Nov 2011

Günter Kunert

Günter Kunert, November 2011 (© Michael Augustin)

NÄCHTLICHES LAMENTO
Das wortreiche nächtliche Gemurmel
von Dichtern
in den unergründlichen Schlachthäusern
der toten Seelen.
Wieviele Reime gibt es auf “Veronal”?
Die Schlafmützigkeit der Monster
gebiert bedruckte Blätter
zumeist zuletzt vom Winde verweht.
Kein Geber, kein Gesang, keine Beschwörung
des gefallenen Engels der Geschichte.
Luzifertiges
in handlichem Format, nachfüllbar,
vor Gebrauch zu schützen.
Und du sollst deine Feinde lieben,
weil sie Sorge tragen
für Deine Bodenhaftung
sogar.

   17. 8. 11
   
   
DER CHRONIST
Der Chronist krankt an der Zeit
und zwar chronisch. Was er
buchstäblich niederlegt
für die blinden Augen Künftiger,
war eben noch Blut gewesen, Feuer
und Ehrensold, Gehirnmasse, Reifrock,
Fallbeil, Eisbergkollison,
Bomberanflug über Hannover-
Braunschweig-Nagasaki bis
Tschernobyl. Der Chronist
schwitzt vor Angst
über seine Sätze: Alles Ungeheuerliche
wird mein eines Tages
ihm zuordnen. Mit jeder Zeile
verliert er seine Unschuld.
Zum Schluß liegt er da,
eine niedergeschlagene Gestalt,
geschändet von der Welt,
von jedem eigenen Wort.

   17. 8. 11
   
   

FRÜHHERBST
Dieser Sommer ist keiner gewesen.
nur Wolken so regensatt.
Die Stimmung? Durchwachsen. Der Körper
ungehorsam und matt.

Die Lüste sind vergangen,
statt Nacktheit bloß Anatomie.
In vielen schlaflosen Nächten
entschlummert die Fantasie.

Wind läßt das Laub verfliegen,
als trüge es Botschaften fort,
die einer verzweifelt geschrieben
an einem ihm fremden Ort.

Hieroglyphen der Blätter Geäder,
von Dauer zu kurze Zeit,
gleich unsern eigenen Worten:
Schnipsel von Ewigkeit.

   13. 9. 11
   
   

FINGERZEIG IN EIGENER SACHE
So im Dahingehen
kommst du zu dir. Ach,
ihr meine Zellteilchen
umsorgt von zahllosen Euresgleichen.
Bei der Suche nach dem, was
den Menschen im Innersten
zusammenhält, gerät man leicht
in Konfusion. Und kommt
doch nicht dahinter, da
der Zeigefinger
sich näherer Angaben enthält.
Der Zeichensprache nicht mächtig,
verbleibt mir
von allen Irrtümern kaum
eine Handvoll.

   16. 10. 11
   
   

REQUIEM 1
Hier lebt die Menschenleere
stumm ihr eignes Sein. Kein Blick von fern,
von nah, kein Rufen “kehre,
wieder!” Ein erloschner Stern.

Die Luft steht still, als sei es anbefohlen.
Der graue Himmel deckt den grauen Ort.
Von hier kann keiner dich nach Hause holen,
denn wer verblieb, ist längst schon fort

und tief vergraben in verblichnen Akten:
das Einst ein ominöses Monument
aus Zahlen und verdrängten Fakten
und Namen, die kein Mund mehr nennt.

   18. 9. 11
   
   

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