Sep 2020
VII. Laudatio, Hommage, In Memoriam: Vorwort
Vorwort:
Distant Memories…
Forever Remembered
Frederick A. Lubich, Norfolk, Virginia
„Distant memories are buried in the past forever“
Scorpions, „Wind of Change“
Wenn sich Erinnerungen tief eingegraben haben, sind sie vor dem Vergessen umso sicherer. Auch so könnte man die obige Zeile dieses so zukunftsfrohen Liedes deuten. In diesem Sinne sind jedenfalls die folgenden drei Beiträge zu verstehen, nämlich als Erinnerungen und Würdigungen von Menschen, die in den Wechselfällen der deutschen Geschichte Schreckliches erlebt und gemeistert und in ihrem weiteren Leben Denk- und Erinnerungswürdiges geleistet haben. Vertreibung und/oder Auswanderung war das Schicksal der Geehrten dieser drei Beiträge und diese Lebenserfahrung teilen sie zudem auch noch mit sämtlichen Autoren dieser Texte.
Beim ersten Beitrag handelt es sich um die Laudatio auf die deutsch-rumänische Schriftstellerin Herta Müller, die Professor Guy Stern anlässlich der Verleihung des Ovid-Preises im Frühjahr 2018 in der Frankfurter Nationalbibliothek gehalten hat. Der Laudator hat uns freundlicherweise die Erlaubnis erteilt, diesen Text als Erstveröffentlichung hier abzudrucken, wofür wir ihm herzlich danken. Dies gibt uns die Gelegenheit, in dieser Glossen-Ausgabe Herta Müller, die vor vielen Jahren selbst in diesem Journal publiziert hatte, nicht nur als Trägerin des Ovid-Preises und Nobelpreisträgerin für Literatur zu ehren, sondern sie uns auch als mutige Bürgerrechtlerin in Erinnerung zu rufen, die einst vor ihrer Auswanderung nach Deutschland unter der Diktatur des Ceauçescu-Regimes in Rumänien mutig für Freiheit und Demokratie gekämpft hatte.
Zudem gibt uns diese Veröffentlichung auch die weitere Möglichkeit, in Guy Stern einen der letzten großen Vertreter der deutsch-amerikanischen Exil-Generation zu würdigen. Er kam als Günter Stern fünfzehnjährig noch vor Ausbruch des Krieges nach Amerika und sollte der einzige seiner in Deutschland zurückgebliebenen Familie sein, der dem Holocaust entkommen konnte. In Amerika machte er sich nach dem Kriege bald als bahnbrechender Mitbegründer der deutsch-amerikanischen Exilforschung einen Namen. Zudem war er auch einer der ersten, der nach dem Kriege die Brücke zurück nach Deutschland schlug und über die Jahre hinweg an mehreren deutschen Universitäten unterrichtete.
Darüber hinaus hielt er auch immer wieder in deutschen Landtagen sowie im Deutschen Bundestag viel beachtete Ansprachen, wurde mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt und ist auch noch heute im biblischen Alter von 98 Jahren überaus aktiv, unter anderem als Vize-Präsident der Kurt-Weill-Gesellschaft und als Präsident des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Es gibt inzwischen in den elektronischen Medien mehrere leicht zugängliche Dokumente zu Leben und Werk von Guy Stern, unter anderem auch eine ausführlichere Hommage auf ihn anlässlich der Verleihung des ersten Ovid-Preises des PEN-Zentrums, die der PEN-Newsletter im Jahr 2017 unter dem Titel „Per Aspera ad Astra“ publiziert hatte.
Von illustrativer Bedeutung ist im Zusammenhang mit dem Motto „Wind of Change“ dieser Ausgabe auch der Dokumentarfilm The Ritchie Boys, der Guy Sterns Mitgliedschaft in der Elitetruppe der US-Armee während des Zweiten Weltkrieges und bei der Invasion der Normandie rekonstruiert. Er spielte also nicht nur als angehender Literaturwissenschaftler bei der Gründung der akademischen Disziplin der deutsch-amerikanischen Exilforschung, sondern auch als blutjunger Soldat bei der militärischen Befreiung Europas eine hervorragende und mit dem Bronze Star ausgezeichnete Rolle, in der er mithalf, das Blatt der Geschichte zu wenden.
In anderen Worten, Guy Stern und Herta Müller sind beredte Vertreter und berufene Zeitzeugen einer überaus bewegten Epoche und ihrer nachhaltigen Wandlungsprozesse, die sie nicht nur passiv erfahren, sondern auch aktiv mitgestaltet und weitervermittelt haben. Sie waren ein Teil von jenem geschichtlichen Sturmwind der Veränderungen, der schließlich in einer friedlichen Revolution die Berliner Mauer hinwegfegen und die große Wende, das langersehnte Ende des Kalten Krieges herbeiführen sollte.
Die zwei folgenden Beiträge von Michael Eskin und Erika Berroth führen diesen gewaltigen und oft so gewaltsamen Zeitenwandel am Beispiel der Lebensgeschichten von Anita Lasker-Wallfisch und Ursula Mahlendorf noch weiter aus, wobei vor allem bei der Letzteren ein erstaunlicher Gesinnungswandel vorbildliche Bedeutung gewinnen sollte. Und so gedenken und gemahnen diese drei Beiträge allesamt einmal mehr an das, was wir nie mehr vergessen dürfen, wollen wir für uns und unsere Kinder eine bessere Zukunft sichern.