Dec 2014
Axel Reitel
Ein Ständchen von Lenin und Trotzki
Für Hubertus Giebe
Wo man singt, da lass dich nieder
Volksweise
Das Gegenteil ist der Fall.
Sie stehen auf dem Foto nebeneinander:
an der Quetschkommode Leo
mit Lenin im Duett den Schlager
für Längen- und Breitengrade:
… O Tannenbaum … du blühst
nicht nur zur Sommerzeit…
Das Jahr des Schnappschusses ist ungewiss,
die Kleidung deutet auf Frühling,
aber es muss ja ein Wintertag gewesen sein,
vorstellbar eine wärmende Sonne an Weihnacht,
eine Flucht aus der Zeit[1] war es kaum.
Beide Opfer von Attentätern. Einschuss (bei Lenin)
wie Einschlag (bei Trotzki) trafen ins Hirn, ihre
Zentrale der Ideale der Ermordungen:
wer muckt wird ausgelöscht, soweit
neben dem Singen ihre Strategie.
Nur erwähnten sie nie Italien,
die Canto di Malavita [2]. Da ist
allen alles klar. Geschieht ein Mord,
weiß man wer’s war.
30. Juni – 03. August 2014
Die gefahrvolle Inschrift
In memoriam Frank Kraus, 1962-2012,
Daniel 5, 25-28
Als unser Mormone in der Nacht des 13. Dezember, an einem Sonntag SOLIDARNOŚĆ mit großen, bronzenen Lettern an die zitronengelbe Gartenmauer des Hauses unseres alten Bürgermeisters a. D geschrieben hatte, vergingen zwei Tage noch bis zum erwarteten Besuch. Nach dem Klingeln öffnete er die Wohnungstür und bat den Abschnittsbevollmächtigten Malik[3] und die beiden Volkspolizisten höflich in die Gute Stube. Er hörte auf das geräuschvolle Durchsuchen des Kücheninterieurs, wie der kleine Kohleofen geöffnet wurde, dann der Gasherd, und er biss sich leicht auf die Lippen, als eine Tasse aus dem Geschirrschrank fiel und auf dem Boden zersprang, denn er hatte das Farbtöpfchen und den Pinsel auf dem Schrank abgestellt und nicht weggebracht. Er sah, wie beide Polizisten um das Farbtöpfchen herum die Oberfläche des Schrankes abtasteten, und schließlich den Triumph in Maliks Augen. Wir alle im Wohnbezirk wussten um Maliks Hass auf unseren Mormonen, aber niemand kannte dafür den Grund. Die Polizisten kamen aus der Küche zurück und zuckten mit den Achseln. Unser Mormone aber dachte daran, was er für das Untersuchungsgefängnis einzupacken habe. Doch nichts geschah. Der Malik durchsuchte nun selbst die Stubenkommode, sah unter der Schlafcouch nach und schrie dann, noch immer mit Triumph in der Stimme: “Gibs auf, wo ist das Leergut!” Was war? Es waren in derselben Nacht, als unser Mormone die Inschrift anbrachte, Diebe in die Brauerei unseres Viertels eingedrungen. Doch unser Mormone war kein Dieb und die Beförderung erhielt nicht unser ABV Malik, sondern später ein anderer, der die Freundschaft unseres Mormonen gewann, in Wahrheit aber als Inoffizieller Mitarbeiter unserer städtischen Kreisdienststelle der Staatssicherheit gegen ihn ermittelte. Dessen Klarnamen erfuhr unser Mormone auch nach dem Gefängnis nicht, und wir wussten nichts von ihm. Die von getarnten Malermeistern übertünchte Inschrift aber ist noch heute an der Gartenmauer zu erkennen.
Himmelfahrt 1985 in Plauen / Vogtland. Frank Kraus, links im Bild,
mit seinem besten Freund im Wohnbezirk „Syratal“, der ihm auch die
Farbe für die Inschrift besorgte, Gunter Bottich.
So ging es
Vom Hungerstreik der Polit-Häftlinge im Strafvollzug Cottbus 1981
3.Fassung [4]
Für Hannes Schwenger
Dass der Mensch gern auf dieser Erde lebt.
Reiner Kunze
1.
Das war das Schönste. Und so las sich die
in Räumen versteckte Losung: „17. Dezember
Kampftag der Solidarność
Donnerstag-Mittag Solidaritätshungerstreik.
Solidaritäts-Komitee politischer Häftlinge(SKPH)“.
Und so erinnere ich mich im Gedicht.
2.
Der Himmel warf sein Seidengrau
in den Freihof, Freikaufknast Cottbus,
ein Schotterplatz, kein Grün.
Dreihundertfünfzig Häftlinge streikten
an jenem klirrende Dezembertag,
Kommando für Kommando.
3.
Wir standen da, im weihnachtlichen Schnee,
und harrten aus, umgeben
von Hundegebell und Wolkensümpfen
aus Feldfrucht und Speck,
blieben an diesem Tag die Löffel in der Tasche:
Zur notwendigen Sichtbarmachung.
unserer Solidarität mit der polnischen
Gewerkschaft Solidarność,
Bevor das Kriegsrecht zur Gewohnheit
wird der Macht und einmalig, in Polen,
die Forderung nach einem runden Tisch, wie
auch das Jahrhundertwort: tak my możemy,
Jahre später: yes we can.
Taktisch widerstehend,
gelassene Stille,
von Drohungen der Aufseher unterbrochen:
“Essen, na los!”
“Alles verabredet vorher!”
4.
Natürlich. Sie verfügten über ein Spitzelheer.
Wussten’s vorher und standen in der Speisebaracke
schon ganz früh mit ihren Rüden, den Unheiligen, Spalier.
Doch nichts: wie Primadonnen nach einem misslungenen
Sprung, blickten die gemeinen Frugenköche,
zu den vollen, aber unberührten Tellern.
5.
Es ging zurück in die Zellen. Hofrichter,
der Ranghöchste der Kanaillen, ließ antreten:
“In Zweierreihen ab!” Zurück im Hafthaus ließen sie
die Hunde an der langen Leine in die Zellen
springen und nach uns schnappen. Das waren
die Blumen für unseren Kampftag.
6.
Keine Angst, die Zellen waren Universen,
Ärzte, Professoren, Olympioniken, es gab
Wissen und Ertüchtigung. Jedes Lexikon
strahlte uns, bald aufzubrechen wohin:[5]
die Seychellen, nach Afrika oder weiter,
mit allen Ländern in Kontakt, in Tempelhof.[6]
7.
Sodann der Himmel im Seidenblau.
Das Blaue vom Himmel auch vor dem
Offizier für Kontrolle und Sicherheit (OKS) Träger:
“Du lehnst Wałesa ab, klar!” “Unterschreib!”
“Im Bann des Sozialistischen Wegweisers [7]
wünschst du wie Orpheus noch zu singen!”
8.
Nein: geschlossen strebten wir gen West.
Strafgefangene, Staatsfeinde, Handelsware:
für jeden von uns kassierte das Land hundert Riesen.
Doch so schön, umgeben von Hundegebell,
war auch dies gemeinsame Wort vers le est
[non fou]: Unrecht vermiesen statt Rübenragoût.
(1991/6. Juli 2014)
Endnoten
1. Hugo Ball, zitiert von Peter Sloterdijk, in: Du musst dein Leben ändern, Suhrkamp, 1. Aufl. 2009 S. 100.
2. CD: “Il canto di Malavita (La Musica della Mafia)”. Label: Pias (rough trade). Lieder der kalibrischen Mafia (Ndrangheta). Inhaltlich geht es um die Gesetze der Ehre, das Schweigens und der Vergeltung .
3. Im Kürzel ABV. Üblicherweise gab es in jedem Viertel (im DDR-Deutsch „Wohnbezirk“) einer Stadt einen für die Kontrolle und Sicherheit verantwortlichen ABV.
4. 1.Fassung in: Marion Brandt, Für eure und unsere Freiheit. WEIDLER Buchverlag, 1. Auflage 2002, S.359f. Polnisch. Aussprache ż = żet = wie sz.
5. Friedrich Hölderlin, Lebenslauf, Zeilen 15-16: Und verstehe die Freiheit, /Aufzubrechen, wohin er will. Die Bibliothek Deutscher Klassiker, Band 20, I/I, S.285.
6. In Berlin-Tempelhof (Gontermannstraße) wohnte der Autor die ersten Monaten in (West-)Berlin.
7. Jargon des Haft-Regimes im Zuchthaus Cottbus für den Schlagstock.
V.l.n.r. Victor Witt, Knut Dahlbor, Lech Walesa, Axel Reitel im Büro Walesa im Grünen Tor in Gdansk
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