Dec 2020

IV. Autobiografische Texte: Lotte Lenya in Amerika

Lotte Lenya in Amerika:

 

Begegnungen in Schulen,

 

Universitäten und Theatern

 

Guy Stern, West Bloomfield, Michigan

 

Gerade in dieser Woche wandern meine Gedanken nicht zum ersten Mal zu einer lieben Freundin. Am 27. November 1981, also vor 38 Jahren, verstarb die legendäre Schauspielerin und Sängerin, die beispielhafte Interpretin von Kurt Weills Liedern. Einen Tag vorher konnten meine Frau und ich sie noch einmal besuchen. Damit möchte ich diese kurze Reminiszenz beginnen.

Judy und ich wollten unsere Reise zu einem Universitätsfest in Hempstead, Long Island, meiner alma mater, zum Zweck eines Krankenbesuchs in New York zu unterbrechen: Lenya war durch eine Krebserkrankung schon stark geschwächt. Es wurde uns gesagt, dass sie im Studio einer mit ihr befreundeten Künstlerin, Margo Harris, untergebracht sei. In der Tat fanden wir sie in einem schmucklosen kargen Arbeitszimmer vor. Wir sprachen ihr Mut zu, aber es schien uns, als ob sie zu allem anderen auch in ihrem Aufenthaltsort sehr unglücklich war. Uns war aufgefallen, dass die Gastgeberin uns trotz unserer Freundschaft mit Lenya zunächst nicht zu ihr vorlassen wollte. Wir verbrachten weniger als eine halbe Stunde mit Lenya, in der wir von einem kurz zuvor besuchten Konzert erzählten und Lenya sich auf einige immer noch witzige Kommentare beschränkte.

Am übernächsten Tag, nach unserem Besuch am Hofstra College, machten wir wiederum Halt in Manhattan. Es war zu spät.

Kennengelernt hatte ich Lenya 1956. Ein von meinem Freund Gustave Matthieu, Kollege und hin und wieder Co-Autor, und mir geplantes Lesebuch, Brieflich erzählt, sollte auch ein Kapitel über den Komponisten Kurt Weill enthalten, wenn wir eine bisher unveröffentlichte Episode aus seinem Leben und Werk finden könnten. Es war bekannt, dass seine Witwe in Manhattan und New City, NY lebte. Mit der Unbefangenheit – besser gesagt, Unverfrorenheit – eines jugendlichen Neulings in der Germanistik schrieb ich ihr, dass wir ihrem verstorbenen Mann durch unser Kapitel weitere Berühmtheit in Amerika verschaffen könnten. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch gar keine Zusage von irgendeinem Verleger, ein gewagtes Versprechen also. Drei Wochen später erhielten wir (heute wohl unglaublich) von ihr ein Konvolut von Briefen, das die Entstehungsgeschichte des Musikdramas Der Weg der Verheißung von Kurt Weill und Franz Werfel fast lückenlos vorstellte. Das aus dieser Quelle entstandene Kapitel fand viel Applaus und war der Start verschiedener gemeinschaftlicher Projekte, die fast bis zu Lenyas Tod fortgesetzt wurden. Davon jetzt einige Beispiele.

Dass sie hier in den Vereinigten Staaten Aufnahme und eine neue Karriere fand, hat Lotte Lenya in tiefer Dankbarkeit nie vergessen. Sie stand ihrer Wahlheimat nicht unkritisch gegenüber – über die Rassendiskriminierung konnte sie sich ereifern – aber ihr unmissverständliches Engagement und Zugehörigkeitsgefühl standen fest.

Eben aus dieser Einstellung heraus suchte und fand sie immer wieder Kontakt zur Schul- und Universitätsjugend Amerikas. Obwohl ihr Angebote aus Hollywood und vom Broadway zuflogen, zog sie es öfters vor – ohne Aufsehen davon zu machen – auch in ganz kleinen Kreisen aufzutreten, die sie mit jungen Amerikanern in Berührung brachten.

In Cincinnati z.B. kamen sie einmal zu einer FLES-Klasse (Foreign Language in Elementary School), an der vorwiegend afro-amerikanische Kinder teilnahmen, unterhielt sich mit ihnen auf Deutsch und stimmte mit ihrer hinreißenden Singstimme in deutsche Lieder an. In Kalifornien wanderte sie mit Gustave Mathieu von Deutschklasse zu Deutschklasse, scherzte mit den Studenten der Universität California Fullerton und verteilte die verlangten Autogramme.

Oder aber sie stellte Sprechschallplatten her – „zum Unkostenpreis“, wie sie mir einmal lächelnd sagte, weil sie zum Unterrichtsgebrauch bestimmt waren, so z.B. eine ganz kurze Geschichte von Franz Kafka. Heute würde man dies „Hörbücher“ nennen.

Sie, die ungern und manchmal nur notgedrungen an Diskussionen, Fernsehinterviews, usw. teilnahm, verhielt sie sich bei Unterhaltungen mit Studenten und jungen Menschen völlig ungezwungen und ging sehr aus sich heraus. Unvergesslich, wie sie nach einer anstrengenden Vorstellung von „Brecht on Brecht“ am John Carroll College in Cleveland, Ohio noch eine gute Stunde lang einer riesigen Studentengruppe Rede und Antwort stand, zum hundertsten Mal als Antwort auf eine Frage erzählte, wie Die Dreigroschenoper zustande gekommen war, mit spitzbübischen Humor dabei jene Zwanziger Jahre in Berlin noch einmal aufleben ließ, dann Antworten auswich, als ein Student fragte, ob denn Weill und Brecht enge Freunde gewesen seien. Sie beendete die Plauderei damit, dass sie mit einer Studentin zusammen ein Lied von Weill summte, über die die Fragestellerin näheres wissen wollte. Etwa ein Jahr später, am 18. Februar 1982, erhielt ich einen Brief von der Direktorin der Öffentlichen Informationsabteilung der John Carroll Universität, Mary Ellen Klein. Sie schrieb, “I recall being in the audience as a graduate student in English on the occasion of her [Lenyas] appearance on our campus. The gravelly quality of her voice and her stage presence are images that remain with me.”

So oder ähnlich spielten sich Szenen mit Lenya auch an anderen Colleges und Universitäten ab. Ein Bild aber – ein Happening würde man heute sagen – hebt sich auch von diesen nicht gerade alltäglichen Momentaufnahmen ab. Sie war mit einer Studentengruppe der Universität Cincinnati in einer Weill-Brecht Collage drei Abende hintereinander aufgetreten – für Zuschauer und die angehenden Schauspieler ein unvergessliches Bildungsereignis. Nach der letzten Aufführung gab es eine Party für die Darsteller und die Mitglieder der Theater – und der Deutschabteilung der Uni Cincinnati. Gegen zwei Uhr morgens an jenem Sommerabend wollte Lenya Schluss machen. Die Gastgeber, Professor Jerry Glenn und seine Frau, sowie alle Party-Teilnehmer begleiteten sie zum Auto. Jemand stimmte ein Lied von Weill an, alle fielen ein, Gitarren wurden herbeigeholt, ein paar Studenten hoben Lenya aufs Autodach und sie stand dort und hörte die ihr vertrauten Lieder als Ständchen und als Huldigung der nächsten Generation. Kurz vor ihrem Tode, etwas früher als Judy und mein Besuch an ihrem Krankenbett, sagte sie zu ihrer engen Freundin Lys Simonette, Musikwissenschaftlerin am Curtis Institute of Music in Philadelphia, Pennsylvania: „Weißt du, jetzt fallen mir doch alle möglichen schönen Augenblicke aus meinem Leben ein. Aber immer wieder kommʼ ich auf diese nebelige Nacht in Cincinnati zurück, wo ich im Scheinwerferlicht stand und diese Studenten Kurts Lieder sangen. Lys, da hatte ich das Gefühl, da bin ich zu Hause.“

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