Jun 2011

Katharina Born

Die Panne des Fremden (Juni 1865)
An einem der wenigen Sonnentage im regnerischen Juni von 1865 hatte in der Melsbacher Hohl unterhalb der Kirche ein junger Herr mit seinem Landauer eine Panne. Der glänzende Wagen machte noch mit gebrochener Vorderachse und schief am matschigen Fuß der Hüh stehend, großen Eindruck auf die herbeigekommenen Dorfbewohner. Der Herr selbst trug einen samtblauen Gehrock und war von so offensichtlich städtischer Eleganz, dass keiner der jungen Männer, die auf dem angrenzenden Feld mit dem Ausbringen von Mist beschäftigt waren, es wagte, ihm zu helfen. Er hatte aussteigen müssen, um das Pferd zu beruhigen, was ihm sichtlich schwerfiel, so aufgebracht war er. Als seine glanzledernen Stiefel im Schlamm versanken, begann er laut zu fluchen.
Die Mädchen kehrten gerade vom Markt in Arlich zurück und sahen schon von weitem den Wagen. Die großen leeren Körbe im Arm, liefen sie über den matschigen Waldpfad aus der Hohl heran, um den Fremden genauer zu besehen. Die Jungen, die nun ebenfalls vom Kurtenacker herbeigerannt kamen, fingen in ihrer Aufregung an zu johlen und die Mädchen zu zwicken. Diese aber kicherten beim Anblick des jungen Herrn nur noch nervös, senkten den Blick und versuchten ihre von den Waldbeeren blaugefärbten Hände hinter den schmutzigen Röcken zu verstecken.
Allein Irma stand wie angewurzelt da und beobachtete den schimpfenden Mann, seinen schnaubenden Braunen, die blitzende Kutsche und den schönen Rock. Schnapp sprang um das Mädchen herum und bellte den Wagen an. Langsam öffneten sich Irmas Lippen. Aber sie schlossen sich sofort wieder, als der Mann sie ansah.
Im Jahr 1865 war Irma Wittlich dreizehn Jahre alt. Zwar hatte sie, wie alle ihre Geschwister, die Wittlich’schen Ohren, das starke Kinn und die etwas zu große Nase. Was bei den anderen aber zu dem ärmlichen, hohläugigen und dümmlichen Ausdruck geführt hatte, für den die Familie bekannt war, verschmolz in Irmas Gesicht zu einer extravaganten Schönheit, einer gebrochenen Harmonie.
Die Wittlichs hatten nie Glück gehabt. So lange man sich in Sehlscheid erinnern konnte, waren sie Trinker gewesen, raubeinige, brutale Bewohner der Lehmhütte auf der Hüh, die es mit ihrem kleinen, unfruchtbaren Stück Land nie weiter brachten als ihre Väter. Jeden Morgen mussten die Töchter dem Alten den Eimer ans Bett bringen, denn bevor er den Kopf ins kalte Wasser getaucht hatte, durfte niemand das Wort an ihn richten. Abends umwickelten die Großen den Kleineren mit Lappen die Füße, damit die Ratten nicht an ihnen fraßen. Sie bauten Kohl und Kartoffeln an, zogen Kaninchen und Ziegen. Aber allein mit dem Verkauf von Heidelbeeren im nahegelegenen Arlich konnte die Familie Vorräte für den langen Winter anlegen.
Meistens trug Irma die schweren Körbe in die Stadt, weil sie bei den Händlern, die aus den Beeren den bekannten Westerwälder Morbelswein machten, mit ihrem hübschen Lächeln ein paar Pfennige mehr bekam. Nie wurde sie den Geschwistern vorgezogen, und sie drückte sich vor keiner der Arbeiten. Allein die große Anhänglichkeit des Hundes Schnapp, schon der dritte seiner Art, seit Irma in der dunklen Hütte geboren worden war, sprach für ihre besondere Stellung in der Familie. Und auch in der weiteren Umgebung war sie bekannt, denn das Mädchen galt noch bis ins Aulbachtal hinein als der lebende Beweis für ein völlig unverdientes Glück.
„Wie alt bist du“, fragte der fremde Herr mit jäher Dringlichkeit. Alles Necken und Johlen verstummte sofort.
„Dreizehn“, sagte Irma, ohne den Blick abzuwenden.
„Wo wohnst du?“
„Auf der Hüh.“
„Wie heißt dein Vater?“ Nun begann das Kichern um die Kutsche herum von neuem.
„August Wittlich“, sagte sie.
Inzwischen näherten sich auch die Männer dem kaputten Gefährt. Bauer Gehrke nahm mit entschiedenem Griff den Braunen am Zaum, so dass der Herr einen Schritt zurück auf die grasbewachsene Böschung tun konnte. Der alte Brink machte sich an der Vorderachse zu schaffen, und von weitem sah man auch schon den Gemeindevorsteher und den Lehrer herankommen, die allein über die Worte verfügten, mit dem Fremden angemessen zu sprechen.
Es stellte sich heraus, dass der junge Mann aus dem linksrheinischen Koblenz stammte und ein Verwandter des Besitzers der Walzwerke in Arlich war. Johann Georg Vahlen, der Neffe des Fabrikanten Sebastian Gotthelf Vahlen, befand sich auf dem Weg zur Jagdpacht seines Onkels.
Der Gemeindevorsteher Lacher ließ es sich nicht nehmen, den Herrn, dessen Familie zu den wichtigsten des unteren Westerwaldes gehörte, über die neuesten Zahlen der Dorfgemeinschaft zu Viehstand, Feuervorkehrungen, Forstwirtschaft und Bevölkerungswachstum zu unterrichten. Als das Pferd aber abgeschirrt, die Reparatur des Landauers organisiert und der Fremde mit einer eilig aus der Pfarrei beschafften Kleiderbürste vom schlimmsten Dreck befreit worden war, bat Vahlen als erstes, man möge ihn zu einem Gasthaus führen.
„Verzeihen der Herr“, sagte der Lehrer. „Es gibt in Sehlscheid kein Gasthaus. Wenn Sie mit der Lehrerstube vorlieb nehmen könnten, lade ich sie gerne auf ein Glas Morbelswein zu mir ein.“
Nachdem er vier Gläser des dunklen Waldbeerenweins geleert hatte, hielt der Fremde den Zeitpunkt für gekommen, den Lehrer nach Wittlich zu fragen. Schütz, der sich gerade ausmalte, wie im Dorf über die unerwartete Ehre gedacht wurde, die ihm durch den Besuch des Fremden zuteilwurde, und dessen Blick vom reifen Wein bereits aufs angenehmste verschwamm, verstand die Frage sofort. Auch er kam von außerhalb und kannte als Mann des Wortes und der Bildung durchaus die neueren Moden, Gesprächsthemen und Gepflogenheiten der städtischen Bevölkerung. Er hatte gleich gesehen, dass er es bei dem jungen Vahlen mit einem Lebemann zu tun hatte, dessen Interesse sicherlich eher den Frauen, der Jagd und dem Wein galt als der Politik.
Vor vier Jahren war Schütz aus Düsseldorf angereist, um vom alten Lehrer Fuhr, der wegen Trunksucht entlassen worden war, die Dorfschule im Gebück und die angrenzende Wohnung mit Gemüsegarten und Obstbäumen zu übernehmen. Als er Irma zum ersten Mal in seiner Schulklasse sah, kannte er außer dem Pfarrer, dem Gemeindevorsteher und der Frau Gehrke, die ihm täglich von einer ihrer Töchter ein warmes Mittagessen bringen ließ, niemanden im Dorf. Schütz nahm zunächst an, das hübsche Mädchen wäre das Kind eines der wohlhabenderen Bauern aus dem Unterdorf oder komme von außerhalb. Doch Irmas dünngewordenes Kleidchen, das ihre langen, fast durchsichtig weißen Beine nur bis zu den Knien bedeckte, ihr von einem ausgeblichenen Band zusammengehaltenes Haar wiesen darauf hin, dass sie über das in Sehlscheid übliche Maß hinaus arm war.
Von Anfang an hatte Schütz dem seltsamen Kind die größtmögliche Aufmerksamkeit geschenkt. Irmas hatte schnell Fortschritte im Lesen und Schreiben gemacht. Und als sie mit elf aus der Dorfschule entlassen werden sollte, hatte Schütz all seinen Mut zusammengenommen, war zu ihrem Vater auf die Hüh gestiegen und hatte August Wittlich vorgeschlagen, seine Tochter als erstes der Mädchen im Dorf nach Arlich auf eine weiterführende Schule zu schicken.
Wittlichs Trinkergesicht hatte sich im selben Augenblick verwandelt. In die abstehenden Ohren war das Blut geschossen. Seine Lippen hatten über dem Kinn zu zittern begonnen. Schütz war nicht sicher gewesen, ob der Mann Angst hatte oder ob er wütend war.
„Niemals“, hatte Wittlich gestammelt. „Das Irma geht nicht weg. Das bleibt hier.“ Beim letzten Satz war aus den zögernden Worten ein Grollen geworden.
Wittlich, soviel war Schütz sofort klar, ging es nicht darum, dass Irma für die Familie die Heidelbeeren zu verkaufen hatte, dass sie wie ihre Schwestern die Ziegen zu hüten, die Kartoffeln zu klauben und den Kaninchen das Fell abzuziehen hatte. Es ging nicht um die Angst, Schulgeld zahlen zu müssen oder im Dorf für Neid und Missgunst zu sorgen. Gegen diese Einwände hätte der Lehrer, der immerhin in Düsseldorf das Seminar besucht hatte, Argumente bereit gehabt. Er musste sich eingestehen, dass er sich ausgemalt hatte, Irma werde eines Tages als kluge, bescheidene, mit haushälterischen Kenntnissen ausgestattete Frau in großer Dankbarkeit zu ihm zurückkehren. Der alte Wittlich hatte verstanden, dass der Lehrer ihm seine Tochter wegnehmen wollte. Und Schütz wiederum hatte verstanden, dass Irmas Vater in dieser Sache das letzte Wort behielt.
„Der Alte Wittlich ist ein Säufer“, sagte Schütz. „Er hat alle Mühe, die Münder seiner sieben Kinder satt zu kriegen. Drei Pfennige bekommen die Mädchen für das Pfund Heidelbeeren in Arlich – für das, was der Vater nicht selber zu Schnaps brennt.“ Der Lehrer tippte gegen sein Glas.
„Ich interessiere mich für seine Tochter“, sagte der Herr geradeheraus, so dass den Lehrer Angst ergriff. Doch gleich fasste er sich wieder, weil er meinte, das sicher ohnehin nur oberflächliche Interesse des reichen Städters bremsen zu können.
„Eine müsste im heiratsfähigen Alter sein…“
„Sie ist dreizehn.“
„Irma“, entfuhr es Schütz, und als hätte Vahlen das nicht gerade gesagt: „Sie ist erst dreizehn.“
„Sehr hübsch“, sagte der andere. „Ich komme wieder, wenn sie sechzehn ist. Richten sie das August Wittlich aus. Und geben sie ihm das hier.“ Er ließ einen Taler auf den Tisch rollen und sah Schütz prüfend an. Dann zog er einen zweiten und einen dritten Taler aus der Tasche und stapelte sie neben der anderen Münze übereinander. „Das ist für ihre Umstände“, sagte Vahlen und ging.
Nach einer durchwachten Nacht machte sich der Lehrer am Morgen auf den Weg, um den Auftrag auszuführen. Ein Hahn krähte. Vor den Häusern im Unterdorf hängten junge Mädchen ihre Wäsche zum Trocknen auf. Die Frauen am Burplatz schwatzten über den schönen Rock des Fremden. Ansonsten war mit seiner hastigen Abfahrt und einigen Talern für den Gemeindevorsteher und den Bauern Gehrke, der die Reparatur des Landauers übernommen hatte, im Dorf wieder Ruhe eingekehrt. Die Sonne schien warm auf die aufgeweichten Wege. Die Waldhänge standen dampfend über den Feldern des Aulbachtals. Das Tosen der Obermühle drang bis zum Marktplatz vor.
Als Schütz mit pochenden Schläfen, den Morbelswein noch in allen Gliedern, den glitschigen Pfad zur Hüh heraufkam, empfing ihn der Hund mit aufgeregtem Bellen. Schütz trat das Tier beiseite. Dann fiel sein Blick auf die kleine Wittlich, die mit traurigen Augen und einem geheimnisvollen Lächeln eine Ziege hinter sich herzog.
„Guten Morgen, Herr Lehrer“, sagte sie.
„Guten Morgen, Irma“, sagte Schütz, den die unerwartete Begegnung aus dem Konzept brachte. „Ist dein Vater auf dem Acker?“
„Im Haus.“ Irma zeigte auf den mit Sacktuch verhängten Eingang. Sie lächelte noch immer, die Sonne auf den Wangen, als wäre dieses matschige, mühsame Leben, wie sie es nie anders gekannt hatte, nur eine Übergangslösung, die Vorbereitung auf eine entfernte, schönere Zukunft.
„Danke, Irma.“ Er sah lange in ihre Augen. Und in diesem Moment wuchs Schütz, der sich bisher nicht klar darüber gewesen war, was er dem alten Wittlich tatsächlich von Vahlens Vorhaben sagen wollte, über sich hinaus. Als er Irmas Lächeln sah, nahm der Lehrer sich feierlich vor, alles zu tun, um ihr das Fortkommen aus Sehlscheid zu ermöglichen.

Wer ist Peter Vahlen? (Januar 1967)
Die Kundgebung hatte bereits angefangen, als Gellmann dazustieß. Er nickte Seeler und Kolpers zu, die weiter vorne auf den Tischen saßen und rauchten. Der Mann hinter dem Pult war ein langhaariger, bebrillter Student der Geschichte. Gellmann hatte ihn schon einmal gesehen. Er konnte nicht reden. Spuckend sprach er von der „marxistisch-leninistischen Grundordnung“, vom „aufrechten Gang“ und von der „Revolution“. Aber nach spätestens drei Sätzen merkte jeder, dass er nichts von all dem begriffen hatte.
Gellmann sah einige Mädchen beim Eingang stehen und ging zu ihnen hinüber.
„Läuft das schon lange so?“ flüsterte er der Blondine neben sich ins Ohr.
„Schon eine ganze Weile“, sagte sie gelangweilt.
„Hast du Lust, mit vor die Tür zu gehen?“ Die Frau schien Gellmann plötzlich sehr begehrenswert.
„Nein, ich warte auf den nächsten“, sagte sie.
Gellmann verdrehte die Augen. Er hörte dem Studenten noch eine Weile zu, damit es nicht wie ein Rückzug aussah. Dann kämpfte er sich weiter nach vorn in Richtung Seeler.
„Hast du eine Zigarette für mich?“
„Hast du die Handzettel?“
„Nicht gedruckt, wenn du das meinst. Ich habe ein paar Texte mitgebracht. Was einfaches mit Pointe und so. Sollte funktionieren. Drucken müsst ihr selber.“
„Praxis, Mann, Praxis“, sagte Seeler.
„Ist das etwa keine Praxis?“ Gellmann reichte ihm einen Packen zerknitterter Zettel, die er in der Hemdtasche getragen hatte.
Jetzt lief der nächste Redner auf die Bühne zu – ein großer, verdrießlich aussehender Typ mit halblangen Haaren und abgewetztem Jackett. Als er das Treppchen hochstieg, stolperte er und fiel fast hin.
„Das ist Peter Vahlen aus Frankfurt“, sagte Kolpers an Seeler gewandt.
„Wer ist Peter Vahlen?“ fragte Gellmann.
„So einer wie du. Bloß effektiver.“
Gellmann überlegte kurz, ob er die Beleidigung ernstnehmen sollte. Kolpers war einer der Asta-Sprecher. Er fühlte sich zuständig für die Verbindung der Universität mit den Arbeitern. Aber vor allem hatte er schon mehrere wichtige Partys organisiert. Gellmann grinste und wollte einen Witz machen, als Kolpers ihn mit einer Geste in Richtung der Bühne unterbrach.
„Es geht los.“
Der Typ räusperte sich und ruckelte umständlich am Pult herum. Seine Schultern waren hochgezogen, trotzdem wirkte er gelassen. Gellmann hatte ihn noch nie gesehen. Aber den Namen Vahlen meinte er schon einmal gehört zu haben.
Er sah zu der Blondine herüber, die den neuen Mann auf der Bühne nicht aus den Augen ließ. Aus der Ferne hatte sie eine ziemlich dicke Nase und gar keine Brust. Sie flüsterte ihrer Freundin etwas zu. Ihre Freundin lächelte. Sie hatte ebenfalls hellblondes Haar, war aber schlanker und hatte feinere Züge. Sie sah großartig aus.
„Scheiße“, sagte Gellmann leise.
Jetzt faltete der Typ ein Blatt Papier auseinander, zog eine halbleere Flasche Bier aus seiner hinteren Hosentasche und nahm einen langen Schluck. Er las eine Geschichte. Irgendetwas von einem jungen Paar, das kein Hotelzimmer bekommen konnte, weil es nicht verheiratet war. Und am Ende sagte er, wenn diese Gesellschaft es weiterhin verbot, dass Menschen, die sich liebten, zusammen sein konnten, dann werde das ganze autoritäre Scheißsystem trotz der Springerpresse und trotz des imperialistischen Vietnamkriegs bald von allein zusammenbrechen.
Vahlen würde Recht behalten. Das dachte Gellmann an diesem späten Morgen im Januar 1967. Und vielleicht konnte Vahlen mit seinen schlichten, einleuchtenden Ideen sogar dazu beitragen, dass es so kommen würde. Vielleicht mehr als Gellmann, der halbherzig Sprüche für Fabrikarbeiter verfasste und mit dem revolutionären Straßentheater durch die Republik tingelte. Seit Wochen fanden an den Berliner Universitäten keine Vorlesungen mehr statt. Von morgens bis abends wurden neue Formen des Zusammenlebens debattiert. Aber, dass ausgerechnet hier alle Blicke an Vahlens Lippen hingen – ein Typ aus Frankfurt, der einen drittklassigen Text vorlas, als ob es Ibsen wäre – darüber kam Gert Gellmann nicht hinweg.

Die Erfindung des Glücks (Juli 1973)
Die Buchstaben reihten sich in lockerer Folge auf das Papier. Das rhythmische Tackern der Schreibmaschine, ein leichtes Schmatzen der Metallgelenke, wenn er genau hinhörte, nie ganz regelmäßig, mit Verzögerungen am Anfang eines Satzes oder längeren Wortes, wie ein Tanz. Vahlen schrieb. Die Sätze sammelten sich in seinem Kopf.
Draußen dämmerte es. Eine feine Linie aus Helligkeit bildete sich zwischen dem klaren Schwarz des Himmels und den dunklen Anhöhen am anderen Ende des Aulbachtals. Langsam begann sich die Hügelkette abzusetzen, schimmerte bläulich vor der nun heller werdenden Wolkenmasse, bis das Licht, als Vahlen das nächste Mal aufblickte, plötzlich überzuborden schien. Die Sonne zog kreuzförmige Strahlen über die Horizontlinie, tauchte das Tal mit den Streuobstwiesen, den Feldwegen und Böschungen in glitzerndes Licht.
Vahlen wandte sich von der Maschine ab, um mit dem Bleistift zu notieren, was er sah. Er genoss das Arbeiten im Glasanbau, der ihn ganz einhüllte in das wechselnde Wetter, in die Nacht und den Tag und den Augenblick.
Gestern hatte die Sommerhitze während seines Spaziergangs am Nachmittag drückend über den Wiesen am Waldrand gelegen. Die Pferde auf ihren Weiden erwehrten sich schweifschlagend der Fliegen und Bremsen. Am Weg wuchsen Himbeeren, deren Kerne noch nach Stunden zwischen seinen Zähnen steckten. Er konnte nicht genug bekommen von dieser Landschaft, die nach jeder Biegung einen neuen Blick eröffnete, die alten Bäume, das wuchernde Unterholz. Dieses Leben der langen Wege, um das er die Bewohner der Gegend beneidete, wenn er sie langsam, in einer Kleidung, die vor allem als Schutz gedacht war, an den Zäunen entlang über die Felder laufen sah. Ihr Gehen war immer mit einem Ziel verbunden, einer notwendigen Tätigkeit, während Vahlen noch überlegte, ob er geradeaus laufen oder abbiegen sollte. Irgendwann endete sein Weg an einem Brombeergestrüpp, einer Müllkippe. Kleine Fliegen und Mücken stürzten sich auf ihn, so dass er umkehren musste.
Vahlen hörte Hella hereinkommen. Sie musste ihn gesucht haben, nachdem sie das Bett neben sich leer gefunden hatte. Still setzte sie sich zu ihm, um die neuen Seiten des Manuskripts zu lesen. Er sah ihr einen Moment lang dabei zu. Die vollen Brüste, der runde Bauch, an dem sie nun immer schwerer trug, verliehen ihr schon jetzt etwas Mütterliches. Ein süßlicher Geruch nach Schlaf und Vertrautheit verbreitete sich im Raum, und mehr als Hellas Anwesenheit war es dieser Geruch, der Vahlen wie ein unerwartetes Glück durchdrang.
Er wandte sich wieder der Maschine zu. Mehrere der Gedanken, die er jetzt hatte, musste er verwerfen, weil sie zu kitschig waren, um aufgeschrieben zu werden, weil sie über dieses eine, echte Gefühl nicht hinausgingen.
Natürlich müsste eine gute Geschichte ein Stück Wirklichkeit zusammenhalten, etwas entstehen lassen, bestenfalls etwas berichtigen. Nichts schien Vahlen so ausschlaggebend für einen Text wie seine Beziehung zur Realität, nichts schien ihm schwieriger festzumachen. Aber im Einzelnen war dieses Verhältnis unwichtig. Es galt im Ganzen, im Prinzip. Vahlen hatte sich immer geärgert über Gellmanns Chiffren und direkte Verweise. Er hatte kein Interesse an Schlüsselromanen. Er spürte auch nicht mehr das Bedürfnis, mit seinen Texten die Gesellschaft zu verändern. Er wollte ein Buch lesen, als das, was es ist – ein Stück Kunst, ein Kunststück.
Zum ersten Mal stellte Vahlen sich nicht mehr die Frage, was ihn zum Schreiben berechtigte. Was ihn von den anderen unterschied, die lebten, ohne mitzuschreiben, ohne den Blick auf das Detail zu richten, ohne jeden Konflikt in Gedanken zuzuspitzen. Jetzt, wo seine Beziehung zu Hella mit der Schwangerschaft einen Fluchtpunkt gefunden hatte, – und sei er in der Weite des Universums noch so klein und unbedeutend – fürchtete er sich nicht mehr, konnte sich nicht mehr fürchten, vor dem spurlosen Verschwinden.
Immer weiter reihten sich die Buchstaben aneinander, die noch rohen Sätze, in täuschend gleichmäßigen Linien. Er tippte eine letzte Zeile auf die Seite, bevor er ein neues Blatt einspannen musste. Diese Geschichte war alles andere als gradlinig. Sie war ihre Geschichte. Seine und Hellas, und die ihres Kindes. Sie war der Beginn eines neuen Lebens.


Mit freundlicher Genehmigung aus: Katharina Born, Schlechte Gesellschaft. Eine Familiengeschichte. München: Carl Hanser Verlag, 2010. 272 Seiten.

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