Dec 2014

Peter Wortsman

Berliner Taxifahrer sind eine Sorte für sich

Berliner Taxifahrer sind eine Sorte für sich. Respektierte Autoritäten sind sie in Sachen Verkehr, Kenner des Stadtlebens, vertraut mit jeder Neben- und Seitenstraße der einst geteilten, nun wiedervereinten Metropole — und ihre Non-Stop Kommentierung, gewürzt mit viel Berliner Schnauze, macht jede Fahrt zu einer Reise entlang den wechselhaften Bruchlinien der Geschichte.
Zum Beispiel – nennen wir ihn Willy – der mich von der Villa am Wannsee, in der ich mich über den Winter eingenistet hatte, zu einer Wohnung im Prenzlauer Berg fuhr, wo ich meinen Berlinaufenthalt auslaufen lassen wollte, brachte. Mit der Statur eines Hafenarbeiters, der Sprungkraft eines Boxers und dem Lächeln eines glücklichen Mannes, schwang er mein Hab und Gut, das sich in zwei schweren Taschen befand, vom Bürgersteig in den Kofferraum.
„Ich mag Russen und Amerikaner“, sagte er in holprigem Englisch, wobei er meine Reaktion
im Rückspiegel überprüfte, „aber Briten kann ich nicht leiden.“
„Warum denn?“ fragte ich auf deutsch zurück.
„Die Russen sind von Natur aus großzügig, die Amerikaner aus Gewohnheit“, redete er weiter, sichtlich erleichtert, in seiner Muttersprache.
„Und die Engländer?“
„Die Engländer sind wie Schildkröten, sie tragen ihre Insel mit sich, wo immer sie sind und kriechen nie heraus.“
„War Berlin nicht auch eine Insel?“
„Kommt drauf an…“
Hier wurde mir klar, dass er aus dem Osten stammt. Wie er die „Wende“ erlebt habe und wie die Ereignisse, die zum Fall der Mauer führten und die ihm folgten, fragte ich ihn.
Er schwieg einen Moment, sah mir in die Augen. „Sie sind kein Engländer!“
„Amerikaner.“
„Die Mauer gibt es immer noch, bloß jetzt ist sie nicht mehr aus Beton sondern aus Geld.“
Und dann erzählte er mir seine Geschichte. Er war immer Kraftfahrer, erst Busfahrer, später Taxifahrer. Er verdiente genug, um zu leben. Viel mehr brauchte er nicht.
An dem Tag, als er von der Grenzöffnung hörte, beschloss er, den Westen zu besuchen, nur um zu sehen, wie es dort ist. Gerüchte gingen um, die Grenze würde nur für ein paar Stunden offen sein und dann wieder geschlossen werden.
„Du hast ein Kind!“, warnte ihn sein Vater, als er ihm sagte, er wolle rübergehen. „Hau nicht einfach ab!“ „Wohin soll ich denn abhauen? Alles was ich liebe, ist hier.“
„Wir haben uns nichts vormachen lassen.“ Er schaute wieder zurück, um sich zu vergewissern, ob der Amerikaner im Rückspiegel nicht anderes von ihm dachte. „Ich bin 1963 geboren, in der Sputnikzeit.
In der Schule erzählten uns die Lehrer, dass die Sowjetunion niemals einen Angriffskrieg geführt habe. ‘Und was ist mit Finnland?’, habe ich gefragt. Ich hatte meinen Stalin gelesen!” Der Lehrer bestellte meinen Vater zur Schule: “Ihr Sohn verbreitet subversive Gedanken.” Worauf mein Vater antwortete: “Mein Sohn ist ein guter Kommunist. Vaters Vater war ein Roter, wurde verhaftet und verschwand dann in einem der ersten KZs der Nazis. Vater wurde zur Wehrmacht eingezogen aber desertierte gegen Ende und wurde von einer Bäuerin in ihrem Kartoffelkeller versteckt.“
„So wie in der Blechtrommel“, sagte ich und fragte mich, ob er wohl ebenso Zuflucht unter ihrem Rock gesucht hatte.
„Jeder Berliner hat irgendwo ein Stück Grünes“, sagte Willy mit einem Achselzucken. “Aber als die Mauer kam, verloren wir unser Grundstück im Westen. Da erinnerte sich Vater an die Freundlichkeit der Bäuerin und kaufte ein Stückchen Land neben ihr in Kohlhasenbrück.“
„Der Ort von Kleists Michael Kohlhaas?“
„Kann sein“, zuckte Willy mit den Schultern, „ich hab nicht viel am Hut mit Dichtung. Vater liebte das Stückchen Land fast so wie er das Leben liebte. Mutter ist nie hingefahren – ich habe immer vermutet, es ging ihm um mehr als nur um den Garten“, erzählte er mit einem Augenzwinkern.
„Dann kam die Mauer dazwischen. Immer wenn er den ‘Spargel gießen’ wollte, musste ich ihn 67 Kilometer rund um West-Berlin herumkutschieren, um dort hinzukommen. Dann kam die Wende. Ich sagte zu Vater, der war von Beruf Bauingenieur: ‘Wollen wir nicht ein Haus bauen? Du hast das Know How und ich die Muskeln.’ Aber Vater meinte: ‘Jetzt ist es zu spät.’ Die Bäuerin war gestorben.
Als er gestorben war, fand ich auf dem Tisch ein Paket mit meinem Namen, voll mit Plänen für ein Haus, das er entworfen hatte… Das Haus, in dem ich jetzt wohne.“
Willy ließ den Motor laufen und bestand darauf, meine beiden schweren Taschen die zwei Treppen hinaufzutragen. Ich gab ihm ein, für Berliner Verhältnisse, großzügiges Trinkgeld.
„Das ist aber zu viel!“,sagte er.
„Für den Spargel, der wird auch immer teurer!“, sagte ich und er lachte.


Aus dem Englischen von Werner Rauch
Copyright © 2011 Peter Wortsman

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