Ein Rundschreiben vom 31. Dez. 2023
von Paul Michael Lützeler
Jahresrundschreiben seit 2001 dokumentieren die Arbeit des IAB
Der hundertste Geburtstag Hermann Broch am 1. November 1986 veränderte vieles in der akademischen Rezeption des Autors. Aus Anlass dieses Gedenktags fand vom 30. Oktober bis 2. November 1986 ein interdisziplinäres Symposium in Stuttgart statt, das 1987 bzw. 1988 in zwei Bänden erschien: der interpretatorische Teil in der Reihe Stauffenburg Colloquium (1987 unter dem Titel „Hermann Broch: Das dichterische Werk“) und der Theorieteil in einem Band der Reihe Suhrkamp Taschenbuch (1988 unter dem Titel „Brochs theoretisches Werk“); in beiden Fällen herausgegeben von mir und Michael Kessler, dem Veranstalter der Stuttgarter Tagung. Michael Kessler hatte das gemeinsam mit mir erarbeitete Programm als leitender Angestellter der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart durchführen können. Es sollte in unserer Planung das erste große, tatsächlich interdisziplinäre und wirklich internationale Broch-Symposium werden und somit vorbildlichen Charakter für weitere Broch-Tagungen erhalten. Angereist waren Vertreter:innen der Germanistik, Philosophie, Religionswissenschaft, Geschichte und Politologie aus Deutschland, Österreich, Frankreich, England, Norwegen, Kroatien, der Türkei, Israel, Neuseeland, Japan und den U.S.A. Eine kleine Rede dort hielt auch Brochs Sohn H.F. (Armand) Broch de Rothermann (1910-1994), der damals in New York lebende Übersetzer und Dolmetscher. Das Symposium fand in der Presse ein positives Echo, besonders in der FAZ.
Diesem Stuttgarter Symposium waren in den 1970er Jahren drei kleine Tagungen vorausgegangen, in denen nur selten der germanistische Horizont verlassen wurde. Die erste Tagung zum Werk Hermann Brochs fand zur Erinnerung an den 25. Todestag des Autors am 30. Mai 1976 in Wien statt, und zwar im Palais Palffy am Josefsplatz im Ersten Bezirk. Das war ein ganzes Jahrzehnt vor dem Stuttgarter Symposium von 1986. Einberufen wurde die Veranstaltung durch den Schriftsteller und Rundfunkredakteur Ernst Schönwiese, der damals Präsident des Österreichischen P.E.N.-Clubs war. Er kannte Broch seit der Veröffentlichung der Schlafwandler-Trilogie zu Anfang der 1930er Jahre, vermittelte ihm Vorträge in Wiener Volkshochschulen und veröffentlichte einige Dichtungen und Essays von Broch in der Zeitschrift das silberboot. In den Jahren von 1938 bis 1945 hatte Schönwiese sich dem unmittelbaren Einfluss des sogenannten Großdeutschen Reiches entzogen, indem er als Vertreter einer Presseagentur in Ungarn lebte. Er lud zum Symposium nicht nur einige Germanisten der jüngeren Generation ein, sondern auch drei Zeitgenossen, die mit Broch zwischen 1938 und 1945 das Exilschicksal geteilt hatten: den Komparatisten Werner Vordtriede und die beiden österreichischen Schriftsteller Friedrich Torberg und Albert Drach. Zur Gruppe der ehemals Exilierten gehörte auch Annemarie Meier-Graefe Broch, die Witwe des Autors, die in Südfrankreich lebte und als Gast anwesend war. Torberg erinnerte sich an Broch, und Vordtriede sprach über die Bedeutung der Erinnerung im „Tod des Vergil“. Teil dieser Tagung war auch eine Festveranstaltung in Teesdorf bei Wien, wo Broch von 1907 bis 1927 kaufmännischer Leiter einer der Familie gehörenden Spinnfabrik gewesen war. Dort gab es 1976 schon ein Broch-Museum. Bei dieser Gelegenheit hielt Albert Drach eine Rede über Hermann Broch. Drach war ein Jurist und Schriftsteller jüdischer Herkunft. Er bewunderte den Autor und meinte, dass seine zeitgenössischen Kollegen und Kolleginnen in Österreich sich wie die Bremer Stadtmusikanten übereinanderstellen und gleichzeitig ihre Stimmen erheben könnten, ohne doch die Kraft der dichterischen Stimme des poeta doctus Hermann Broch zu erreichen. Albert Drach hatte wie Broch nach der Hitler-Besetzung Österreichs 1938 das Land fluchtartig verlassen und überlebte – nach einer Reihe von Internierungen – in einem Versteck in Südfrankreich. 1947 kehrte er nach Wien zurück, um dort erneut seine Anwaltskanzlei zu eröffnen und sich als Schriftsteller zu etablieren. Von seinen dichterischen Arbeiten konnte er zwar nicht leben, aber wegen seiner Romane wie „Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum“ von 1939 und „Unsentimentale Reise“ von 1966 erhielt er 1988 den Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, also die höchste Auszeichnung im Bereich der deutschsprachigen Literatur. Zwei Jahre später – 1978 – erschienen die Tagungsbeiträge dieses Broch-Symposiums (leider ohne die Rede von Albert Drach) in einem von Joseph P. Strelka edierten Sammelband unter dem Titel „Broch heute“ bei Francke in Bern.
Offenbar angeregt durch den Erfolg dieser Symposiums-Premiere fanden drei Jahre später kurz hintereinander im Frühjahr 1979 zwei – wiederum primär germanistische – Broch-Tagungen an der Yale University in New Haven, Connecticut und an der Universität in Nizza in Südfrankreich statt: in New Haven vom 6. bis 8. April 1979 und in Nizza vom 29. April bis zum 1. Mai des gleichen Jahres. Zur Yale University Library gehört die Beinecke Memorial Library mit dem Hermann-Broch-Archiv. Die Leiterin des Archivs, Christa Sammons, war die Organisatorin des Symposiums in New Haven. Erwähnt werden sollte, dass beim Yale-Symposium Alice L. Kahler, die Witwe des Princetoner Broch-Freundes Erich Kahler, Anekdotisches über Broch als Übersetzer zum Besten gab. Zudem war der Maler und Bildhauer Peter Lipman-Wulf anwesend, der aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1933 nach Frankreich und 1942 in die Schweiz geflohen war, damals aber in Sag Harbor, New York lebte. Lipman-Wulf sprach über seine grafische Interpretation von Brochs Roman „Der Tod des Vergil“. Diese Illustrationen erwarb einige Jahre später das Deutsche Literaturarchiv in Marbach. Später stiftete Lipman-Wulf einen weiteren Set der gleichen Illustrationen dem Hermann Broch Museum in Teesdorf bei Wien. Auch der Verleger Brochs, Siegfried Unseld, nahm an der Konferenz als Zuhörer teil. Christa Sammons überließ die Publikation der Referate der Zeitschrift „Modern Austrian Literature“, die 1980 ein Broch-Themenheft brachte.
Die Tagung in Nizza ging auf die Initiative von Richard Thieberger zurück. Thieberger war seiner Herkunft nach jüdischer Österreicher und promovierte 1935 als Germanist an der Universität Wien. 1938 unterrichtete er als Lektor der deutschen Sprache an der Universität Caen in der Normandie. Er kehrte wegen des „Anschlusses“ nicht mehr nach Österreich zurück und erlangte schon bald die französische Staatsbürgerschaft. Nach der Besetzung Frankreichs durch das nationalsozialistische Deutschland überlebte er im Untergrund und wurde nach Kriegsende Kulturoffizier in der französischen Besatzungszone Deutschlands. Von 1951 an konnte er seine akademische Laufbahn als Germanist in Frankreich fortsetzen und lehrte seit 1967 an der Universität Nizza. Er hatte sich einen Namen gemacht sowohl als Georg-Büchner-Forscher wie auch als Kenner des Werks von Thomas Mann. Richard Thieberger veröffentlichte seine Tagung 1980 unter dem Titel „Hermann Broch und seine Zeit“ im Broch-Themenband des „Jahrbuchs für Internationale Germanistik“ (Reihe A, Band 6). Was diese Broch-Symposien der 1970er Jahre gemeinsam haben, war die aktive Präsenz von Autoren und Germanisten, die selbst die Erfahrung des Exils gemacht haben. Diese Symposien, die noch viel von der Exil-Atmosphäre des Autors Broch vermitteln konnten, unterscheiden sich von denen seit der Mitte der 1980er Jahre, in der die jüngeren Generationen von Literatur- bzw. Geistes- und Sozialwissenschaftler zu dominieren beginnen.
1986, als man des hundertsten Geburtstags von Broch gedachte, fand neben dem erwähnten großen Stuttgarter Symposium auch am Österreichischen Kulturinstitut in Warschau eine internationale Tagung statt, die von Karol Sauerland vom 26. bis 30. April 1986 geleitet wurde und deren Vorträge ein Jahr später als Broch-Themenheft in der britischen Fachzeitschrift „German Life and Letters“ zugänglich gemacht wurden. Die dort versammelten Germanist:innen (die meisten kamen aus Polen und Österreich) griffen nicht nur literarische Themen auf. Das Romanwerk stand zwar im Mittelpunkt, doch wurden dabei auch Fragen der Theorie, des Mythos, des Symbolverständnisses, des Massenwahns und der Politik angeschnitten. Auch am Österreichischen Kulturinstitut in Budapest, liess man es sich nicht nehmen, eine Tagung über Hermann Broch zu veranstalten. Die Hälfte der Referent:innen waren Germanist:innen an ungarischen Hochschulen, die anderen aus Österreich, aus Deutschland und den USA. Die zentrale Thematik war die Beziehung zwischen Dichtung und Erkenntnis, über die Broch in seinen Essays aus den frühen 1930er Jahren nachgedacht hatte, und die auch in den Romanen selbst thematisiert wird. Zwei der Referenten – Hartmut Steinecke und Joseph Strelka – fungierten als Herausgeber, als die Tagung in Form eines Sammelbandes unter dem Titel „Romanstruktur und Menschenrecht“ 1990 bei Peter Lang erschien.
Die Reihe der nationalen Broch-Symposien setzte sich im Mai des gleichen Jahres in Paris fort, veranstaltet im Centre Pompidou. Es wurde knapp zwei Jahre später (im März 1988) fortgesetzt in Lyon, und zwar an der Université Lumière Lyon 2. Die Referate der beiden Tagungen erschienen 1989 zusammen unter dem Titel „Broch“, herausgegeben von Jean-Charles Margotton in Aix-en-Provence. Fast alle Vorträge stammten von französischen Germanist:innen und wurden in französischer Sprache vorgetragen. Auch hier interessierte vor allem das dichterische Werk, wenn auch Seitenblicke auf Geschichtsphilosophie, auf Heidegger und auf den Zusammenhang von Dichtung und Mythos geworfen wurden. Dem Stuttgarter interdisziplinären Symposium von 1986 am ehesten vergleichbar war die Broch-Tagung der Yale University, die vom 20.-22. November 1986 stattfand. Neben Germanisten wurden auch Vertreter der Philosophie und Politischen Wissenschaft eingeladen. Das Ganze spielte sich auf Englisch ab, und die meisten Referent:innen kamen aus Nordamerika. Organisator war Stephen D. Dowden, der damals am German Department der Yale University unterrichtete. Das Symposium hatte ein hohes Niveau und gewann auch dadurch, dass jedem Vortrag ein discussant zugeordnet wurde, der oder die auf das jeweilige Referat kritisch einging. Sowohl die Vorträge wie die Stellungnahmen wurden von Stephen D. Dowden in einem umfangreichen Band unter dem Titel „Hermann Broch: Literature, Philosophy, Politics“ 1988 beim Verlag Camden House veröffentlicht.
1986 also fanden fünf teils national, teils international, teils primär germanistisch, teils gezielt interdisziplinär ausgerichtete Tagungen statt: vier davon in europäischen Metropolen wie Stuttgart, Paris, Warschau und Budapest, eines davon an der Yale University in New Haven, Connecticut. Diese Dichte an Broch-Veranstaltungen hatte es vorher nicht gegeben und ist vor allem mit dem Datum des 100. Geburtstags zu erklären. Allerdings lag damals auch die neue, von mir edierte Kommentierte Werkausgabe Hermann Broch des Suhrkamp Verlags vollständig vor, was die Erschließung des essayistischen Werks Hermann Brochs ermöglichte. Zudem war im Jahr zuvor meine Broch-Biografie (ebenfalls bei Suhrkamp) erschienen.
In den 1990er Jahren gab es keine Broch-Gedenktage, und so wurden nur drei Tagungen zu seinem Werk organisiert: eine in London, eine in Wien und eine in Szeged/Ungarn. Adrian Stevens, Fred Wagner und Sigurd Paul Scheichl veröffentlichten 1994 das Londoner Symposium von 1991 in Innsbruck unter dem Titel „Modernismus, Kulturkrise und Hitlerzeit“. In Wien veranstalteten Anfang 1992 Wilhelm Patrasch und John Pattillo-Hess, die beide in der Erwachsenenbildung der Stadt tätig waren, das Symposium „Hermann Broch oder die Angst vor der Anarchie“, das unter dem gleichen Titel ein Jahr später bei der Wiener Urania erschien. Ihm folgte Mitte September 1996 die Tagung „Hermann Broch. Perspektiven interdisziplinärer Forschung“ an der Universität von Szeged, die als Band – herausgegeben von Árpád Bernáth, Michael Kessler und Endre Kiss – beim Stauffenburg Verlag in Tübingen veröffentlicht wurde. Ein Symposion, das Ende der 1990er Jahre geplant wurde, um dann im Mai 2002 stattfinden zu können und 2004 veröffentlicht wurde, war jenes der Österreichischen Liga für Menschenrechte: „Hermann Broch – ein Engagierter zwischen Literatur und Politik (StudienVerlag Innsbruck, Wien, Bozen).
In der Zeit der Jahrhundertwende von 1999 und 2000 überlegten Michael Kessler und ich, wie wir durch weitere wissenschaftliche interdisziplinäre Forschungen das literarische Werk Brochs im wissenschaftlichen Gespräch halten könnten, ohne lediglich auf den Kalender wegen möglicher Gedenktage zu starren. Dabei hatten wir zum einen die weitere Erforschung des avantgardistischen literarischen Werks im Auge, zum anderen aber wollten wir die nicht-literarische Essayistik des Autors verbreiten und die von ihm in seinen Essays und Briefen angeschnittenen Fragen der Gefährdung der Demokratie, des Friedens und der Menschenrechte in die Diskussion bringen. Uns schien dazu die regelmäßige, die kontinuierliche Veranstaltung wissenschaftlicher Symposien der richtige Weg zu sein. Zusammen mit Michael Kessler gründete ich 2001 den Internationalen Arbeitskreis Hermann Broch, und seitdem hat diese Organisation fast jedes Jahr eine Brochtagung veranstaltet. Viele Mitglieder des Arbeitskreises haben in den beiden letzten Jahrzehnten bei diesen Symposien Vorträge gehalten und eine ganze Reihe die Tagungsleitungen übernommen. Das Jahr 2001 schien uns die richtigen Startbedingungen zu geben, denn zufällig war es wiederum ein Jubiläumsjahr: man gedachte im Frühjahr des 50. Todestages von Hermann Broch. Aus dem Anlass fanden gleich drei Symposien statt. Das begann mit dem dritten Symposium an der Yale University. Es fand vom 27. bis 29. April 2001 statt. Wir gaben der Tagung und der Buchfassung den Titel „Hermann Broch, Visionary in Exile“. Der Sammelband wurde von mir in Zusammenarbeit mit Matthias Konzett, Willy Riemer und Christa Sammons herausgegeben. Christa Sammons hatte keine Mühe gescheut, das Symposium in den Räumlichkeiten der Beinecke Rare Book Library zu veranstalten. Es ging dabei um das Gesamtwerk des Autors im amerikanischen Exil: von der Theorie der Demokratie und der Massenpsychologie bis zu den Romanen „Der Tod des Vergil“ und „Die Schuldlosen“, wobei auch Rückblicke auf frühere Phasen der Werkentwicklung geworfen wurden. Mir selbst ist dabei der Aufsatz zum Thema Kitsch von Ruth Klüger in lebhafter Erinnerung geblieben.
Die Städte New Haven/Connecticut und Wien kommen als Tagungsorte immer wieder in Frage: New Haven wegen des großen Broch-Archivs, Wien, weil Broch hier die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat. Vom 2. bis 4. Juni 2003 leitete Marianne Gruber, die Direktorin der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, im Palais Wilczek eine Tagung, an der sich vor allem österreichische Kollegen und Kolleginnen beteiligten. Drei Wochen später folgte (21.-24. Juni 2003) ein von Michael Kessler in Stuttgart-Hohenheim (wieder in den Räumlichkeiten seiner Akademie) eingerufenes Symposium. Marianne Gruber und Michael Kessler vereinbarten, die beiden Symposien in einem gemeinsamen Band zu publizieren, an dessen Herausgabe sich auch Barbara Mahlmann-Bauer, Christine Mondon und Friedrich Vollhardt beteiligten. Der umfangreiche Band erhielt den Titel „Hermann Broch. Neue Studien“ und erschien noch im gleichen Jahr bei Stauffenburg in Tübingen, mir zum 60. Geburtstag gewidmet. Zu den 33 Beiträgen gehören auch Erinnerungen des Sohnes (H.F. Broch de Rothermann) wie auch von Volkmar von Zühlsdorff, mit dem Broch im Exil praktisch in der Hilfe für Hitler-Flüchtlinge zusammenarbeitete und zwischen 1945 und 1949 eine längere Korrespondenz über das Nachkriegs-Deutschland führte.
Nach den drei Symposien von 2001 benötigte der Arbeitskreis 2002 eine Pause, und so wurde – wiederum unter dem Dach der Österreichischen Gesellschaft für Literatur – eine Tagung anberaumt, die sich vergleichend mit dem Werk von Hermann Broch und Elias Canetti auseinandersetzte. Marianne Gruber gewann für die Programmzusammenstellung Penka Angelova als Canetti-Kennerin und mich als Broch-Spezialisten. Die Buchfassung der Symposiumsbeiträge erschien erst 2009 im Röhrig-Universitätsverlag in St. Ingbert. Es ist der bisher einzige Tagungsband, der die Unterschiede sowohl in der Romankonzeption wie auch im Hinblick auf die Massenpsychologie beider Autoren herausarbeitet. 2004 folgte die Tagung in Dortmund, die ich gemeinsam mit Thomas Eicher von der Auslandsgesellschaft Nordrhein-Westfalen und Hartmut Steinecke von der Universität Paderborn plante. Wir hatten uns vorgenommen, vor allem Nachwuchswissenschaftler:innen zum Thema dieser Konferenz (Politik, Menschenrechte, Literatur) einzuladen (veröffentlicht 2005 beim Athena Verlag in Oberhausen), und so tauchen hier Namen von jungen Leuten auf, die in den folgenden zwei Jahrzehnten immer wieder mit neuen Studien auf Broch-Symposien glänzten: Thomas Borgard, Gesa von Esssen, Jürgen Heizmann, Gunther Martens, Barbara Picht und Alice Staškova. Da ergab sich eine gute wissenschaftliche Gruppendynamik, die sich bis heute erhalten hat. Zum Gelingen des Symposiums trug auch die Anwesenheit der Autorin Barbara Frischmuth bei, die in Altaussee aufwuchs, einem jener Wohnorte Brochs in den 1930er Jahren, wo so vieles an den Autor erinnert.
Für den Herbst 2006 regte Endre Kiss, der Philosophieprofessor aus Budapest, der bei den meisten Broch-Symposien referierte, eine Tagung zum Thema der „literarischen Freundschaften“ an. Gerade als Biograf Brochs hat mich diese Konferenz besonders fasziniert. In der Einleitung schrieb ich: „Es war ein sonniges Herbstwochenende, als Broch-ForscherInnen aus Deutschland, Frankreich, Italien, Norwegen, Polen, den Vereinigten Staaten, aus Österreich und Ungarn sich vom 13. bis 15. Oktober 2006 an der dortigen Pannonischen Universität zu einem Symposium trafen (…). Es war eine Tagung mit besonders freundschaftlicher Atmosphäre; offenbar wirkte sich etwas vom beschworenen Freundschaftsgeist des Autors Brochs auf den Umgang der ReferentInnen miteinander aus.“ Wieder war es der von Brigitte Narr geleitete Stauffenburg Verlag, der den schönen Band 2008 publizierte. Man ist ja versucht, bei all den Tagungen etwas über die Veranstaltungsorte, über die Geselligkeit etwas zu sagen, über das Sightseeing und die Gespräche. Es ist schon ein Unterschied, ob man sich in einer amerikanischen Universitätsstadt wie New Haven trifft, an der Vorzeige-Universität eines noch als Imperium agierenden Staates, oder ob wir in der Nähe des Cafe Centrals leicht nostalgisch die renovierte Schönheit einer Hauptstadt bewundern, die bis vor etwas mehr als hundert Jahren Zentrum einer europäischen Großmacht war; ob wir ungarischer Geschichte auf Schritt und Tritt in Szeged oder Veszprem begegnen, oder ob wir in Dortmund Schwierigkeiten haben, uns an den Charme stillgelegter Bergwerke zu erfreuen; ob wir in Altaussee auf den Spuren Brochs, Hofmannsthals oder Torbergs wandern, oder ob wir in Straßburg einer deutsch-französischen Mischkultur des Elsass, von der Broch durchaus etwas verstand, begegnen.
Ja, Strasbourg, 1. bis 3. Juni 2007, da ging es vor allem um das Thema Religion. Eingeladen hatte Christine Maillard von der Universität, und die Tagungsreferate erschienen ein Jahr später in der von ihr herausgegebenen ausgezeichneten Fachzeitschrift „recherche germaniques“. Dann das Broch-Symposium von 2008. Wieder sind es vor allem die jungen Brochforscher:innen, die dazu beitrugen: diesmal auch Bernhard Fetz, Doren Wohlleben, Sarah McGaughey und Helga Mitterbauer. Es ging um das Symposium „Hermann Broch und die Künste“, das Alice Stašková vom 26. bis 28. Juni 2008 in Prag, dieser Perle unter den europäischen Städten, einberufen hatte. Das Goethe-Institut der Stadt stellte dabei seine Räumlichkeiten zur Verfügung. Der Band erschien 2009 beim De Gruyter Verlag in Berlin. Im Jahr 2009 (vom 3. bis 5. Juli) hatte der Internationale Arbeitskreis eine Tagung speziell zu Brochs „Schlafwandlern“ in Lancaster anberaumt. Mein ältester Brochgefährte überhaupt, der mit mir gleichaltrige Graham Bartram von der dortigen Universität, war Gastgeber. Ich hatte ihn 1968, als ich an der Freien Universität Berlin ein Broch-Joyce Tutorium angeboten hatte, kennengelernt, und dann trafen wir uns wieder bei den Forschungen zu unseren Broch-Dissertationen im Archiv der Beinecke Rare Book Library in New Haven. Auch das war eine ergiebige, nur auf ein Werk konzentrierte Tagung, die 2012 bei Stauffenburg erschien.
Kevin Repp, Curator for Modern European Books and Manuscripts an der Beinecke Rare Book Librarary in New Haven und damit gleichzeitig Leiter des Hermann Broch Archivs, hatte für die beiden Tage des 15. und 16. April 2011 zu einer Brochtagung an der Beinecke eingeladen. Es war eine geistesgeschichtlich und literarisch ausgerichtetes Symposium, bei dem poststrukturalistische Ansätze dominierten. Eingeladen waren Literaturwissenschaftler aus den USA, Frankreich, Deutschland, Österreich und Dänemark. Der Titel lautete mit der Anspielung auf den jungen Georg Lukács „The Soul and its Forms in Modern Times“. Es waren an sich jeweils intelligente Vorträge, die aber keinen Zusammenhang erkennen ließen, und so war es nicht überraschend, dass sich niemand fand, dieses eigenartige Potpourri zu publizieren. Es war eine Brochtagung, an der zwar einige Mitglieder des Internationalen Arbeitskreises referierten, die aber nicht durch den IAB angeregt worden war.
Vom 27. bis 29. Mai 2011 traf sich der Internationale Arbeitskreis im schwäbischen Weingarten im Tagungshaus der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Gastgeber war erneut Michael Kessler. Diesmal ging es um einen Zwischenbericht zum Stand des Hermann-Broch-Handbuchs und um die Planung des letzten Arbeitsstadiums. Es war eine jener großen Tagungen, bei denen jedem Mitarbeiter eine bestimmte Aufgabe zugeteilt ist und man durch die Diskussionen einen entscheidenden Schritt weiter hin zur Konzeptionsbildung kommt. Ohne diese Arbeitstagung hätte das umfangreiche Handbuch, herausgegeben von Michael Kessler und mir, Ende 2016 nicht bei De Gruyter erscheinen können. Der Verlag, der eine eigene Reihe für Handbücher eingerichtet hat, war mit dem Endprodukt zufrieden, und die durchweg positiven Rezensionen haben die Beiträger:innen zum Handbuch gefreut.
Dass man zwei Symposien mit vergleichbaren Themen zusammen in einem Band publiziert, geschah im Fall zweier Tagungen zum Thema „Hermann Broch und die Ökonomie“. Zuerst fand – angeregt durch Bernhard Fetz – eine solche Tagung am 4. und 5. November 2011 in der Österreichischen Nationalbibliothek (Literaturarchiv) statt. Dort referierten zu wenig Tagungsteilnehmer als dass man aus den Vorträgen einen Sammelband hätte zusammenstellen können. Auf den Tag drei Jahre später – also 2014 – arrangierten wir mit Hilfe von Jürgen Heizmann eine Fortsetzung dieses Symposiums an der University of Montreal. Die Tagungsbeiträge wurden fusioniert und so erschien nach weiteren vier Jahren 2018 dieser Symposiumsband beim Arco Verlag in Wuppertal. Es ging in dem Band zum einen um die ökonomischen Lebsensbedingungen des freien Schriftstellers Hermann Broch, zum anderen um Brochs Wirtschaftsvorstellungen wie er sie in den Krisenjahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dann zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zu entwickeln begann. Da spielen zentrale Vorstellungen von Demokratie und Menschenrecht eine wichtige Rolle.
Zwischen dem 27. und 29. Juni 2012 leitete Doren Wohlleben die Tagung „Hermann Broch und die Romantik“. Sie fand im Nymphenburger Schloss, d.h. in den schönen Räumen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München statt. Untersucht wurden Einflüsse von Romantikkonzepten sowohl der historischen Epoche wie die seiner eigenen Zeit auf Brochs Ästhetik und damit auch auf seine Romane. Die überarbeiteten Vorträge erschienen im Sammelband mit dem gleichen Titel 2014 bei De Gruyter, herausgegeben von Doren Wohlleben und mir.
Erwähnt werden soll auch ein kleines Symposium zu Brochs „Masssenwahntheorie“, das Daniel Weidner und Birgit Erdle am Fritz Bauer Institut der Universität Frankfurt am Main am 28. Juni 2013 veranstalteten. Es waren zu wenig Vortragende gewonnen worden, als dass man aus den verlesenen Aufsätzen einen Band hätte machen können. So wurde es eine Art Probe für die 2021 am Zfl Berlin von Daniel Weidner einberufene Tagung zum Thema der Demokratievorstellungen und der Massenpsychologie Hermann Brochs.
Zum zweiten Mal (nach sechs Jahren) trafen wir uns zu einer Brochtagung an der Pannonischen Universität Veszprém in Ungarn vom 8.-10. Mai 2014. Veranstalter waren Gabriella Rácz und Endre Kiss. Die Tagungsbeiträge erschienen noch im gleichen Jahr in der „Zeitschrift für Mitteleuropäische Germanistik“, die damals ihre Redaktion in Veszprém hatte und von Csaba Földes, Attila Németh und Gabriella Rácz herausgegeben wurde.
Nach Bergamo hatte Elena Agazzi eingeladen. Dort, in dieser einzigartig schoenen Altstadt, fand ein Symposium über den „Tod des Vergil“ am 25. und 26. September 2014 an der dortigen Universität statt. Solche auf ein Hauptwerk sich konzentrierenden Tagungen haben sich bewährt, und auch dieses Symposium hat viele Aspekte des Exilromans (Todeserfahrung, Zukunftserwartung, politische Kritik, religiöse Perspektiven) auf neuartige Weise erhellt. Daraus ging ein stattlicher Band mit dem Titel „Hermann Brochs Vergil-Roman“ hervor, der 2016 bei Stauffenburg in Tübingen erschien.
Die Broch-Tagung an der Universität Antwerpen, die vom 21. bis 23. Oktober 2015 stattfand, behandelte ds Thema „Aspekte jüdischen Denkens im Werk Hermann Brochs“. Ich hatte es mit Vivian Liska und Arvi Sepp vorbereitet, konnte aber wegen eines Augenleidens nicht am Symposion teilnehmen. Die Beiträge, in denen es um Ostjudentum, Chassidismus, Menschenrechtstheorie, Messianismus und um die Dialogik von jüdischem und christlichem Denken bei Broch geht, wurden im „Jahrbuch für europäisch-jüdische Literaturstudien“ von 2017 veröffentlicht.
Tomislav Zelic, ein kroatischer Kollege aus Zadar, regte an, eine Tagung an seiner Universität zum Thema „Broch im Kontext der Donaumonarchie“ zu organisieren. Das Symposium fand am 1. und 2. September 2016 statt. Da ging es um Kaiserbilder, Zerfallsmodelle, Kulturdiagnostik (besonders im Essasy „Hofmannsthal und seine Zeit“) und um verwandte Themen. Als Sammelband erschien die Tagung ein Jahr später im Stauffenburg Verlag in Tübingen. Das Umschlagbild des Bandes zeigt ein Foto des jungen Broch während seiner Zeit der Militärausbildung in Agram/Zagreb. An einen Ort wie Zadar, direkt an dem schönsten Teil der östlichen Adria gelegen, wird man gerne wieder einmal wegen einer Brochtagung zurückkehren.
Was die Schönheit der Landschaft betrifft, können nur wenige Orte in Europa mit dem schweizerischen Ascona am Lago Maggiore mithalten. Auf dem zauberhaften Monte Verità fand vom 15. bis 18. August 2008 die Tagung „Aussteigen um 1900“ statt. Barbara Mahlmann-Bauer hatte das Symposium dorthin einberufen. Es war allerdings keine bloße Brochtagung, denn die Referate zum Werk dieses Autors machen nur ein Drittel aller Beiträge aus, bei denen es auch um Studien zu Aussteiger-Autor:innen im engeren Sinne, also zu Hermann Hesse, Emmy Hennings, Karl Wilhelm Diefenbach oder August Engelhardt ging. Publiziert wurde der umfangreiche Band 2021im Wallstein Verlag, Göttingen.
Aber auch Innsbruck ist als Tagungsstadt nicht zu verachten. Wer an dem Symposium „Hermann Broch und Der Brenner“ vom 3. bis 5. Juni 2019 an der Universität Innsbruck teilnahm, der weiß die Gastfreundschaft der Direktorin des Brenner-Archivs, Ulrike Tanzer, zu schätzen. Die Leitung der Tagung hatte der junge Germanist Markus Ender übernommen. Nicht nur, dass alle Aspekte der Beziehung Brochs zu Ludwig von Ficker (u. a. auch im Hinblick auf Karl Kraus und Theodor Haecker) neu gesehen wurden, hinzu kam auch am denkbar schönsten Junitag ein Ausflug nach Mösern, wo wir auf Brochs Spuren den Ort erkundeten, an dem er den „Bergroman“ geschrieben hat. Wie es sich gehört, erschien der Band in der Edition Brenner-Forum des StudienVerlags in Innsbruck.
Das Broch-Symposium „Hermann Broch und die österreichische Moderne“ bereitete ich – unterstützt durch Thomas Borgard – im Fruehjahr 2021 vor und leitete es als Fellow des IFK am 1. und 2. Juni 2021 in Wien und zwar in den Räumen der Gesellschaft für österreichische Literatur (Leitung: Manfred Müller), maßgeblich unterstützt durch das IFK (Leitung: Thomas Macho). Der Band erschien zwei Jahre später bei Brill/Fink in Paderborn. Vorgestellt wurde Broch mit seinem Romanwerk und im Kontakt der österreichischen Künstler der Jahre zwischen 1930 und 1938 sowie in seiner Beziehung zum Wiener Kreis seit den 1920er Jahren. Wir erlebten im Frühjahr 2021, wie Wien sich aus der Lähmung durch die Covid-Pandemie löste. Drei Wochen später – vorbereitet durch Daniel Weidner und mich – fand die Tagung „Verteidigung der Demokratie. Hermann Brochs amerikanische Exilerfahrung und die Aktualität seines politischen Denkens“ am Zfl (Leitung: Eva Geulen) in Berlin statt. In Wien hatte man eine Präsenztagung durchgefuehrt, bei der allerdings einige Referent:innen vorzogen, sich bei der noch nicht ganz abgeklungenen Pandemie über Zoom zuzuschalten. Bei der Zfl-Tagung in Berlin handelte es sich um eine bloße Zoom-Veranstaltung. Wegen der erschwerten Arbeitsbedingungen zur Pandemiezeit hatten bei der Berliner Tagung einige Kolleg:Innen absagen müssen. Das war ein Jahr später ähnlich, als vom 4.-6. Mai 2022 das Symposium „Friedenspoetik Hermann Brochs“ unter der Leitung von Doren Wohlleben an der Universität Marburg stattfand. Die Pandemie hat alles, auch die Brochtagungen, durcheinander gebracht. Da die Berliner Demokratietagung und die Marburger Friedenstagung thematisch verwandt waren, wurden die beiden Tagungsergebnisse fusioniert, und es ergab sich der von Sarah McGaughey, Elisa Risi, Daniel Weidner und Doren Wohlleben edierte Band „Massenwahntheorie und Friedenspoetik“, der 2023 – mir dankenswerterweise gewidmet – bei De Gruyter erschienen ist.
Wie schon bei der Marburger Tagung im vorigen Jahr angekündigt, werde ich die Leitung des Internationalen Arbeitskreises Hermann Broch zum 1. Januar 2024 (wenige Wochen nach meinem 80. Geburtstag) abgeben. Die beiden bisherigen Vize-Präsidentinnen werden das Präsidium bilden, und wir sind sicher, dass sie weiterhin dafür Sorge tragen, dass ausgezeichnete Brochtagungen auch in Zukunft stattfinden und weitere Sammelbände als Ergebnisse solcher Symposien erscheinen werden. Die Pandemie hat, wie gesagt, Dinge verzögert. Zudem sind finanzielle Mittel für Tagungen nicht mehr ganz so leicht wie früher mit Erfolg zu beantragen, und so wird es sich wahrscheinlich ergeben, dass man nicht jedes Jahr (aber hoffentlich jedes zweite Jahr) eine wissenschaftliche Tagung zum Werk Hermann Brochs veranstalten kann. Das Interesse an dem Autor ist – international gesehen – nach wie vor groß. Ich selbst habe die kollegiale Zusammenarbeit mit allen aktiven Mitgliedern des Arbeitskreises sehr genossen. Mein besonderer Dank gilt meinem alten Mitstreiter Michael Kessler, den ich 1980 während einer Gastprofessur an der Universität Tübingen kennenlernte; meiner ehemaligen Doktorandin Sarah McGaughey, die bei mir über Broch promovierte und seit Bestehen des Arbeitskreises unsere IAB-Website betreut hat und (last but not least) Doren Wohlleben, die zwei ausgezeichnete Brochtagungen veranstaltet hat und nun – zusammen mit Sarah McGaughey – die Zukunft unseres Arbeitskreises bestimmen wird. Unser Dank gehört aber auch den beiden Verlagen, die die meisten Broch-Tagungsbände des IAB veröffentlicht haben: Stauffenburg und De Gruyter. Ich werde ganz sentimental, wenn ich an all die schönen Symposien denke, die wir zustande gebracht haben. Sie gehören bestimmt zu jenem Teil unserer Akademikerbiografie, die wir nicht missen möchten.