Jan 2011
Rezensionen Glossen 31/2011
Uwe Tellkamp, Der Eisvogel. Roman (Hamburg: rororo, 2006) 318 Seiten.
Der 1968 in Dresden geborene Autor Uwe Tellkamp, der zur Zeit des Mauerfalls Panzerkommandant bei der Nationalen Volksarmee war, erhielt im Jahre 2004 den Ingeborg-Bachmann-Preis für einen Lesetext. Zwei Jahre später veröffentlichte er den Roman Der Eisvogel. Das Werk umreiβt das Psychogramm eines Enttäuschten, der an den demokratischen Strukturen der Bundesrepublik leidet, dann aus Selbst- und Welthaβ in den Bann eines charismatischen rechtsradikalen Wahnsinnigen gerät und zum Mörder wird. Er selbst erleidet dabei Brandverletzungen, kommt in die Berliner Charité, und von hier aus berichtet er seinem Verteidiger in Form der Retrospektive, wie es zu der Tat gekommen ist. Der Bericht ist durchsetzt von den Aussagen anderer Personen, so daβ mit einem vielstimmigen Perspektivwechsel Problemfelder im wiedervereinigten Deutschland thematisiert werden; doch dem Autor gelingt es dabei nicht, die elitären Höhenflüge der beiden Hauptakteure Kaltmeister und Ritter mit überzeugenden Gegenargumenten zu durchbrechen.
Das demokratiefeindliche Buch verstört. Man empfindet Unbehagen, muβ das Buch aber trotzdem ernst nehmen als ein Stück Zeitdiagnose der Nachwendezeit, eine Diagnose, die untergründig Gärendes freilegt. Wie ein roter Faden zieht sich ein Satz durch die Handlung: “Die Dämonen kehrten zurück.” Ernstnehmen muβ man in diesem überladenden Ideenroman ebenfalls die präzise Beobachtungsgabe des Autors und seine Analysen menschlicher Verhaltensweisen in spezifischen Situationen. Hier besticht die Formulierungskraft des Autors, der andererseits, wenn er den Haβtiraden der Herren Kaltmeister und Ritter Ausdruck gibt, den Leser ermüdet, auch langweilt.
Gestaltet wird ein von Pathos durchdrungener philosophischer Redeschwall über eine Revolution von rechts, eine Diskussion, die sich aus Kritik am Mittelmaβ einer als perspektivlos empfundenen Demokratie und aus elitärem Gröβenwahn speist. Der arbeitslose frustrierte Akademiker Wiggo Ritter — ausgebildeter Philosoph und Sozialfall –, der gegen die Welt seines reichen Bankier-Vaters rebelliert, verfällt aus überschäumender Wut den Verführungskünsten des Terroristen Mauritz Kaltmeister, der die Welt mit verquasten Ideen zu verändern sucht. Kaltmeister ist Kopf der Organisation “Wiedergeburt”, die von einfluβreichen Personen aus Wirtschaft, Politik und Kirche finanziert wird. Die paramilitärische Kampfgruppe dieser Organisation, genannt “Cassiopeia”, evoziert historische Dämonen: “gestreckter Arm, geballte Faust, Kampf, Parolen vom Durchhalten und Rückrat.” Auch der Name Kaltmeister ist suggestiv. Doch Kaltmeister vorschnell als Neonazi einzustufen, führt zu Einseitigkeiten, denn in der U-Bahn verteidigt er gewaltbereit “mit Faust und Rückrat” ein arabisch aussehendes Ehepaar gegen Skinheads.
Ritters Gewaltbereitschaft dagegen schöpft aus anderer Quelle, Angst — “Angst ist es, worüber wir uns hier unterhalten, Herr Verteidiger” — : “Wovon leben? Das war die schlichte Frage, die ich mir jeden Tag aufs neue stellte … Es gab immer mehr Arbeitslose, immer mehr Firmenpleiten. Was tun? Drei Möglichkeiten. Die erste war Selbstmord … Die zweite Möglichkeit war Resignation. Ich wählte die dritte: Widerstand.” Man kann dem Helden zugute halten, daβ er letztlich doch aus der terroristischen Organisation aussteigen will. Er fühlt sich am Schluβ von Mauritz bedroht und tötet ihn aus Notwehr. So kann man es deuten.
Am Beginn der kreisförmigen Handlung ist — richtungweisend? — von einem “bösen Traum, einem Albtraum” die Rede. Aber vor allem sollte man nicht vergessen, daβ die von unerträglichem Pathos getragene, generell ironiefrei gestaltete Handlung letztlich doch nicht völlig frei von Ironie und Komik ist, denn die schwülstigen Höhenflüge des Patienten Wiggo Ritter finden in der Berliner Charité immer wieder ein abruptes, ernüchterndes Ende: “ Na, wird’s denn was, Herr Ritter, schon aufs Töpfchen gemuβt? … Sie kriegen ein Zäpfchen, hat der Doktor angeordnet, weil Sie schon zwei Tage keinen Stuhlgang hatten, bitte, zur Seite drehen, Herr Ritter.”
— Christine Cosentino
Helga Kurzchalia, Lamaras Briefe oder vom Untergang des Kommunismus. Roman. Berlin: Verlag Lichtig, 2010
Helga Kurzchalia ist eine Berliner Lyrikerin und Autorin von Prosaliteratur. Ihr erster Roman, Im Halbschlaf, ein poetisches und sehr persönliches Buch, das in 31 Skizzen den Lebensweg einer sensiblen Ich-Erzählerin im Nexus der „Diktatur des Proletariats“ in der DDR nachzeichnet, kam im Jahre 2000 heraus. Ihr zweites Buch, Hier, das sie 2007 zusammen mit der Graphikerin Ulrike Brückner und der Fotografin, Angelika Barz im Veenman Publishers Verlag publizierte, ist eine Art Bestandsaufnahme der deutschen Situation nach der Wiedervereinigung. Es enthält Kurzportraits von Menschen, die entlang der einst tödlichen innerdeutschen Trennungslinie und der Außengrenze beider deutscher Staaten zu Hause sind.
Lamaras Briefe, ihr nun dritter Prosatext, ist ein Roman in Briefen, die insgesamt eine sensible und plastische Darstellung der Lebensumstände einer deutsch-georgischen Familie und einiger ihrer Freunde ergeben, die teils in Ostberlin und teils in Tbilissi zu Hause sind. Die beiden Hauptbriefeschreiber sind Lamara, die Georgische Mutter Ditos, der mit der Ostberlinerin Clara verheiratet ist, Dito und Clara. Der Hintergrund dieser Korrespondenz, in der es in Andeutungen und kurzen Beobachtungen um politische Entwicklungen, aber sehr konkret auch um die Ereignisse und Bedürfnisse des täglichen Lebens geht, sind die für beide Länder so dramatischen und folgenreichen Jahre 1984 bis 1996, in denen Georgien zu einem von Russland unabhängigen Staat wurde, der wiederum in kriegerische Auseinandersetzungen mit den sezessionistischen Bestrebungen in Abchasien und Südossetien geriet. Und es sind die Jahre, in denen durch die sanfte ostdeutsche Revolution die Berliner Mauer fiel, worauf die DDR nur wenige Monate später nach einem Beschluß der DDR-Volkskammer dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitrat.
Der gegenseitige Austausch in Briefen macht sowohl die geographische als auch die potentiell persönliche Distanz sichtbar, die sich aus den unterschiedlichen Lebenssituationen ergeben könnte. Gleichzeitig sind die Briefe Dokumente eines reflektierenden, sensiblen und verständnisvollen Anschreibens gegen diese Gefahr. Sie geben Zeugnisse von Menschen, die um einander werben und einander nicht verlieren wollen, indem sie auf gemeinsame Besuche, Feste, Essen, Kindheitserlebnisse u. a. rekurrieren, sich um gegenwärtige Befindlichkeiten des jeweils anderen sorgen, einander mit verschiedenen materiellen Dingen, wie z. B. Medikamenten, unterstützen und sich in Kommentaren zu den politischen Ereignissen der Zeit, wie dem Golfkrieg, der Errichtung einer neuen Diktatur nach der Erreichung der Unabhängigkeit in Tbilissi und dem Wandel im Osten Deutschlands einander vergewissern.
Gerade in dieser natürlichen und von den Briefschreibern gewollten Intimität liegt aber auch eine gewisse Gefahr, weil sie ab und an dazu verführt, mit Andeutungen auszukommen und an Stellen vage zu bleiben, wo für Leser, besonders vielleicht für jüngere Leser, ein Mehr an Erklärungen nützlich gewesen wäre. Z. B. wäre es interessant, mehr darüber zu erfahren, welche Rolle Wien, London und Ostberlin für die Eltern Claras und für Clara selbst gespielt haben und eventuell noch spielen, obwohl man sich wegen der angegebenen historischen Daten auch denken kann, dass es um Heimat- Flucht- und Sehnsuchtsorte einer sozialistischen, jüdischen Familie gegangen ist.
Lamaras Brief sei allen empfohlen, die etwas über das gegenwärtige Leben einer über den europäischen Kontinent verteilten Familie, über Georgien, die DDR, den Untergang des „sozialistischen Weltsystems“ und Deutschland nach der Wiedervereinigung 1990 erfahren möchten. Vor allem auch, weil man es in einer behutsamen, einfühlsamen Sprache erfahren kann.
— Wolfgang Müller
Thea Dorn, Ach, Harmonistan. Deutsche Zustände München: Knaus Verlag, 2010. 251 Seiten
Seit Erscheinen ihres ersten Buchs, des Kriminalromans Berliner Aufklärung (Marlow-Preis der Raymond-Chandler-Gesellschaft, 1995) vor rund sechzehn Jahren ist Thea Dorn mit weiteren Romanen (Deutscher Krimi Preis für Die Hirnkönigin, 2000), Sachbüchern, Essays, Drehbüchern (Tatort), Theaterstücken, Zeitungsartikeln, ihrer Arbeit als Dramaturgin am Schauspielhaus Hannover und als Fernsehmoderatorin beim Südwestfunk, wo sie im Wechsel mit Felicitas von Lovenberg die Sendung „Literatur im Foyer“ betreut, zu einem festen Bestandteil der intellektuellen und kulturellen Öffentlichkeit in Deutschland geworden.
Ihr jüngstes Buch, Ach, Harmonistan enthält 28 Essays, die von Januar 2005 bis Dezember 2009 in renommierten deutschen und europäischen virtuellen, akustischen und Printmedien, wie z. B. Cicero, dem Bayerischen Rundfunk, der Literarischen Welt, und der Zeit erschienen sind. Es ist ein Verdienst des Knaus Verlags, daß sie nun an einer Stelle versammelt sind, ermöglichen sie doch einen Überblick über ihre Wortmeldungen zu den, im doppelten Sinne, „deutschen Zuständen“, will sagen Seelenzuständen, der letzten 15 Jahre. Dabei „outed“ sie sich als radikale Aufklärerin, nichtideologische Feministin und leidenschaftliche Demokratin. Die Dinge „hinterfragen“, das Schlüsselwort der Kritischen Theorie, ist in all ihren Essays Methode.
Die Ziele ihrer skeptisch-ironischen Hinterfragungen sind u. a. der „Kindergartenstaat“, eben ein Harmonistan, der seine Bürger so umfassend hätschelt, daß Freiheit und Verantwortung des Einzelnen, der eigentlich ein selbstbestimmtes Leben führen könnte und sollte, sich kaum noch „rechnen“; der überwiegend männliche Beta-“Löwe“ in der Politik, der zu bedeutungsloser Aggressivität neigt, weil ihm die Alphaqualitäten abgehen; die schon von Sieburg in den fünfziger Jahren konstatierte merkwürdige Sehnsucht der Deutschen nach Katastrophen und die schwer entwirrbaren Geschlechterbeziehungen, ein Dauerrenner in der öffentlichen Diskussion, seit sich der erste Mann seine zukünftige „Gattin“ von einer anderen Sippe an den Haaren herbeizog und die erste Frau dem Jäger vorwarf, das falsche Mammut erlegt zu haben –- zum Mann-Frau-Thema kann man in Harmonistan übrigens eine gelehrte und kluge „tour de force“ durch Wagnerische Opern und das Blaubartmotiv in der Literatur vom 17. bis zum 20 Jahrhundert lesen. Es ist ein zentrales Thema in ihrem Buch, denn die Möglichkeit der Geschlechter, sich auf Augenhöhe zu begegnen ist für sie unmittelbar mit einem voranschreitenden Prozeß der Aufklärung verbunden.
Im politischen Kern jedoch geht es ihr vor allem um die in Deutschland so schwer erkämpfte Demokratie. Churchills Diktum aus seiner 1947iger Rede im Unterhaus könnte auch das ihre sein: “No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed, it has been said that democracy is the worst form of government except all those other forms that have been tried from time to time.“ Denn sie sieht nicht nur die „deutsche Seele“, sondern auch diese „schlechteste Form des Staatswesens“ in Gefahr. Sich auf u. a. Kant, Marcuse und Habermas stützend, sieht sie die Demokratie nicht nur durch politische Extremismen, wie z. B. den militanten Islamismus, sondern u. a. durch die „selbstverschuldete Unmündigkeit” (I. Kant) von Bürgern gefährdet, die aus Bequemlichkeit geneigt und verführt sind, das Geschenk der Freiheit als Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen Speiseeissorten mißzuverstehen. Wiederum Habermas vergleichbar, plädiert sie für ernsthafte Partizipation als wesentlichen Bestandteil jeder Demokratie, die sich durch „mündige Bürger unter Bedingungen einer politisch fungierenden Öffentlichkeit“, realisiere, wodurch sie, die Demokratie, „die politische Gesellschaftsform sei, die „die Freiheit der Menschen steigern“ könnte. (Habermas, Kultur und Kritik) Folgerichtig fordert sie einen zivilen, öffentlichen und ehrlichen Streit, wenn es um öffentliche und, so vermutet man, private Belange geht, hat eine Vorliebe für Leute, die ihre Karten auf den Tisch legen, deutlich sagen, wo sie stehen und mit den Konsequenzen ihrer Überzeugung leben. Daher auch mag sie die Seichten nicht, die im „sowohl als auch“ steckenbleiben und wahlweise mal auf der einen oder anderen Seite kunstvoll argumentieren können, wenn sie es denn überhaupt tun. Dagegen hält sie es eher mit Luthers berühmtem Schlußsatz auf dem Reichstag von Worms, auf dem er nicht, wie erwartet, seinen Glauben widerrief, sondern auf ihm bestandt: […] weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!” Ein Satz, der im kollektiven deutschen Bewußtsein als „Hier stehe ich und kann nicht anders“ aufbewahrt wird.
Die Ironie, ja das amüsant Unterhaltende ihrer Essays soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß es ihr sehr ernst ist mit ihren Themen. Auch hat sie einen feinen Sinn für die Gründe, Hintergründe und Abgründe deutschen Fühlens, Denkens und Handelns, der sich in ihren Essays mit einem heiter sensiblen Sprachbewußtsein mischt. Ich gestehe es, ich bin ein Fan ihrer Texte und wünsche ihnen viele Leser. Chapeau, Madame!
— Wolfgang Müller
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