Jun 2011

Michael Augustin

Reisebilder

Am Abend bevor ich nach Sizilien fliege, lese ich in Goethes „Italienischer Reise“. Als ich endlich das Buch zuklappe, ist er gerade in Neapel an Bord eines Seglers gegangen und nimmt Kurs auf Palermo. Nur wenige Stunden später stehe ich genau dort, im Hafen von Palermo, an einen Laternenpfahl gelehnt und blicke Goethe über das Meer entgegen.
 
 
 

Auf der Ägäisinsel Skopelos, deren Schönheit in Verbindung mit der Tageshitze jeglichen Atem raubt, kommt mir urplötzlich die Szene aus einem DEFA-Film über Hölderlin in den Sinn, als der von einem Franzosen gefragt wird: Sind Sie Grieche Monsieur? Und darauf antwortet: Nein, im Gegenteil.
 
 
 

Im Sommer 2001 fahre ich in einem Boot einmal rund um Manhattan, das sich also zu meiner Verwunderung tatsächlich als Insel erweist. Dass ich dabei Fotos mit einer Einwegkamera gemacht habe, gerät schon am Tag danach in Vergessenheit. Zwei Jahre später, beim Wühlen in einer Tasche, stoße ich zufällig auf die Kamera und lasse den Film entwickeln. Genau wie der Film noch vorhanden war und die Kamera, sind es zu meiner Überraschung auch die Zwillingstürme.
 
 
 

In der heißgeliebten New Yorker „Old Town Bar“ komme ich ins Gespräch mit einem litauischen Fotografen, der sich selbst als Paparazzo bezeichnet und darauf besteht, mir einen doppelten Whiskey auszugeben, weil es ihm gerade als erstem gelungen ist, eine Filmschauspielerin, die alle nur als Nacktstar kennen, in angezogenem Zustand zu fotografieren.
 
 
 

Auf dem internationalen Flughafen von Harrisburg, dessen Internationalität darin besteht, dass zweimal täglich eine kleine Maschine in Richtung Toronto abhebt, werden Ende 2003 die Sicherheitskontrollen verschärft und weitere Kontrolleure eingestellt. Eine ungeheuer dicke afro-amerikanische Dame mit hochgestecktem Haar, die hinter einem massiven Schreibtisch eingeklemmt zu sein scheint, dreht, wendet und durchblättert meinen deutschen Reisepass, während sie mich mehrmals über den Rand ihrer Brille hinweg mustert, bis ich kaum noch weiß, wohin ich gucken soll. Nachdem sie nochmals mein Arbeitsvisum befingert hat, lächelt sie tatsächlich und reicht mir meinen Pass. „So, so,“ sagt sie, „Sie sind also Australier!“
 
 
 

Am Abend vor meinem Abflug aus Indonesien hat mich eine Mücke gestochen. Eine merkwürdige Vorstellung, dass dort immer noch ein mit meinem Blut gefülltes Wesen über den Reisfeldern dahinsummt, während ich bereits wieder in Bremen in einem Café sitze und mich zur Erinnerung am Arm kratze.
 
 
 

Einmal, in Indien, liefere ich mich wegen der drückenden Hitze einem Barbier aus, der mich von meinen viel zu langen Locken befreien soll. Nach getaner Arbeit fegt ein Gehilfe die gefallenen Haare nach draußen vor die Tür, wo sie aber gar nicht lange herumliegen, da sogleich zwei grünliche Vögel laut krakeelend herbeiflattern und mit reichlich Haar in den Schnäbeln einen nahegelegenen Park ansteuern, aus dem sie dann noch drei-, viermal zurückkehren, um auch den Rest davonzutragen. Der Gedanke, mein abgeschnittenes Haar könnte kleinen indischen Vögeln als Einrichtung ihrer Kinderstube von Nutzen gewesen sein, lässt noch heute mein Herz zwitschern.
 
 
 

Beim Frühstück schwärme ich gegenüber der indischen Dichterin, die zum ersten Mal Deutschland besucht, vom ostfriesischen Tee und dem dazugehörigen landestypischen Ritual. Später, als unser Bummelzug durch die Felder und Wiesen der himmelslastigen ostfriesischen Landschaft in Richtung Holland zuckelt, schaut sie die ganze Zeit angestrengt aus dem Fenster. „Und wo bitte“, fragt sie schließlich, nicht ohne einen gewissen Vorwurf in der Stimme, „wo bitte sind denn hier die Teeplantagen?“
 
 
 

Für Jorge Sagastume
Einmal, im Café der Hamburger Kunsthalle, macht mich ein argentinischer Freund auf einen alten Herrn aufmerksam, der hochkonzentriert in einer Zeitung liest, ja, geradezu vom bedruckten Papier verschluckt wird. „Das ist Borges!“ sagt der Freund voller Überzeugung. Obwohl Borges natürlich schon seit Jahren tot ist, könnte er durchaus recht haben. „Nein“, sage ich, „es könnte Borges sein, aber es ist nicht Borges, weil Borges nämlich, als er so alt war wie der Herr dort drüben, bereits stockblind war, und der Mann da liest schließlich Zeitung!“ Doch der argentinische Freund schüttelt mitleidsvoll den Kopf: „Dann sieh doch mal genauer hin!“ Tatsächlich erkenne ich jetzt, dass der Alte die Zeitung über Kopf, also falsch herum vor Augen hat und nur so tut, als würde er lesen. „Es ist Borges!“ sagt der argentinische Freund und hat wohl doch recht.
 
 
 

Im Verlauf eines langen Abends in Wien begegne ich an drei verschiedenen, aber nicht all zu weit auseinander liegenden Örtlichkeiten dem umstrittenen Bildhauer Alfred H., der sich offenbar nur deshalb fortzubewegen vermag, weil er von zwei erheblich jüngeren Frauen gestützt wird. Als ich gerade, von diesem Anblick berührt, ein wenig traurig darüber sinniere, wie sehr er doch körperlich verfallen zu sein scheint, höre ich, wie jemand mit halblauter Stimme und nicht ohne einen gewissen bewundernden Unterton sagt, die beiden jungen Frauen seien dem Alten körperlich verfallen.
 
 
 

Einmal, an einem verregneten, düsteren Abend im Dezember führe ich eine Gruppe von 46 Psychiatern, die gerade an einem Kongress in Bremen teilnehmen, zu jenem Haus in der Innenstadt, in dem Anfang des vergangenen Jahrhunderts Sigmund Freud und sein Schüler C.G. Jung zu Abend aßen, um sich am darauf folgenden Tag in Bremerhaven nach Amerika einzuschiffen. Ich erzähle, dass Freud während des Essens einen Ohnmachtsanfall erlitten habe und hoffe natürlich, die 46 Psychiater mit dieser Information zu überraschen. Etwas enttäuscht muss ich aber zur Kenntnis nehmen, dass bereits sämtliche Damen und Herren über diesen Vorfall aufgeklärt sind, der in der einschlägigen Fachliteratur als sogenannter fainting incident auch längst nach allen Regeln der Kunst tiefenpsychologisch gedeutet, interpretiert und analysiert worden ist. Einer der Psychiater erzählt, der sich damals schon im reifen Alter befindliche Freud habe während des Essens geglaubt, der sehr viel jüngere C.G. Jung habe an ihm gewissermaßen einen Vatermord vollziehen wollen und sei deshalb für einen Moment in die Ohnmacht oder besser: Bewusstlosigkeit entflohen. Da ich sehe, dass die restlichen 45 Psychiater ihrem Kollegen lebhaft beipflichten, beschließe ich spontan, mir meine Interpretation, Freuds Ohnmacht sei schlicht und einfach der miserablen bremischen Küche geschuldet, zu verkneifen.
 
 
 

Ich stehe vor dem Haus in Dublin, in dem ich vor zweiunddreißig Jahren als Zweiundzwanzigjähriger gelebt habe und stelle mir vor, wie ich mich damals jetzt hier draußen am Zaun hätte stehen sehen.
 
 
 

In den letzten paar Jahren immer wieder Ausflüge und Reisen in meine Kindheit. Ernsthafte Erwägungen, mal länger zu bleiben oder dort später den Lebensabend zu verbringen. „Schickt Spielzeug“, schreibe ich nach Hause.
 
 
 


Mit freundlicher Genehmigung aus:
Michael Augustin
Der Bahnhof fährt ab
Reisebilder

Mit Holzschnittminiaturen von Michael Wolgemut
Edition Temmen
Hohenlohestraße 21
28209 Bremen
Tel.: 0421/348 43-15
Fax: 0421/34 80 94

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