every eye she meets.

Do you think you’ll be the guy,

make the queen of the angels sigh?”

(The Doors, “Hello, I love you”)

 

Wie herrlich ihre braunen Glieder, umweht von leicht beschwingten Kleidern, wie fröhlich tanzende Liebeslieder. Oh schöne, wunderbare Welt, und ich, ihr armer, verliebter Poet, zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt,

 

bin fast blind vor lauter Liebe,

kann kaum singen, kann kaum sehen

und will nur im schönen Augenblick

auf immer und ewig untergehen.

 

Mein „künftiges, großes Glück“, wie Eichendorff es in seinem Gedicht besungen hatte, es war in der Tat aus weitester Ferne, nämlich aus San Diego, der südlichsten Stadt Kaliforniens. Und sie schien ganz wie ein „California Girl“, grad so wie die Beach Boys sie in ihren überschäumenden Liedern umjumbelten.

Ihre strohblonde Mutter war österreichisch-skandinavischer Abstammung und ihr sonnendunkler Vater stammte aus den südlichen Regionen Italiens und obwohl Kalifornien sein Geburtsland war, sprach er als erste Muttersprache immer noch Italienisch. Auf diese Weise stellte mein kalifornisches Mädchen eine geradezu perfekte amerikanische Mischung europäischer Nationen und Kulturen dar. Passend dazu hatte sie einen nordischen Vornamen, der ihrer Mutter zufolge „Wasserfall“ bedeutet und einen italienischen Nachnamen, der übersetzt ebenfalls nichts anderes meint als „vom Wasser“. Oh Ahnung, oh Gegenwart…

 

Oh Traumverlorene, oh Schaumgeborene

a dream come true

out of the sparkling Ocean,

out of the deepest Pacific Blue!

Good vibrations and great temptations,

but would she remain and always be

my “Black Magic Woman”,

my “Gypsy Queen”.

my manifest

destiny?!

Zufall oder Notwendigkeit?

Ein Traumbild nur aus Raum und Zeit?

In any case,

whatever is true,

whatever is beautiful,

here is to you

Lynne

the love of my life

ma Bella Donna

you are the one,

you are my Venus,

reborn

out of the

Age of Aquarius.

My California Girl – My American Dream

”You make me real,

you make me feel like lovers feel.”

 

So hörte ich immer wieder Jim Morrison von drüben herübersingen, diesem trunkenen Dionysos aus dem kalifornischen Los Angeles. Und dann ist er in seiner Pariser Badewanne ertrunken. Mein großes Idol.

„Turn on, tune in, drop out“, so flötete ein anderer unternehmungslustiger Amerikaner, nämlich Timothy Leary, der ausgestiegene Drogenprofessor und trippende Rattenfänger von Harvard. Sein Buch The Politics of Ecstasy wurde so manchem von uns zum mystagogischen Manifest. Obwohl die Elixiere des Rausches in unseren Kreisen immer in Reichweite waren, brauchten wir sie im Grunde genommen gar nicht. Wir waren berauscht genug vom Wunder des Lebens und dem Zauber der Liebe. Unsere Weltanschauung, das war der dauernde Höhepunkt, die Wiederverzauberung der modernen Welt – allen Kassandrarufen Max Webers von der „Entzauberung der Welt“ zum Trotz. Wir wollten Hölderlin auf Adrenalin, seine euphorische Ode auf das romantische Heidelberg seiner Zeit samt dem Höhenrausch unsrer rebellischen Wirklichkeit. Kurzum, wir wollten Highdelberg, geradeso wie es auf Aufklebern in Heidelberger Headshops zu lesen war … „Girl, we couldn’t get much higher“ … Jim Morrison, I hear you, stoking the fire!

„Du der Vaterlandstädte Ländlichschönste …“ Ich hör dich wieder, begeisterter  Hölderlin! Welch herrlicher Ausblick vom Heidelberger Philosophenweg. Und drunten, auf der anderen Seite des Neckars, vom mittelalterlichen Marstallhof durch den dunklen, verrauchten Kakaobunker bis zum efeuumrankten Hexenturm hört man überall ein zukunftsschwangeres Gemunkel. Und abends in den Tavernen, im Cave und Whiskey à Go Go, überall ein muntres Geflunker und kunterbuntes Geschunkel. Welch schöne, verführerische Welt! Wer in diesem

 

schwofend-schweifenden Hin und Her

noch immer keine Reime schreibt

und keine Lieder zusammenreimt,

der tut es nimmermehr.

 

Manche unserer poetischen Höhenflüge – samt ihrer literarischen Abstürze – kann man auch heute noch in erhaltenen Texten nachlesen. Man muss sich nur vorher gut anschnallen. Ob himmelhoch jauchzend, ob zu Tode betrübt, wir feierten unsere Manien und Depressionen auf Engel und Teufel komm raus. Mindestens einen unserer Seiltänzer haben wir dabei allerdings schon früh verloren. Er machte sich bald aus freien Stücken auf in jene andere Welt, aus der, wie es heißt, niemand mehr wiederkehrt. Andere von uns – und zuletzt Martin – sollten ihm ebenfalls viel zu früh und sicherlich nicht freiwillig folgen. So lebt zum Beispiel von den drei Poeten auf dem ersten Foto heute keiner mehr.

„Magical Mystery Tour“. Timothy Leary hat das „Magische Theater“ aus Hermann Hesses Roman Steppenwolf als idealen Reiseführer ins Seelenreich der Weltenträume entdeckt. Für manchen von uns waren damals psychedelische Eskapaden auch nur die Einstiegsdroge zu immer größeren Tramp-Touren kreuz und quer durch Europa. Rausch als Reise und umgekehrt! Unsere surrealen Trip-Poeme und satirischen Polit-Tiraden publizierten wir unter anderem in den von uns mitbegründeten Heidelberger „Straßentexten“ sowie in mehreren anderen Literaturzeitschriften im süddeutschen Raum. Aus der Resonanz in der Szene blieb mir lediglich in Erinnerung, dass ich für irgend so eine regionale Rockband Texte schreiben sollte. Stattdessen erschienen einige meiner poetischen Produkte auf dem Wiener Chanson-Album Der Kinderkönig von einem jungen unbekannten Sänger namens – Gerald Uhlig. Unser vielbegabter Kunststückstapler.

Gerald hatte in jener Zeit am renommierten Max-Reinhardt-Seminar in Wien sein Studium der Schauspielkunst und des Kulturmanagements begonnen. Für seine erste Schallplatte ließ er unter anderem Martins und meine Gedichte vertonen und trug sie dann in ironischen Anklängen an die ganze Wiener Morbidezza von Hofmannsthal bis André Heller pracht- und  schmachtvoll vor. Einer meiner Texte auf dieser Platte lautete „Duft der großen, weiten Welt“ und war eine Parodie auf die damals populäre Filterzigarette Camel. Sie begann mit dem Aufgesang:

 

Das Leben ist wie eine Zigarette,

die Seele atmet ihr Nikotin

und qualmt in einer ewigen Kette,

süchtig nach einem tieferen Sinn.

 

Gerald travestierte meine dekadente Parabel recht jovial mit dem kabaretistischen Refrain „Wir gehen meilenweit im Stil der neuen Zeit … oh frohen Herzens genießen“ und schloss mit meinem moribunden Abgesang:

 

Und die Gräber sind die Aschenbecher

für die abgebrannten Kippen,

ins Jenseits eingebrannte Löcher,

veräschert die einst roten Lippen.

 

Das war unser Wiener Requiem aus Schall und Tabakrauch. Zu jener Zeit fanden wir das gut, zumal wir beide, der arme Poet und sein singender Interpret, damals selbst mehr oder weniger nikotinsüchtige Kettenraucher waren. (Ein Vierteljahrhundert später bekam ich für das ganze Gequalme die medizinische Quittung: streuender Zungenkrebs.)

Doch zu jener Zeit war ich noch mit Leib und Seel ein stilbewusst schmauchendes Filter-Kamel. Dergestalt zog ich hinaus in die weite Welt, beziehungsweise fuhr mit dem D-Zug die Donau entlang bis nach Wien, um dem singenden Kinderkönig in der alten Habsburg-Metropole meine Aufwartung zu machen. In gewisser Weise war es auch eine nostalgische Heimkehr, denn dort hatten um die Jahrhundertwende schon meine zwei Großväter dem letzten Monarchen als königlich-kaiserliche Soldaten gedient. Bestimmt hatten auch sie sich dabei zwischen Prater und Burgtheater in so manch „süßes Mädel“ verguckt. Vor allem mein Großvater mütterlicherseits, der zeitlebens ein großer Liebhaber der Wiener Tradition von „Wein, Weib und Gesang“ gewesen ist, war für solche Ausschau gern zu haben. Ich weiß es, denn er war auch noch im hohen Alter ein rechter Venusnarr, der sich an der weiblichen Schönheit nicht sattsehen konnte. „Die holde Weiblichkeit“, so lautete das Leitmotiv seines oft intonierten Lobgesangs. Doch letztendlich hielt auch er das christliche Streben, die katholische Andacht vor der holden Gottesmutter, für den sichersten Weg ins Ewige Leben.

Wiener Verwandtschaften: Es hatte sich bald herausgestellt, dass auch meine „schöne Fremde“ insgeheim ein „süßes Mädel“ war – trotz all ihrer transatlantischen Mischkulanz. Auch ihr Großvater mütterlicherseits stammte aus der alten Habsburger Kaiserstadt. Als junger Bursch hatte er jedoch dort eine sozialistische Veranstaltung besucht und musste danach bei Nacht und Nebel vor den Gesetzeshütern der monarchischen Ordnung ins Ausland fliehen, immer weiter, bis er schließlich in der Neuen Welt gelandet war. So zumindest erzählte er es seinen dortigen Nachfahren. Auf alle Fälle traf nun auch seine Enkelin wenige Tage nach meiner Ankunft in Wien ein. Und so waren wir beide wieder zurückgekehrt in die Welt der Ahnen, in die Kaiserstadt ihrer Jugendträume. Jessmarntjosef, was sollte jetzt aus uns werden! Drei Wiener Großväter! Die erwarteten von uns bestimmt den Himmel auf Erden. Genau so war das damals. Oder so könnt‘ es zumindest gewesen sein. Aber vielleicht bildete ich’s mir auch nur wieder mal ein. Tatsache blieb, im zeitlosen Weltenrund waren auch unsere drei alten Jung-Wiener ein nostalgisch metaphysischer Männerbund.

Nur der vierte Großvater tanzte aus der Reihe. Er war der Italiener, dessen Muttersprache in Bruchstücken auch noch in seiner kalifornischen Enkelin weiterlebte, denn sie hatte einen Schwung italienischer Redewendungen samt einiger Kinderreime von ihrem Vater übernommen. Es war jedoch der Glanz ihrer dunklen Augen, in dem der ganze Zauber Süditaliens, der uralten Heimat ihrer mittelmeerischen Vorfahren, noch einmal so wunderbar aufleuchtete. Die Welt ist mein Augenzeuge. Und ganz blind bin ich ja auch nicht.

 

Das Licht der Augen,

wie sie leuchten und funkeln,

und wie sich alles im Lichte dreht,

ehe alles wieder im ewigen Dunkeln,

im endlosen Nichtsein

untergeht.

 

Aber bevor dies alles wieder sang- und klanglos versinkt, wäre auch noch Cyndi Lauper als Zeugin zu zitieren. Auch sie ist eine amerikanische Halbitalienerin, und so kennt sie sich in den entsprechenden Familientraditionen bestens aus:

 

“Oh daddy dear,

you know,

you are still number one,

but girls, they want to have fun!”

 

Commedia dell‘ Arte und Wiener Volkstheater. Diese zwei Traditionen vereinte meine Habsburger Heimkehrerin auf wunderbare Weise, sah ich sie so fröhlich tanzen, lustige Gesichter schneiden und mit mir durch die Wiener Altstadt strabanzen. Und stimmte mal wieder die kalifornische Schwingung, dann kam sie so richtig in kakanische Stimmung, wurde zur böhmischen Komödiantin, zur venezianischen Pulcinella und passionierten Venusvagantin, warf sich vergnügt in kecke Posen, hüllte sich in Wunderblusen sowie aus bunten Pluderhosen, kurzum sie war

 

zu jedem süßen Mädelstreich

gut aufgelegt und gern bereit,

jedoch, ich sag’s am besten gleich,

hier schweigt des Sängers Höflichkeit.

 

Nur dieses noch:  Herrlich war sie, ganz famos, und der gute, alte Teufel, ja wo steckte der den bloß?! Nur du und ich, wir beide … und Schubidu und Tandarei … unter den Linden auf der Heide … oh Spielmann, oh Spielfrau … eh ich’s vergesse … das Glück der Liebe, die Kunst der Lieder, sie sollen steigernd sich vereinen zum Rausch der Sinne, zum Klang der Glieder … So wollten es schon die Minnesänger auf der Walz durch die weite Welt, ebenso die Stürmer und Dränger durch Berg und Tal und Wald und Feld. So ahnten und wussten es schon immer der Mond und die Sterne in ihrem nächtlichen Schimmer und so weiß es die Königin der großen Nacht in ihrer funkelnden Himmelspracht, mit der sie das Weltall strahlend durchschauert, zur Freude all jener, die weltentrunken, all jener mystischen Euphoriker und allen voran die

 

Wiener Philharmoniker

Mit ihren schwelgenden Walzergeigen

wogen sie donauselig dahin und daher,

Wien wird ein wiegender Liebesreigen

und Nachtmusik wird Weltenmeer.

Was bleibt

ist eine schöne Muschel

an einem fremden Strand,

ein leises, rauschendes Getuschel

und Sternenglanz und Meeressand.

Und

im Kaffeehaus

„Unter den Linden“

rühr ich in leeren Tassen

und such die verlorene Zeit zu finden,

um sie noch einmal in Worte zu fassen.

 

Theatrum Mundi: Eine Tragikomödie. Der unbestrittene Meister dieses theatralischen Wechselspiels ist unser Hofmannsthal’scher Tor- und Todesheld. Ich kenne wenige Menschen, deren Mienenspiel im Stimmungswechsel solch emotionale Extreme widerspiegelt, wie das bei Gerald der Fall ist. Die zwei Bildbände zum Café Einstein, die den raschen Aufstieg des Kaffeehauses zu einem kulturellen Zentrum Berlins illustrieren, bringen dieses Schauspiel in zahlreichen Fotos auch immer wieder zum Ausdruck. In jener Zeit wurde es zudem noch weiter dramatisiert durch die wachsende Agonie des in seinem Körper immer rabiater ausbrechenden Dämonen Morbus Fabry.

Doch damals in Wien war Gerald noch ganz der übermütige Felix Krull, das „Glückskind“ und der „Kostümkopf“, wie er bei Thomas Mann im Buche steht. Im Grunde waren wir alle mehr oder weniger Spielfiguren im Spielraum zwischen Realität und Phantasie. Geralds Selbstinszenierung schloss zum Beispiel einen Zigeuner, wenn nicht gar einen Zigeunerbaron mit ein, den er in seiner Ahnengalerie ausfindig gemacht haben wollte. Wurde er überschwänglich, dann war es ein Kinderspiel, sich seine kreative Euphorie mit dem Crescendo eines Zigeuner-Zymbalons melodramatisch noch weiter auszumalen. In Wien konnte man solche  Vorstellungen aus der Luft greifen. Während Geralds Zeit am Max Reinhard Seminar war auch noch Jean Louis Barrault, die Éminence Grise des französischen Films, in der Wiener Theaterwelt aktiv, und so ist es gut möglich, dass dessen berühmter Film Les Enfants du Paradis auch für den Albumtitel Der Kinderkönig direkt oder indirekt Pate gestanden hat. Wie dem auch sei, als der mögliche Nachfahr eines Pusta-Primas auf den Spuren eines pikaresken Pseudo-Aristokraten Thomas Mann’scher Provenienz hatte er genug Edelmut und blaues Schauspielblut, um sich spielerisch zum Kinderkönig aufzuschwingen. Und unsere drei nostalgischen Patriarchen, die Großväter aus der Jahrhundertwende, sie hatten in ihm ihren musikalischen Mogel-Monarchen. Auf diese Weise verbummelten wir unsere Zeit in Wiener Kaffeehäusern und Künstlerkneipen, zogen durch laue Sommernächte von Theaterstück zu Theaterstück und wer  Ohren hatte zu hören, dem war der Himmel über Wien mal wieder eine einzige Nachtmusik. Oder man hätte auch sagen können:

 

„Schläft ein Lied in allen Dingen,

die da träumen fort und fort,

und die Welt hebt an zu singen,

triffst du nur das Zauberwort.“

 

Das war Eichendorffs magische Weltformel, die sich in unserer Generation zu verwirklichen begann wie nie zuvor. Die Jugendbewegung der Sechziger und Siebziger Jahre entfaltete sich bekanntlich als ein internationales Kulturphänomen, das von einer einzigartigen musikalischen Schwarmintelligenz getragen war. Eine bunte Schar von Musikern aller Gattungen verwandelte unsere Lebensgefühle immer wieder in erregende Rhythmen und bewegende Melodien. „In the Summer Time, when the Weather is High“ von Mungo Jerry war zum Beispiel eines dieser Lieder, das den Zeitgeist jener flitternden Sommerzeit einfing wie einen Schwarm flatternder Schmetterlinge. Wir hatten die Gruppe damals live in Südfrankreich erlebt. Open-Air-Konzerte, das waren High-Time-Happenings. Und immer wieder besangen Pop- und Rocksongs diese Hoch-Zeit zwischen dem Woodstock-Festival und dem Beginn der Aids-Epidemie als einen langen, sorglosen „Summer of Love“.  Das Leben, es war ein farbenfroher Wanderzirkus, grad so wie die amerikanische Vagantentruppe The Living Theater es in ihren Schauspielen vorführte. Ihr bekanntestes Theaterstück hieß „Paradise Now“. And that was our daily destiny: Eden forever, from here to eternity!

Gerald mit Lynne und Lisa

Gerald mit Lynne und Lisa

 

Geralds Lisa war sogar eine richtige Vollblut-Wienerin und so hatten wir beide gleich zwei „süße Mädel“ aus der „schönen Fremde“. Hier auf diesem Bild waren wir gerade bei Catherine in der Provence, meiner ersten Sommerliebe, wo wir für ein paar Tage Zwischenstation gemacht hatten. Auch sie hatte längst einen neuen Geliebten und so hieß es rundum

Bienvenue

Welcome, Willkommen!

 

Und das mit weit offenem Hemd in heroisch-galanter Manier, grad so wie ein französisches Musketier. Offenherziger konnte man zur Welt und ihrem Welttheater nicht einladen. Und da diese lockende Welt letztendlich eine Offenbarung des Verborgenen ist, ein irdisches Gleichnis für das ewig verhüllte Sternengeheimnis, geht der fesche Bursch unseren zwei braven Mädeln mit gutem Beispiel voran:

 

Oh bon chance, mon Delacroix,

bon chance

avec ta liberté

sur les barricades,

oh honi soit qui mal y pense.

 

Auf gut Deutsch,

 

Welch Erdenglück und Sonnenglanz

im schönen Schauspiel der Frau Welt

und ihrem bezaubernden Schleiertanz.

 

Entrez Mesdames, entrez Messieurs, voilà „Life is a Cabaret“, so lautet eine Maxime des  Amerikanischen Traums. Sie stammt sicherlich aus der Welt der Revue-Shows rund um den Broadway von Manhattan. Dort auf der Upper Westside sollten wir schon wenige Jahre später fast ein ganzes Jahrzehnt leben.

Das Mienen- und Maskenspiel der Weltenbühne und ihrer Lust- und Trauerspiele, in den Gesichtern der Menschen sind ihre Theatertexte auf vielfache Weise eingeschrieben:

 

„Masken, Masken, dass man Eros blende,

wer erträgt sein strahlendes Gesicht…“

 

So lauten die ersten Zeilen von Rilkes Gedicht „Eros“. Diese Verse erinnern mich an den jungen Gerald und unsere zwei süßen Mädel. Immer wieder sah ich in ihren schönen Gesichtern dieses strahlende Aufleuchten, das Rilke im Verlauf des Gedichts als den Anfang eines „namenlosen Schauders“ beschreibt. Mein Gott! So konnte man in solchen magischen Momenten ausrufen, und es war sicherlich nicht die Anrufung des christlichen Gottessohnes oder seines mosaisch donnerzornigen Gottvaters. Es war Eros, der heidnische Liebesgott der arkadischen Antike und ihrer panerotischen Sonnenwelt. Thomas Mann hatte in seiner Novelle Der Tod in Venedig in der jugendlichen Figur Tadzios die mythische Lichtgestalt des Eros-Gottes evokativ und schließlich explizit heraufbeschworen und Luchino Visconti hatte sie in seiner Verfilmung durch einen bildhübschen, ephebisch-androgynen Schauspieler auf kongeniale Art und Weise verkörpern lassen. So wie die Filmkritik den Hollywood-Komödien von Ernst Lubitsch den sogenannten „Lubitsch-Touch“ zugeschrieben hat, so könnte man von Viscontis Eros-Visionen den „Tadzio Touch“ ableiten. Zudem scheint mir diese erotische Epiphanie nichts anderes zu sein als die antik sinnliche Reinkarnation der katholisch übersinnlichen Madonnenvision.

Vom Stoßgebet zum Lobgedicht. Ersteres war angesagt, wenn in meiner jugendlich mittelalterlichen Schreckenszeit mal wieder der Teufel an die Tür klopfte. Später ließ sich dieser christliche Brauch des Heulen und Zähneklapperns gut umfunktionieren in die orphische Tradition des Rühmens, so wie es Rilke in seinen Sonetten an Orpheus vorgeführt hatte. Als Beispiel für meine Preislieder kann vielleicht das damalige Gedicht „Das Leben soll leben“ herhalten, nicht zuletzt auch deshalb, weil es eine recht persönliche Nachgeschichte hat.

 

Das Leben soll leben, soll überleben,

hier, jetzt, nicht irgendwann, irgendwo,

Gott hat mir darauf sein Wort gegeben,

nimm mich beim Wort, ich will es so.

 

Das war der letzte Vierzeiler in einer langen Reihe von Strophen, die unsere Lebensreise als eine Achterbahn durch Raum und Zeit, Zukunft und Vergangenheit beschreibt. Ich hatte dieses lyrische Karussell seinerzeit in Heidelberg Gerald regelrecht auf den Leib getextet, ihm zudem das Gedicht gewidmet, und die Heidelberger „Straßentexte“ hatten es in ihrer zweiten Ausgabe dann auch mitsamt der Widmung abgedruckt. In späteren Jahren, als wir uns regelmäßig in Berlin wiedersahen, hat Gerald diese Zeilen immer wieder rezitiert, vor allem, als wir mehr oder weniger glaubten, dass der Tod uns zwei Toren so schnell doch noch nicht haben konnte. Wir zwei waren dem Sensenmann anscheinend tatsächlich noch einmal von der Schippe gesprungen. Mich zum Beispiel hielten Mediziner nach meiner zweiten Zungenoperation vorerst für kuriert und so streckte ich entsprechend Schnitter, Tod und Teufel

 

zu ihrem schwarzromantischen Graus

frisch und frech und fröhlich frei

meine geheilte Zunge heraus.

 

Und auch Gerald ließ sich nicht lumpen und gab der Welt, was sein Überleben anging, umfassend Auskunft: Und dennoch lebe ich – Mein Kampf mit einer rätselhaften Krankheit. So heißen seine Morbus-Fabry-Memoiren, die vor wenigen Jahren auf den Markt kamen und seitdem nicht nur in den Medien sondern auch in diversen Ministerien immer wieder Beachtung und Aufmerksamkeit finden. Und wieder die langen Diskussionen und dieses Mal ist es der lange Marsch durch die gesundheitspolitischen Institutionen und immer rund um die gestundete Zeit und wie man‘s auch dreht und wie man’s auch wendet, immer kürzer wird die Strecke unserer Vergänglichkeit.

„Wir gehen meilenweit …“ Als die Lieder des Kinderkönigs im Herbst 1977 auf den Markt kamen, waren einige von uns allerdings schon über alle Berge. Martin war nach West-Berlin gezogen, wo er sich unter anderem in der jungen Literaturszene engagierte, doch bald zog er weiter nach Bangkok, wo er bis zu seinem Lebensende vorwiegend leben sollte. Und auch ich war noch im gleichen Jahr vor der deutschen Wirklichkeit ausgerissen, genauer, vor dem drohenden Ende der Studentenzeit und ihrer unwiederbringlichen Narrenfreiheit. Ich brauchte mehr Zeit, ich brauchte mehr Raum, und so suchte ich das Weite im vielberufenen amerikanischen Traum, im großen Land der Freiheit und seiner unbegrenzten Möglichkeiten – den Bedenken aller Frankfurter Schulmeister und ihrer Heidelberger Nachdenker zum Trotz. Und das im entschiedenen Alleingang, denn insgeheim bin ich auch Friedrich Schiller, diesem freiheitsliebenden Schwaben, beziehungsweise seinem hochgesteckten Hochzeitsziel gefolgt: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet ….“.

Wie bald habe ich diesen langweiligen Ratschlag bereut und gewünscht, ich hätte auf die Stimme meines Freiherrn aus der Welt jenseits der böhmischen Wälder gehört. Hatte er doch sein Gedicht „Heimweh“ ausdrücklich mit dem Hinweis begonnen:

 

„Wer in die Fremde will wandern,

der muss mit der Liebsten gehn.“

 

Vielleicht konnte Eichendorff die Reue seines narrischen Ausreißers und schicksalsblinden Taugenichts nachempfinden. Jedenfalls war ich mit der „Liebsten“ bereits ein halbes Jahr später im weihnachtlichen New York und seinem verschneiten Hinterland wieder glücklich vereint. Von dort aus zogen wir schon im folgenden Sommer weiter in den fernen Westen, in anderen Worten, in die verheißene „schöne Fremde“ am kalifornischen Ende der sogenannten Westlichen Zivilisation, dort, wo Städte und Straßen  Namen tragen wie „Arcadia“, „Paradise“ und „Camino del Cielo“.

„At first flash of Eden, we race down to the sea“, so hießen uns die Doors willkommen mit ihrem Lied „Waiting for the Sun“. Und als sie über dem „Golden State“ aufging von La Jolla in San Diego bis zur „Golden Gate Bridge“ in San Francisco, da war es sonnenklar: „California Dreamin‘“, das war der Traum von Amerika auf seinem absoluten Höhepunkt. The Mamas and Papas von San Francisco hatten ihn in eine wunderbare Hymne verwandelt, welche die rockenden Rhythmen der rollenden Brandung und die rauschende Energie ihrer wogenden Wellen einfing wie keine andere kalifornische Melodie. Ein halbes Jahrzehnt sollten wir an dieser vielbesungenen Westküste der Neuen Welt verbringen und in Städten wie San Diego, San Francisco und Santa Barbara leben, ehe wir schließlich wieder an die Ostküste zurückkehrten. Nie mehr stand die Sonne so hoch am tiefblauen Himmel wie in diesen letzten Jahren unserer langen, weltverbummelten Jugendzeit.

Kaum hatten wir uns in Kalifornien einigermaßen eingelebt, stand auch schon Martin mit seinem Freund Harald vor der Tür. Über die Sierra Nevada waren sie gekommen. Hatten nach langen Tramp-Touren die Halbwüsten von Texas, New Mexico und Arizona hinter sich gelassen, um sich schließlich zwei Wochen bei uns von ihren Strapazen zu erholen. Was für zwei ungleiche Weggefährten! Während der erste gern grübelte, sprudelte der zweite nur so vor Lebensfreude. Für Martin schien damals noch Schopenhauers pessimistische Weltvorstellung die philosophische Bestätigung für eine insgesamt missratene Wirklichkeit zu sein. Adorno und vor allem Hegel versprachen jedoch potentielle, wenn nicht gar auf lange Sicht utopische Weltverbesserung . Das kritisch systematische Durchdenken ihrer dialektischen Geschichtsphilosophie war Martin jedenfalls auch noch nach dem Studium weiterhin wichtiges, intellektuelles Exerzitium. Dass er ohne die Bücher seiner großen Vordenker reisen musste, war ihm Grund zu wiederholter Klage. Heimweh nach Heidelberg. Dort standen zumindest die gesammelten Werke griffbereit, und hier waren sie so unendlich weit. Ebenso die Dichterrunden rund um die verrauchten Mitternachtsstunden. Und nicht zu vergessen, die ganze deutsche Romantik mitsamt ihrer bundesrepublikanischen Rebellion … Oh gute Revoluzzerzeit, oh alte Burschenherrlichkeit!

 

Ein letztes Prosit, ein letzter Spontispruch

vielleicht wird ja alles noch einmal wahr

als sentimentales Erinnerungsbuch.

 

Jedoch damals in Santa Barbara galt noch immer der Ruf der Romantik, der Lockruf der Ferne: Auf zu neuen Ufern.

Martin, mon cher – au bord de la mer! Selbst noch am sonnigen Strand schien er im Kopf kulturphilosophische Probleme zu wälzen. Wie er so nachdenklich in schwarzen, hochgekrempelten Klamotten durch die Brandung stakte, erinnerte er mich an Gustav Aschenbach in Tod in Venedig. Visconti hatte solch Mann’schen mis en scènes noch weitere musikalische Glanzlichter aufgesetzt, vor allem in dem bewegenden, elegisch euphorischen Adagietto aus Gustav Mahlers fünfter Symphonie. Jahrzehnte später sollte auch noch unser Kaffeehauskönig diese kalifornischen Impressionen mit einem passenden Poem bereichern:

 

“der strand

ist der ort

des letzten aufbegehrens

der welle

vor ihrem tod.“

 

„Welle“ heißt dieses Gedicht aus der Sammlung Alphabet der Fische. Glaubt man an Reinkarnation, dann war Gerald bestimmt ein Fisch in einer früheren Inkarnation. Seitdem ich ihn kenne, war er vom Wasser angezogen und kaum am Meer angekommen, stürzte er sich regelrecht in die Fluten, als erkannte er wieder sein ursprüngliches Element und wollte so schnell wie möglich heimkehren in den großen Meeresmutterschoß. Gremium matris terrae nennen die Kulturanthropologen der matriarchalen Mythografie diese schöpferische und unerschöpfliche Unterwelt der archaischen Großen Mutter. Vielleicht war er ja nur zurückgekehrt, um auch einmal das Alphabet der Menschen, die Buchstaben ihrer hohen Bildung – und bodenlosen Barbarei – zu erlernen und zu erfahren. Auf alle Fälle war er ein unentwegter Wassermann und somit ein berufener Herold des am fernen Meereshorizont aufziehenden „Age of Aquarius“.

Von dieser meeresmythischen Erscheinung gibt es auch ein sprechendes Lichtbild – allerdings ex negativo. Als Gerald uns Mitte der Neunziger Jahre anlässlich des Yoko-Ono-Projekts in Amerika besuchte, fuhren wir an einem Nachmittag mit noch anderen Freunden zusammen an den grauverhangenen Atlantik. Es war Ende November und als Gerald in seinem langen Mantel weit von uns entfernt so allein am stürmischen Meerestrand stand, da erinnerte er mich sehr an das Gemälde „Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich. In diesem tableau vivant ahmte mal wieder das Leben ein Kunstwerk nach. Zudem war es ein Sinnbild vom Fisch aus dem Wasser, dem die glückliche Rückkehr verwehrt ist. Hier war kein Jubelsprung ins nasse, erfrischende Element möglich. Vielmehr stand Gerald, ein frostiger Hagestolz, erstarrt am kalten Meeresstrand.

Genau besehen ist Geralds Bild an der Ostküste ein winterliches Spiegelbild zu Martins sommerlicher Promenade an der Westküste. Es sind Bilder und Einbildungen, die Vergangenes erneut vergegenwärtigen und verlebendigen. Während Gerald schon ganz vermummt am eisigen Atlantik steht, und Martin in schwarzer Existenzialistenkluft noch nachdenklich durch die schäumende Brandung des Pazifik geht, vergnügt sich schon der Rest von uns  – „in the summer time when the weather is high“ – frei nach Adornos Minima Moralia ganz ohne Kleider und moralischen Anstand im rauschenden Wasser und tuschelnden Dünensand. Voilà, mes amis, les enfant du paradis. Und hin und wieder huschte ein Schmunzeln durch das Mienenspiel von Schopenhauers standhaftem Stoiker und Thomas Manns letztem Melancholiker.

Martin hatte in jungen Jahren eine gute Erbschaft gemacht und bereits bei seinem ersten Besuch in Kalifornien zeichneten sich seine Pläne ab, den Rest seines Lebens mit Weltreisen zu verbringen. Noch wusste ich nicht, dass auch mir nach meinen dreizehn Lehrjahren an verschiedenen Universitäten in Europa und Amerika noch einmal genauso viele Wanderjahre von Universität zu Universität bevorstehen würden. In Amerika nennt man solche Wandergelehrten auf der Suche nach einem festen Lehrstuhl „gypsy scholars“ Und so manche dieser akademischen Nomaden haben auf derartigen Wanderschaften nicht nur die Wanderlust sondern auch noch ihre dazugehörigen Liebsten verloren.

 

Not us

We were the traveling dream team,

I was the wandering gypsy scholar

and she my wandering gypsy queen.

 

But sometimes like in Santana’s

magical musical mystery tours

of fruits and nuts and bananas

 

we turned into a witches’ brew

of psycho-babble, gender-bubble

and nothing but real double trouble.

 

Oh Madonna,  ma Belladonna … oh meine Tollkirsche, ich darf’s nicht vergessen, … denn manchmal, um ganz ehrlich zu sein … da war mit dir gar nicht gut Kirschen essen.

 

My Drama Queen

mein süß-saures Mädel,

oh mia ragazza obstinata,

testa dura, dicker Schädel.

Yes, you did – oh no, I didn’t!

Aus heitrem Himmel nichts als Streit,

and this time I will tell you clearly,

to hell with „Sängers Höflichkeit“!

“Oh Gott im Himmel”

give peace a chance

in our families’ ancient romance!

I’m not your Goddess, I’m not your mother,

your “Sündenpfuhl”, your “Glockenspiel” ,

and for Christ’s sake, I’m not your father,

„wer das nicht weiß, der weiß nicht viel“.

 

Oh stop it,

being so hot and cool!

You stop it,

being your grandfather’s royal fool!

Hey Honey,

girls just want to have fun,

but this is not funny!

(Und statt Molto Vivace  … verteilte sie … eine Wiener Watsche!)

Oh blöde Ziege … oh sturer Bock … nur ein Esel würd’ sich strecken … the milk was spilled and now I knew … mit mir war auch kein Honigschlecken … and we were riders on the storm, crazy horses on a furious flight … everything turned upside down and the world became …

Walpurgis Night

but then we grabbed the clouds by the horn

and helter skelter we rode out the storm

because we knew from way back when

tomorrow

the sun would shine again

“Waiting for the Sun”

“waiting for you

to come along

to tell me what went wrong”.

„Der irre Spielmann“, so lautet ein anderes Eichendorff’sches Wanderlied mit großem, geschichtlichem Spannungsbogen, denn es ruft noch einmal die jahrhundertealte Tradition der fahrenden Spielleute herauf. Sie begann mit den vagantischen Scholaren und Musikanten im hohen Mittelalter, führte in der deutschen Klassik und Romantik vor allem gen Italien und erreichte schließlich in diesem Spielmannslied ihre imaginäre Endstation:

 

„Ich möchte reiten ans Ende der Welt,

wo der Mond und die Sonne hinunterfällt.

 

Wo schwindelnd beginnt die Ewigkeit,

wie ein Meer so erschrecklich still und weit,

da sinken alle Ströme und Segel hinein,

da wird es wohl endlich auch ruhig sein.“

 

Der Stille Ozean an der Westküste Amerikas markiert in der Tat das Ende der Welt, zumindest aus westlicher Sicht. Hier gehen die letzten Strahlen der abendländischen Sonne unter und hier beginnt die „Ewigkeit wie ein Meer“. An einem sonnigen Nachmittag saßen wir hier mit Freunden am Meeresstrand. Wir waren alle ziemlich high auf Magic Mushrooms, welche die Indios Mittel- und Südamerikas zu essen pflegen, um sich in andere Bewusstseinszustände zu versetzen.

Welch poetisch psychedelisches Panorama,

die ganze kalifornische Realität

eine einzige Fata Morgana.

 

Diese Welt der Trance und der Träume erinnert an Fitzcarraldo und Aguirre, der Zorn Gottes, Werner Herzogs kinematografische Fantasien über die spanisch-portugiesische Kolonialzeit in Mittel- und Südamerika. In ihnen verkörpert Klaus Kinski zusehends verrückter werdende Fantasten, die in den Siebziger Jahren zu internationalen Kultfiguren des Neuen Deutschen Films wurden. Während Fitzcarraldos Passion, im amazonischen Regenwald ein Opernhaus zu bauen, noch relativ vage Richard Wagners Wahnfried auf dem Grünen Hügel assoziiert, evoziert der eroberungswütige Aguirre letztendlich unverleugbar Hitlers geschichtlichen Größenwahn. Mit seiner in jedem Film blonder werdenden Mähne veranschaulicht Kinski zunehmend den progressiven Degenerationsprozess des „böhmischen Gefreiten“ zur „blonden Bestie“, diesem philosophischen Fabelwesen Nietzsche’scher Provenienz, in dem der dahergelaufene Schmierenkomödiant zum geifernd schnaubenden Raubtier mutiert. Fitzcarraldos Passagierschiff, das Indios durch den amazonischen Dschungel ziehen, und Aguirres abgetakeltes Floß, das durch heimtückische Urwaldgewässer treibt, sind allegorische „Trunkene Narrenschiffe“, welche die Wunsch- und Wahnwelt ihrer untergehenden Besatzung geradezu halluzinatorisch vor Augen führt. Am Ende ist der Konquistador Aguirre ein groteskes Charakterwrack, eine menschlich-unmenschliche Ruine, aus der alle guten Geister entflohen sind.

Aguirre

agent provocateur de Dieu,

artiste maudit sans pareil

sur le Bateau Ivre

de Rimbaud.

 

Diese poetisch-cinematografische Odyssee stellt unter anderem auch eine psychopathologische Parabel dar für die sukzessive Verwandlung kreativer Energien in destruktives Chaos. Blicke ich zurück in die Lebensgeschichte einiger meiner Weggefährten, so muss ich mit zunehmendem Staunen wenn nicht gar Entsetzen feststellen, wie manche ihre Lebensläufe mehr und mehr zu seelischen Irrfahrten verkommen. Aus ihrem jugendlichen Witz wurde im Laufe der Jahre wachsende Wut, aus ihrer Jugendfreude wurde Altersschwermut, wenn nicht sogar schon beginnende Demenz. Die mit Galgenhumor nennen diese geistig schleichende Verdüsterung den „Schwarzen Tod“. Derartig dräuende Nachtmeerfahrten erinnern mich an einen Song von King Crimson, der mir seit Anfang der Siebziger Jahre nachgeht, als wir ihn aus dem alten Bauernhaus in der Provence über die umliegenden Felder schallen ließen. Der klagende Rockgesang aus jenem heiteren Landschaftsbild hallt mir heute noch im Ohr: „Confusion will be my epitaph“.

 

„Do not go gentle into that dark night,

rage, rage against the dying of the light.”

 

Dylan Thomas richtete diese berühmt gewordenen Verse an seinen sterbenden Vater. Jim Morrisons Song „Light my Fire“ ergänzt dieses Gedicht als ein Fackellied, das nicht nur das Entfachen der Leidenschaft beschreibt, sondern auch ihr letztes Leiden und Zerbrechen auf dem Scheiterhaufen der Gefühle darstellt: „ … and our love becomes a funeral pyre.“ Morrisons Song endet mit dem mehrfachen, ekstatisch-agonalen Refrain „Try to set the night on fire.“

Unser jahrelanger Lieblingslied von den Doors war jedoch “Touch Me“, das wir beide oft imitierten und vor allem parodierten, nicht zuletzt, weil wir vom Können des Rockkönigs, vom dröhnenden Drang seines dionysischen Donnergesangs so weit entfernt waren. Und ohne Back-Up-Band geht schon gleich gar nichts. Jedenfalls ist „Touch me“, wohl das älteste Zauberwort der Menschheitsgeschichte. Michelangelo hat es in seinem berühmten Fresko in der Sixtinischen Kapelle visuell gestaltet, nämlich in der Berührung zwischen Adam und Gottvater, und Thomas Mann hat es in der Maske erotischer Schönheit literarisch zum Ausdruck gebracht. Morrisons „Touch Me“ ist die musikalische Variante dieses Zauberwortes und gewissermaßen auch die Endversion zu Michelangelos biblischer Schöpfungsvision, nämlich das erotisch-apokalyptische Finale, das in einer Strophe zum Ausdruck kommt, die sicherlich zu den melodramatischsten der Rockmusik, ja der Musikgeschichte überhaupt zählt:

 

„I’m gonna love you

till the stars fall from the sky!“

            „If the doors of perception were cleansed, everything would appear as it is, infinite.” Dieser Ausspruch William Blakes, des großen Maler-Dichters der englischen Romantik, hatte nicht nur die Drogenliteratur der modernen Subkultur beeinflusst. Blakes „Doors of Perception“ hatte auch den Doors ihren Namen gegeben. Ihre Lieder beschwören nicht nur immer wieder den Weltenrausch herauf, sondern auch die Erwartung neuer Offenbarungen und nicht zuletzt die Erinnerungen an versunkene Erfahrungen. In anderen Worten, es sind die Welten, die vor allem Poeten und Propheten immer wieder imaginieren. Am besten hat dies in jüngster Zeit wohl Durs Grünbein zum Ausdruck gebracht, der bedeutendste deutsche Dichter seiner Generation, der nach dem Berliner Mauerfall geradezu über Nacht zum poetischen Shooting Star des vereinten Deutschlands aufgestiegen war. Seine Texte erscheinen seit einigen Jahren in hervorragender Übersetzung von Michael Eskin in dem von ihm mitbegründeten New Yorker Verlag Upper West Side Philosophers. Auch dieses Projekt ist ein programmatischer, transatlantischer Brückenschlag. Seit rund zwanzig Jahren sind wir gute Freunde, doch das ist eine andere Geschichte. Jedoch soll hier unserer Freundschaft am Beispiel seines als „Illumined Night“ übersetzten Grünbein-Gedichts ein sprechendes Denkmal gesetzt werden. Letzteres stellt auch eine gute Synopse von Grünbeins poetisch-poetologischer Weltanschauung dar und soll daher im Folgenden in  drei Teilen zitiert werden.

„Poetry – what was it again?

A portal of bygone emotions.”

Remember

my sweet girl, my gypsy queen,

ma Bella Donna Dell’Acqua,

remember those days

now so far away

when life and love

was an infinity pool on a hot summer day.

“Verse is a diver, it pulls you below as it looks for the treasures

on the sea floor, out there in the brain. It conspires with the stars.”

Remember

my good old friends,

Gerald and Martin, my fellow travelers across the oceans …

die vielen magischen Momente

unserer langen, transatlantischen Freundschaft,

unsere Reisen durch die Städte und Länder der Alten und Neuen Welt.

„What survives are poems. Songs that mortality sings.

A travel guide … on the flight … from humanity’s night.”

(Durs Grünbein, Illumined Night)

 

***

 

“These fragments I have shored against my ruins.” So steht es in T.S. Eliots großem, epischen Gedicht „The Waste Land“.

 

Life

a mess

a mystery

a work in progress

between medieval misery

and mythic-modern ecstasy.

Eine Irr- und Wallfahrt

zwischen

Jammertal und Venusberg

und was noch zu vollenden bliebe,

wäre das Wunder der großen Liebe

als sternefunkelndes Gesamtkunstwerk.

Herz und Scherz und Weltenschmerz … Impressionen, Reflektionen … Quintessenzen, Kristallisationen …

 

Werfen und Geworfensein, Sein und Zeit, Zufall und Notwendigkeit. Es hätte ja auch alles ganz anders kommen können auf dieser Lebensreise zwischen kindlichem Teufelswahn und jugendlicher Achterbahn, Gottes Allmacht und Himmelsgestirn und der Verschwörung im Gehirn … dort, irgendwo zwischen Stumpfsinn, Genie und Wahnsinn, Genom, Tumor und Karzinom ….

 

Spielplan und Schauspiel, eine Weltgeschichte für Götter samt ihrer Spötter und Dämonen im Diesseits und Jenseits der Äonen. Seid verdammt, seid erlöst, seid umschlungen, Millionen. Und wie viele müssen hier auf Erden auf gute Freundschaften verzichten, auf das Abenteuer erhörter, verrückter Liebesgeschichten …

 

„The world is my oyster.“ So heißt es diesseits des Atlantik, wenn man sich in der Welt wohlfühlt. Im Schoß der Frau Welt geborgen, ausschweifend in ihrem bunten Rock, so wusste man es jenseits des Atlantik zur großen Hochzeit des Barock … Heimweh und Fernweh … und zwischen Heidelberg und Wien, zwischen Bangkok und Berlin …

 

between here and there and the universe

we are homebound to Mother Earth

when and how, we have no clue,

but we are all on the road to Timbuktu,

back to the dark lady with the big belly button

in the heart of darkness, the dark continent

of our beginning and our end.

***

 

“Wer in die Fremde will wandern … „ Innere Stimmen, äußere Stimmen, im Grunde sind wir alle von Sinnen, wenn es um den rechten Weg und um die richtige Zukunft geht. In meinem Falle hatte der alte Eichendorff sicherlich Recht behalten, irgendwo dort in fernen Weiten, im ewigen Kreislauf der Gezeiten. Vielleicht hatte er ja meinem ertrunkenen Idol abgelauscht, dass mein Seinsmaß noch nicht voll, vielleicht den Lebensströmen zugerauscht, wohin meine Reise gehen soll. Auf alle Fälle wurde mir in den letzten Jahren immer klarer, dass ich wohl unwiderruflich in der Neuen Welt gestrandet war – und hier jetzt zu Hause bin. Und so erinnere ich mich gerne und immer wieder an Eichendorffs romantische Wanderlieder und nicht zuletzt an Morrisons lockend rockendes Heimkehrlied aus jener längst verflossenen Zeit:

„I found an island in your arms,

a country in your eyes.”

 

(“Break on Through to the Other Side”)

 

To be continued.

 

 

 

Zitierte Literatur

 

Eichendorff, Joseph von. Gedichte. Gütersloh: Bertelsmann, o.D.

 

Grünbein, Durs: Mortal Diamond. Poems. Translated by Michael Eskin. New York: Upper West Side Philosophers, 2013

 

The Doors Complete. Miami, Florida: Belwin, 1983.

 

Uhlig, Gerald. Alphabet der Fische. Zeichnungen, Fotografien, Gedichte. Berlin: Lardon, 2004.

 

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