Jul 31 2022

22.2.22

Published by at 2:46 am under Comments on current affairs

 

 

22.2.22

 

by Gabriele Eckart

 

Zweien schneit es. Schnapszahlen, sagt mein Mann nach dem Erwachen und schwärmt von dem Buch, das er gestern Abend zu Ende gelesen hat. A twisted ending that I did not see coming. Bücher, die so enden, liebt er. Wie war dein Film? Großartig! sage ich. “The Eyes of Tammy Faye”. Die eklige Welt des Fernsehevangelismus. Auch ein Ende, das ich nicht vorhersah, hatte der Film. “Gott liebt dich so, wie du bist.” Trotz des furchtbaren Fehlers, den Tammy Faye einmal begangen hatte, indem sie christliche Spendengelder für ihren Luxus abzweigte, gab ihr der Regisseur eine Chance. Dabei wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, sie ins Lächerliche zu ziehen und fertigzumachen.

Deprimierend die Morgennachrichten im Fernsehen; seine Krallen streckte Putin nach der Ukraine schon lange aus, jetzt ist er zum Sprung bereit. Seine funkelnden Augen. Beim Zähneputzen vermeide ich einen Blick in den Spiegel. Eine Augenlidoperation hatte ich letztes Jahr, seither sieht mich aus dem Spiegel Hexe Kaukau an. Einen vorsichtigen Blick wagen. Madre mía. Und das linke Auge heilt nicht, entzündet der untere Rand; sogar Lesen ist schwierig geworden. Also Filme sehen, um die Zeit zu vertreiben, jeden Tag einen anderen Film. Würde ich meine Augen mit denen von Tammy Faye tauschen wollen? Tätowiert ihre Lider mit einem Dauer-Make-up, beinahe obszön sieht das aus. Nachbarn lachen über sie. Dragqueen!

Während des Frühstücks ist Putin unser Gesprächsthema. Wegen seiner Giftmorde an Kritikern misstrauen wir ihm schon lange. Aber die Ukraine greift er nicht an, sagt mein Mann. So weit geht er nicht. “Niemand hat die Absicht, die Ukraine anzugreifen!” Doch, sage ich. Bin in der DDR aufgewachsen und kenne diese Art Logik. Nichts hat sich geändert. Du wirst sehen! Wie hat sich das Leben in der Diktatur angefühlt? fragt mich mein Mann. Stell dir vor, ein großes Auge sieht auf dich herab, immer. Und dann und wann entschließt es sich, dich anzugreifen. Eine Nacht fällt mir ein, war es Ende 1986 oder Anfang 1987? Eine kinderlose Tante war gestorben, erzähle ich, um ihm ein Beispiel zu geben, ich hatte mir von meiner Erbschaft einen Trabant gekauft und gerade erst die Fahrprüfung bestanden. Nach Jena ging meine erste Fahrt, ein Jugendpfarrer dieser Stadt hatte mich zu einer Buchlesung eingeladen. Während der Rückfahrt auf der Autobahn, ein kalter Wintertag, etwa um Mitternacht war es, brütete ich über die verschiedenen Reaktionen des Publikums. Während die beiden Porträts aus meinem nur im Westen erschienen Buch So sehe ick die Sache gut angekommen waren (“so frisch” und “wie aussagekräftig”), hatten meine neuen Gedichte eher Kritik erfahren. “Meinem Geschmack nach zu larmoyant” sagte eine junge Frau nachdenklich, und sie hatte Recht. Ja, das waren diese Texte, zu tränenselig – eine Kritik, die ich heute teile. Statt Sprachkritik und Wortwitz nur ein bilderreiches Gejammer. Um diesen Punkt kreisten meine Gedanken, als ich bemerkte, zwei schwarze Autos begannen mich in die Zange zu nehmen. Eines vor mir, eines hinter mir, immer enger rückten sie zusammen, große, starke Wagen, zwischen ihnen meine hilflos knatternde kleine Schachtel. Angstschweiß bricht mir heute noch aus, sage ich, wenn ich an diese Minuten denke. Und? fragt mein Mann, hattest du einen Unfall? Nein, dank eines Kühltransporters nicht. Als er uns überholte, die zwei schwarzen Wagen und mich, wie erleichtert spürte ich den Sog des Giganten, scherte ich aus der Umklammerung aus und klebte mich an das Gefährt. Wie entsetzt grölte mein Zweitaktmotor auf. Das Geräusch ignorieren, durchrasen! rief ich mir zu. Und schaffte es. Unfallfrei schaffte ich es bis zu meiner Straße in Berlin. Die bedrohlichen schwarzen Gefährte verschwanden. Danach Tage in Schockstarre. Das war zum erstenmal, sage ich, dass mir das Wort faschistoid in den Sinn kam. Die DDR war faschistoid. Und Putin, er war damals KGB-Agent in Dresden, ist es heute immer noch, vielleicht ist er unterdessen ganz zum Faschisten geworden, wir werden sehen.

Nur mit Sonnenbrille verlasse ich das Haus. Einkaufen geht glücklicherweise mein Mann. Dank Corona gibt es keine Partys, gesegnet sei die Pandemie. Später heute Vormittag ein Termin bei einem anderen Chirurgen als dem, der mich operiert hat. Dr. Santos, dem Namen nach vielleicht ein Mexikaner, ándale.

Putin! denke ich später im Wartezimmer und falle in Gedanken wieder in den DDR-Sumpf. Deine Stasi-Phobie! schelte ich mich. Wehrlos bin ich dagegen. Erinnern heißt mich im Zeitraffertempo aus dem Sumpf befreien, immer wieder von neuem. Sobald ich heraus bin und erleichtert nach Luft schnappe, füllt Wasser das Loch, in dem ich gesteckt hatte, gurgelnd und schmatzend. Lieber an Tammy Faye denken!

Wie konnten Sie sich nur von einem Handchirurgen an den Augen operieren lassen! Das linke Lid sei falsch herum eingesetzt. Der Chirurg, sage ich, wirbt täglich im Fernsehen, “Heartland Plastic Surgery”; es klingt überzeugend, auf der Liste seiner Künste steht neben boobs das Wort “Augenlidstraffung”; ich ging ihm eben in die Falle. Spanisch spreche ich. Das doppelte “r” kräftig rollen, wie sich mein Gaumen freut. Stammen Sie aus Mexiko? Nein, aus Guatemala, sagt Dr. Santos auf Spanisch. Ich erzähle ihm, dass ich in Tikal war. Er kommt aus Antigua. Dort war ich auch! Wir unterhalten uns über die schöne Stadt. Wie fürchte ich die wunderbare Sprache zu verlieren, sage ich. Seit ich im Ruhestand bin, habe ich nämlich keine Gelegenheit mehr Spanisch zu sprechen. Da es Ihre Muttersprache ist, Sie Glücklicher, verlieren Sie sie nie! Woher ich komme, fragt mich der Arzt. Alemania oriental, sage ich und füge für die Sprechstundenhilfe, die ihrem Gesichtsausdruck nach offensichtlich kein Spanisch versteht, hinzu: it was the communist part of Germany. Beide nicken, ja, sie erinnern sich daran, der Osten Deutschlands war kommunistisch. Dr. Santos fotografiert meine Augen, erst das linke, das am schlimmsten dran ist, dann das rechte. Nächste Woche werde er mich operieren und meine Lider in Ordnung bringen, sagt er beruhigend; er diktiert der jungen Sprechstundenhilfe, was sie über die bevorstehende Operation notieren soll. Keine Bange, sagt er abschließend und legt mir die Hand auf die Schulter.

Freudestrahlend informiere ich meinen Mann über die guten Aussichten hinsichtlich meiner Augen. Auch er erleichtert. Weißt du schon, welchen Film du heute Abend sehen willst? Ich glaube, ich sehe mir noch einmal “The Eyes of Tammy Faye” an. Des unvorhersehbaren Endes wegen. Ob Gott mich auch so liebt, wie ich bin?

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