Aug 2016
“The Stars Look Very Different Today“
Transatlantische Erinnerungen an David Bowie (1947-2016)
von Frederick A. Lubich (Text), Susan Wansink (Fotografie)
„I’m floating in a most peculiar way
and the stars look very different today
…
far above the world / planet Earth is blue
and there is nothing I can do.”
David Bowie, „Space Oddity“
Der kreative Spannungsbogen von David Bowies kometenhafter Karriere findet in der modernen Pop- und Rockgeschichte wohl nicht seinesgleichen. Er hat jedoch in Goethes klassisch-romantischem Weltgedicht „Gesang der Geister über den Wassern“ einen metaphorischen Vorläufer:
„Des Menschen Seele / gleicht dem Wasser,
vom Himmel kommt es / zum Himmel steigt es
und wieder nieder / zur Erde muss es / ewig wechselnd.“
So beginnt die episch-poetische Parabel des Weimarer Dichterfürsten, die den realen Lebenslauf und die imaginäre Seelenwanderung des Menschen zwischen Diesseits und Jenseits im Bild des Wassers und seines ewigen Kreislaufs zwischen Himmel und Erde sinnbildhaft veranschaulicht. Goethes Gedicht schließt mit den Versen:
„Seele des Menschen / wie gleichst du dem Wasser,
Schicksal des Menschen / wie gleichst du dem Wind.“
Seit meinen frühen Lehr- und Wanderjahren durch die Alte und Neue Welt begleitet mich im Geiste dieses wunderbare Gleichnis. Als David Bowie Anfang dieses Jahres starb, erinnerte mich sein Tod und darüber hinaus seine musikalische Evolution einmal mehr an Goethes große, parabolische Weltvision. Und dafür gibt es mehrere transatlantische, deutsch-amerikanische Gründe.
Als ich 1972/1973 als junger Bummelstudent ein Jahr in Newcastle upon Tyne, der alten Hafenstadt im Norden Englands lebte, sah ich David Bowie zum ersten Mal live auf der Bühne. Während er zu jener Zeit auf dem Kontinent noch eher ein dunkler Geheimtipp war, hatte er in England bereits den Status eines leuchtend aufsteigenden Rockstars erreicht. Dennoch war er auf diesem Konzert zum Greifen nah. Er befand sich damals in seiner Ziggy-Stardust-Phase und ich war von seiner evokativen Stimme, seinen exorbitanten Liedern und seinem extravaganten Schauspiel sofort gebannt und begeistert. Ich kann mich noch gut erinnert, wie er sich während des Konzerts auf seinen hohen Plateaustiefeln staksend in sein Mikrofonkabel verhedderte, das ihn langsam aber sicher zu Fall brachte. Er ging jedoch so geschmeidig zu Boden und stand auch ebenso gewandt wieder auf, dass sich mir dieses Bild bald zu einem Sinnbild mit dem entsprechenden Untertitel verdichtete: „Like a fallen angel.“
Ein Vers aus Bowies Liedern, der mir damals besonders nachging, war „after all“, ein Kehrreim des Liedes „After All“ aus dem Album The Man Who Sold the World. In ihm fanden sich so kryptisch-provokative Verse wie “Live your rebirth and do what you will!“ oder auch so exaltiert-ekstatische Visionen wie „We’re painting our faces and dressing in thoughts from the skies, from paradise!”
“Oh no love! You’re not alone“, so beteuerte Bowie bald danach in “Rock ‘n’ Roll Suicide”, dem großen Hit seines nachfolgenden Albums Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars. Spätestens da wusste ich damals als rebellischer, gründlich abgefallener Katholik aus einem tiefgläubigen Elternhaus, dass auch ich einen Schutzengel hatte, der mich verstehen und auf meinem weiteren Lebensweg begleiten würde. Jedenfalls versprach Ziggy Stardust himmelhoch jauchzend:
„I’ve had my share, I’ll help you with the pain,
you’re not alone / just turn on with me …
let’s turn on and be not alone, gimme your hands
cause you’re wonderful, oh gimme your hands.”
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen! Und überhaupt, ganz allgemein betrachtet erwies sich aus objektiver Perspektive Ziggy Stardusts stürmische Welt- und Alleroberung als eine Art musikalische Wiedergeburt des klassisch-romantischen Sturm und Drangs in Form eines rockend verlockenden Sphärengesangs und war somit Teil jener utopischen Energie, die damals eine ganze Jugendgeneration rund um die Welt erfasste und begeisterte. In anderen Worten:
Ziggy Stardust
You were our heavenly high,
our bridge over troubled water – our rainbow in a stormy sky.
***
“Schöne Fremde” heißt ein Gedicht von Joseph von Eichendorff, dessen letzte Strophe lautet:
„Es funkeln auf mich alle Sterne
mit glühendem Liebesblick,
es redet trunken die Ferne
wie von künftigem, großem Glück.“
So wie sich Eichendorff einst in seiner Studentenzeit in Heidelberg in sein Rohrbacher Käthchen verliebt hatte, so sollte auch ich mein Herz in Heidelberg verlieren und zwar an ein kalifornisches Mädchen aus San Diego, das als Austauschstudentin in das alte Lieblingsstädtchen der deutschen Romantiker gekommen war. Als Eichendorffs Liebesgeschichte mit seinem Rohrbacher Käthchen in die Brüche ging, wollte er als Spielmann in die Welt hinausziehen, wie man von seinem Gedicht und mehrfach vertonten Lied vom „Zerbrochenen Ringlein“ erahnen kann. Ja er trug sich bekanntlich sogar mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern …
„Wer in die Fremde will wandern,
der muss mit der Liebsten gehen.“
So beginnt sein Gedicht „Heimweh“ – und damit nicht auch mich das Geschick seiner Heidelberger Liebesgeschichte heimsuchte, bin ich denn bald gern seinem romantischen Ratschlag und somit meiner „Liebsten“ gefolgt, zumal sie gleich zweimal aus dem sonnigen Süden kam, da ihr Vater aus der römischen Campagna stammte. Von Eichendorffs Taugenichts und seiner Sehnsucht nach dem schönen Italien ganz zu schweigen, – diesem wandernden, schlesisch-böhmischen „Haderlumpen“, wie man in meiner ehemals mährischen – und vordem so österreich-ungarischen – Familie derartig fremdländische Gestalten früher zu nennen pflegte.
Auch meine Liebste war ein großer Bowie-Fan und zudem eine begabt-begeisterte Tänzerin und so haben wir beide denn vor unserem Abschied von Heidelberg auch noch eines von Bowies Deutschland-Konzerten im nahen Mannheim besucht. Er war damals in seiner White-Duke-Phase, ein eleganter Eintänzer, leichtfüßig stepptanzend – einem beschwingten Engel gleich – grad so als ging‘s federleicht Stufe für Stufe hinauf ins musikalische Himmelreich.
Bald danach zogen wir in die Neue Welt, wo ich denn in der Tat im Laufe der Jahre nach altem amerikanischem Brauch ein „gypsy scholar“, also ein Wandergelehrter werden sollte. Unsere erste Station war Ithaca, upstate New York. Von dort ging es dann einige Monate später mit dem Greyhound Bus immer weiter nach Westen Richtung Kalifornien. Im gleichen Zeitraum zog Bowie von Los Angeles in die umgekehrte Richtung zurück in die Alte Welt, nämlich nach West-Berlin. Und als wir nach fast einem Jahrzehnt von New York City, uptown Manhattan, fortzogen und nach weiteren Zwischenstationen schließlich in Süd-Virginia landeten, zog Bowie nach New York City, downtown Manhattan.
Passend zum „gypsy scholar“ entpuppte sich meine Liebste – Neue Welt her und alte Welt hin – frei nach Carlos Santana mehr und mehr als meine wanderlustige „gypsy queen“. And between good-for-nothing and good-for-something we were on the road … again and again … easy riders just like way back when! Ergo, gaudeamus … juvenes dum sumus! Et nota bene! Vivat Musica! Vivat Academia! So zumindest hätten es Eichendorffs fahrende Studenten in seiner Taugenichts-Erzählung zum Ausdruck gebracht.
Während all dieser Wanderjahre begleiteten uns Bowies Balladen und künstlerische Eskapaden und natürlich nicht nur uns, seine oft so wildromantischen Weisen wurden vielmehr für Millionen unserer Generation zum Soundtrack unserer mehr oder weniger rast- und ruhelosen Lebensreisen. „Schläft ein Lied in allen Dingen …“, so beginnt wohl Eichendorffs bekanntester Vierzeiler und David Bowie, der irdische Traumtänzer und überirdische Geisterfahrer par excellence, wusste so manch melodischen Funken aus den schlummernden Dingen dieser wundersamen Welt und ihres so unergründlichen Weltalls zu schlagen. Um hier nur einige seiner bekanntesten Hits zu nennen.
„Fame“ aus dem Jahre 1975 ist nicht nur bemerkenswert, weil dieses Lied Bowies erste Nummer eins in den Vereinigten Staaten wurde, sondern auch weil es in Kollaboration mit John Lennon entstanden ist, dem anderen legendären „God of Rock“ und zweiten großen Idol meiner Jugend – der zudem seinen Ruhm mit dem Leben bezahlen musste. Ein Märtyrer seiner Musik und Prophet einer besseren, heileren Welt.
„Rebel, Rebel“ war das subversiv internationale Fanal zur Rebellion gegen die moralische Autorität der älteren Generation, eine Parole, die vor allem vielen von uns jungen Deutschen der ersten Nachkriegsgeneration besonders imponierte, die wir uns in den späten Sechziger und frühen Siebziger Jahren in ganz West-Deutschland zur sogenannten „Außerparlamentarischen Opposition“ formierten und A. S. Neills Schriften zur anti-autoritären Erziehung zu einem der Gründertexte des ersehnten New Age deklarierten.
„Fashion“, vielleicht das bekannteste Beispiel für Bowies Glam-Rock-Stil, wurde zum Hohen Lied auf unsere diversen Modetorheiten, die radikal mit allen Konventionen samt ihren gesellschaftlichen Geschlechtsdefinitionen brachen. Als zum Beispiel Bowie bei seinem Auftritt in der New Yorker TV-Show „Saturday Night Live“ einmal ein Kleid trug, reklamierte er für diesen letzten Modeschrei als Vorbild den deutschen Dadaismus und insbesondere eine Photo-Montage des Weimarer Collage-Künstlers John Heartfield. Bowie hat in der Frühphase seiner Karriere wie kein anderer Star der Rockmusik mit seiner androgynen Erscheinung und seinen exotischen Verkleidungen die erotische Freizügigkeit und sexuelle Experimentierfreudigkeit unserer Jugend verkörpert. So wurde er zur wandelnden Ikone der post-modernen Parole „Anything Goes“.
Und last but not least: „Let’s Dance“. Das war Anfang der Achtziger Jahre die Signature-Serenade der noch jungen Dekade, das war noch einmal der euphorische Aufgesang und – im Zenit unserer Zeit – bereits der elegische Abgesang, der wehmütige Schwanengesang unserer Jugend, die sich mehr und mehr dem Ende zuneigte:
„Let’s dance, put on your red shoes and dance the blues,
Let’s sway, under the moonlight, this serious moonlight …”
“Serious Moonlight” hieß denn auch die überaus erfolgreiche, transatlantische Konzerttour, die Bowie im Jahr 1983 durch zahlreiche Länder Europas und Amerikas führen sollte. Wenn es für die sogenannten Neo-Romantiker der Achtziger Jahre eine Hymne gab, dann dieses herrliche Hohe Lied auf den Tanz und Taumel der Jugendzeit. Und welch inklusives Tanzvergnügen obendrein, schließt doch der Kehrreim auch noch alle Möchtegerntänzer großherzig mit ein:
„Let’s sway, sway through the crowd to an empty space …
and if you should fall, into my arms
and tremble like a flower,
let’s dance.“
Yes, let’s dance! Far out! We all have a chance!! Let’s dance with the stars, let’s dance with the ever changing moon … youth is an eternal honeymoon …
Sternstunde, Mondstunde … so zeitlos ist das Kosmisch-Runde! David Bowie selbst verkörperte Glanz und Glamour des Tanzes vielleicht am galantesten, als er zusammen mit Tina Turner das Tanzbein schwang, wie Aufnahmen davon noch heute anschaulich vor Augen führen können. Wer weiß, vielleicht war ja dieser Pas de deux ein modernes Déja-Vu der biblischen Sage von König Salomon und seiner Hochzeit mit der nubischen Königin von Saba. Was würde wohl Iman, das Super-Model aus Äthiopien zu diesem alttestamentarischen Flashback sagen? Sollte sie doch Bowies letzte Traum- und Ehefrau werden … his modern-day „Queen of Sheba“… and he her sparkling Come-Back-King!
The wisdom of Solomon, the world as will …„ forget all I’ve said, please bear me no ill“. So Bowie in seinem Song “After All”. Bowie hat mehrmals davon gesprochen, dass er bisweilen selbst seine eigenen Texte nicht verstünde. Entsprechend hat er vor allem in seiner Frühphase zu Zeiten seines exzessiven Kokain-Konsums auch hin- und wieder höheren Unsinn von sich gegeben. Zum Glück, denn sonst wäre er ja tatsächlich vollkommen gewesen, ein wahrer Übermensch, wie er in fragwürdigen Büchern steht.
Schon wenige Jahre später hat Bowie denn auch seinen politisch problematischsten Kommentar aus jener Zeit explizit dementiert. Jedoch erst in jüngster Zeit ist auch die Tatsache weiter bekannt geworden, dass er vor allem in seiner Jugend von der schleichenden Befürchtung heimgesucht wurde, dass ihn das gleiche Schicksal ereilen könnte, dem schon andere Mitglieder seiner Verwandtschaft erlegen waren, nämlich dem Familienfluch einer bipolaren Geisteskrankheit. Sein Halbbruder zum Beispiel schien seinen inneren Dämonen nur Herr werden zu können, indem er seinem noch so jungen Leben schließlich ein gewaltsames Ende setzte. Also auch Bowie einmal mehr – Engel und Dämonen her oder hin – eine mögliche Fallstudie für die alte Schizo-Formel von Genie und Wahnsinn? Oder vice versa – per aspera ad astra?!
Ausstellung in den Arkaden am Potsdamer Platz,
Sommer 2016.1
Doch zurück ins bodenständige, wenn auch gespaltene Berlin. Die elektronischen Innovationen der Techno-Musik, wie sie deutsche Komponisten wie Karlheinz Stockhausen und vor allem deutsche Bands wie Kraftwerk und Tangerine Dream in den Siebziger Jahren popularisiert hatten, waren mit ein Grund, warum Bowie in jener Zeit nach West-Berlin zog. In kreativer Kollaboration mit Brian Eno von der britischen Band Roxy Music sowie Iggy Pop, dem Pionier des amerikanischen Punk, sollte Bowie in Berlin neue musikalische Bahnen brechen, die vor allem in den drei Alben der sogenannten „Berliner Trilogie“ (Low, Heroes, Lodger) ihren musikalischen Ausdruck fanden. Der bekannteste Song aus jener Periode ist sicherlich „Heroes“, in dem Bowie in einer Refrain-Variation so überschwänglich singt: „I, I will be king and you, you will be queen.“
Der englische Text unter dem Bild von David Bowie lautet:
A glance through the window of the Hansa Studio onto the Wall at Potsdamer Platz
inspired David Bowie to write one of his greatest songs, ”Heroes” in 1977. In the song,
two lovers meet here regularly. He sings: “I, I can remember / standing by the wall /
and the gun shot above our heads / And we kissed, as though nothing could fall.”
Bowie hatte dieses Lied zwei Jahre vor dem Mauerfall auf einem Konzert in West-Berlin erneut gesungen und noch Jahre später sollte er sich daran erinnern, wie sehr ihn das Schicksal der Menschen in der geteilten Hauptstadt Deutschlands immer wieder berührt hatte.
„Helden“ so lautet zufälligerweise auch der Titel einer Reihe von siebzig großformatigen Gemälden, die Georg Baselitz als junges Mitglied der neo-expressionistischen Gruppe „Neue Wilde“ Mitte der Sechziger Jahre gemalt hatte. Diese „Helden“ wurden im Laufe der Zeit zu ikonischen Protagonisten der deutschen Nachkriegskunst und möglicherweise haben sie auch Bowies “Heroes“ inspiriert, zumal eine von Baselitz’ Helden-Figuren tatsächlich den Namen „Rebell“ trägt. Zudem war Bowie bekanntlich auch sehr an den bildenden Künsten interessiert sowie selbst als Maler ambitioniert.
Als Baselitz 1969 in dieser so bewegten Wendezeit der ersten Nachkriegsgeneration seine Gemälde auf den Kopf stellte, erregte er damit im damaligen Kulturbetrieb beträchtliches Aufsehen. Kulturgeschichtlich betrachtet waren diese verdrehten Köpfe auch eine ikonische Reverenz an den romantischen Topos der „verkehrten Welt“. Heute zählt Baselitz weit über Deutschland hinaus zu den bedeutendsten bildenden Künstlern seiner Generation, wie auch die diesjährige Wanderausstellung seiner „Helden“-Serie durch verschiedene Länder Europas erneut zeigt. Sollten seine verkehrten Helden in der Tat auch Bowie inspiriert haben, dann wären die folgenden Verse aus seinem letzten Album Blackstar sicherlich auch eine späte Reverenz an den deutschen Meister des kunstvollen Kopfstands: „We were born upside down … born the wrong way ‘round“. Oder ist es eine parodische, mock-heroische Reminiszenz an seine in seiner Jugendzeit so befürchtete bi-polare Geisteskrankheit? Oder einfach nur Anti-Hero-Vertigo?
Von der Heldenverehrung zur Heldenverkehrung: Vielleicht ließ sich Baselitz in der Umbruchszeit der späten Sechziger Jahre auf spielerische Art und Weise auch vom antithetischen Prinzip der Hegelschen Geschichtsphilosophie inspirieren. Wenn alle Helden dieser Welt auf dem Kopf stehen, dann macht wohl auch – ultima ratio – der Weltgeist einen entsprechend dialektischen Salto. These hin oder her, Tatsache ist jedenfalls, dass viele der 69er Rebellen damals viel lieber Helden der Liebe als Helden des Krieges gewesen waren, ganz in der Nachfolge der jugendlichen Weltanschauung „Make Love Not War“. Dieser verkehrte Schlachtruf ist heute angesichts der Eskalation internationaler Terrorattacken aktueller denn je. Während sich die einstigen ideologisch-militärischen Konfrontationen zwischen Ostblock und Westblock aufgelöst haben, beginnen sich nun neue Konflikte zwischen Abendland und Morgenland aufzutun, deren weltweiter Ungeist geradezu gespenstisch immer mehr unserer Gesellschaften diesseits und jenseits des Atlantiks heimzusuchen beginnt.
Möglicherweise hatte Bowie auf seinem Berliner Album Lodger in seinem Lied „Yassassin“, einer türkischen Reggae-Fusion, bereits diesen am Horizont der Jahrtausendwende sich abzeichnenden Kampf der Kulturen vorausgeahnt, diesen millennarischen „Clash of Civilizations“, wie ihn Samuel Huntington, der gelehrte Mauerschauer aus der Hochburg von Harvard, wenige Jahre vor dem Sturzflug der selbsternannten Gotteskrieger in New Yorker World Trade Center so bezeichnend und unheilvoll vorausgesehen hatte. In „Yassassin“ machte sich Bowie zum Sprachrohr der türkischen Einwanderer in West-Berlin, wenn er in arabesk-melismatischen Modulationen singt:
„We came from the farmlands / to live in this city,
we walked proud and lustful / in this resonant world.
You want to fight / but I don’t want to leave / or drift away”.
Berliner Mauerrelikt
Pegida, Pegida, ein Gespenst geht wieder um in Europa!
„Scary monsters … keep me running … running scared.”
David Bowie, “Scary Monsters”
Menetekel
What is the writing on that wall?
Babel, babble, ruins and rubble!
Siehst du den Halbmond über Soho,
über der Vorstadt von Wien, über dem Kreuzberg von Berlin?
Siehst du den Vollmond von Alabama im Schleiertanz der Luna Maya?
Or is it Astarte on a starry night? The Celestial Feminine doing her magic work?
Half moon to full moon, tripping and stripping across the sky
from ancient Babylon to modern Berlin-Babelsberg!
Or think Goethe’s West-Eastern Divan!
Just, imagine, Orient meets Occident:
“And the world will live as one. “
An impossible dream?
Hello John Lennon!
Good Bye Lenin!
Station to Station, Bowies Album aus seiner zunehmend schwierigen Zeit in Los Angeles beschreibt bereits im Titel den menschlichen Lebensweg als eine Reihe leidvoller Wegstationen. Dieser Vorstellung liegt als wesentliches Vorbild die Passionsgeschichte Christi und ihre Kreuzwegstationen hinauf zum Kalvarienberg zu Grunde. Wohl kein anderer Rockmusiker hat diese so doppeldeutige „Passion“, diesen so widersprüchlichen Spannungsbogen zwischen Leid und Leidenschaft, kreativem Selbstentwurf und potentieller Selbstzerstörung weiter gespannt und dargestellt als David Bowie.
In seinen permanenten Metamorphosen wurde er zum exemplarischen Protagonisten der postmodernen Welterfahrung, die dem ludischen Moment der spielerischen Selbstinszenierung eine zentrale Bedeutung beimisst. Und in seinen kosmischen Eskapaden von Ziggy Stardust bis zu Blackstar, ihren himmlischen Irrfahrten und irdischen Heimreisen spielte er auch immer wieder auf jene Götter- und Gottesdämmerung, jenen zunehmend verlorenen Horizont an, den Georg Lukács einst so denkwürdig die „transzendentale Obdachlosigkeit“ unserer modernen Westlichen Zivilisation genannt hatte.
In dieser endzeitlichen Wendewelt scheint auch die christliche Passionsgeschichte vollkommen auf den Kopf gestellt. Aus dem irdischen Jammertal ist das irdische Freudental geworden, oder dialektisch genauer formuliert, die Welt als glücksverheißender Venusberg. Alsdann, Glück auf, ihr Mühseligen und Beladenen, kommet zu Hauf ins Reich von dieser Welt! Und eilt, es bleibt nicht viel Zeit, denn die Endstation Sehnsucht ist die weltliche Glückseligkeit! In anderen Worten, das Spiel ohne Grenzen, die kunterbunte Spassgesellschaft: Paradise Now! Remember “We’re painting our faces”! So don’t forget it – the sky is the limit! And life is a cabaret! Entrez, entrez! Welcome! Willkommen!
Ein Leben lang war Bowie von der Kunst des Schauspiels fasziniert und so trat er denn auch auf dem New Yorker Broadway auf, wo er als blendender Beau der Rockmusik unter anderem ausgerechnet in der Rolle des verunstalteten „Elephant Man“ brillierte. Darüber hinaus hat er in rund dreißig Spielfilmen immer wieder andere Seiten seiner mannigfaltigen Schauspielkunst zum Besten gegeben. Im Film Just a Gigolo aus dem Jahre 1978 spielte er zum Beispiel einen preußischen Offizier, der nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin zurückkehrt. Da er keine Arbeit findet, verdingt er sich als Gigolo in einem Bordell unter dem Management einer Baronin, die von Marlene Dietrich gespielt wird, dem legendären Blauen Engel des Weimarer Cabarets und der letzten Grande Dame von Hollywoods sagenhaften „Silverscreen Goddesses“. Kurz und gut, Deutschlands einziger Weltstar und Englands einzigartigster Rockstar geben sich ein wunderbares Rendezvous.
„Berlin-Babylon“, das war sicherlich der bekannteste Künstlername der Weimarer Republik und ihre fulminante Kultur inspirierte auch immer wieder Bowies eigene Projekte. Allen Kunstwerken voran Fritz Langs Metropolis, das monumentale Opus Magnum des Weimarer Stummfilms und seiner vielbeschworenen „Dämonischen Leinwand“. Seine expressionistische Ästhetik hatte bereits Bowies Album Diamond Dogs aus dem Jahr 1974 nachweislich beeinflusst. Metropolis, das war die Matrix der westlichen Moderne, die exemplarische Cross-Cultural Montage, die in ihrem Unterbau das subversiv-revolutionäre Berlin beherbergte und in ihrem Überbau das triumphal-spektakuläre Manhattan, das seine ersten, atemberaubenden Wolkenkratzer zur Schau stellte.
Vom zwielichtigen Zauber des Lichtspieltheaters: Wenn man in der deutschen Sprache den Spielfilm auch als Lichtspiel bezeichnet, dann beschreibt diese Wortbildung nicht nur das Licht des gegenwärtigen Lebens, sie beschwört auch bereits – ex negativo – das Dunkel des kommenden Todes herauf. In diesem Sinne offenbart sich in der Retrospektive Bowies schauspielartiger Lebenswandel als ein überaus facettenreiches Kaleidoskop, das sich bis zum Schluss zu einem immer dunkler funkelnden Gesamtkunstwerk verdichtet.
„At the center of it all“, so erklingt ein enigmatischer Refrain in dem Lied “Blackstar”. Nachdem Bowie, der Exzentriker par excellence, von seinen lebenslangen Konzertreisen und zahlreichen musikalischen Expeditionen heimgekehrt ist, sucht er nun am Ende seines Lebens das sagenhafte Zentrum aller Existenz, geradeso als wäre er auf den Spuren von Goethes Faust und seiner letzten, großen Frage, nämlich was diese Welt „im Innersten zusammenhält.“
***
Blicke ich heute von Blackstar, Bowies letzter, schon sehr verfinsterter Sternenwarte, zurück auf mein eigenes Leben, so wird mir auch wieder bewusst, wie sehr er mich vor allem in meiner jugendlichen Erlebniswelt durch seine zauberhafte Lebenskunst immer wieder beeindruckt und beeinflusst hatte. Insbesondere sein Lied „Rock‘n’Roll Suicide“ schien es mir damals sehr angetan zu haben. Es war einer der bekanntesten Songs auf dem Album The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars und hatte mich zu Beginn meiner Heidelberger Studentenzeit zu mehreren Texten animiert. So heißt es zum Beispiel in Bowies Lied:
The wall-to-wall is calling, it lingers, then you forget …
and the clock waits so patiently on your song ….”
Ich meine, diese Verse kehren mehr oder weniger erkennbar wieder in meinem damaligen Text
“Trip Poem“
„Seltsam, wenn die Tage zerblättern
und Stunden aus deinen Worten tropfen,
Gespenster in deinem Geiste klettern
und an deine Ohren klopfen.
Gedanken lauern in den Ecken
und starren deinen Schädel an,
die Welt sie in den Kopf dir stecken,
um dich zu drehen im Weltendrahn.“
Wohin wollte diese innere Reise nur? Von Bodenhaftung keine Spur! Es blieb nur zu hoffen, dass im Hirnkastel dieses jungen Zauberlehrlings nicht alle Schrauben locker waren. Jedenfalls endete dieser poetische Probeflug durch Welt und All mit der Schlussstrophe:
„Vom Himmel trieft Unendlichkeit
in silbergrauen Schwaden,
der Erde Allverlorenheit,
sie geht ins Blaue baden.“
So viel zu Ziggy Stardust‘s Space Cadet aus „Highdelberg“, wie wir das alte Neckarstädtchen zu unserer Zeit auch gern genannt hatten.
Am offenkundigsten scheint mir jedoch die Inspiration durch Bowies „Rock ‘n’ Roll Suicide“ gleich zu Beginn seines Liedes, wo es heißt:
„Time takes a cigarette, puts it in your mouth,
you pull on your finger … then your cigarette”
Diese Verse kehren in meinem Text unter dem Titel “Duft der großen, weiten Welt“ wieder als:
„Das Leben ist wie eine Zigarette,
die Seele atmet ihr Nikotin
und qualmt in einer ewigen Kette
süchtig nach einem tieferen Sinn.“
Diesem Vierzeiler folgt der Kehrreim „Wir gehen meilenweit im Stil der neuen Zeit, oh frohen Herzens genießen“, wobei es sich offenkundig um eine Parodie damaliger Werbetexte für diverse Zigarettenmarken handelte. Aus literaturhistorischer Retrospektive gibt sich dieses Reklame-Pastiche als weiteres Remake zu erkennen, nämlich als eine Art Wiederkehr von Eichendorffs vagantischer Euphorie in Gestalt von Heinrich Heines romantischer Ironie.
Spass muss sein, doch war in meinem Text bald Schluss mit Lustig. Dass es mit meiner fidelen Rauch- und Wanderlust ein fatales Ende nehmen könnte, schien mir schon damals zu dämmern, wie die letzte Strophe dieses Textes zu erkennen gibt:
„Die Gräber sind die Aschenbecher
für die einst abgebrannten Kippen,
ins Jenseits eingebrannte Löcher,
veräschert die einst roten Lippen.“
Und so ging’s moribund und schwumerant ins sagenhafte Totenland. Mein Heidelberger Freund Gerald Uhlig, der damals im Wiener Max-Reinhardt-Seminar die Schauspielkunst erlernte, hatte jedenfalls bald meine zwei Texte vertonen lassen und sie seinerseits dort auf seiner Schallplatte Der Kinderkönig mit entsprechend kakanischer Morbidezza zum Besten gegeben. Das dekadente Ambiente hatte er unter anderem von Hugo von Hofmannsthal abgestaubt, in dessen lyrischem Versdrama „Der Tod und der Tor“ er zu jener Zeit Claudio, den jungen Edelmann, auf einer Wiener Bühne gespielt hatte.
Jahrzehnte später sollte Gerald, der „Kinderkönig“ als Mitbegründer und baldiger Alleinbesitzer des Berliner Café Einstein Unter den Linden weit über Deutschlands vereinte Hauptstadt hinaus immer wieder sensationelle Schlagzeilen machen, nicht zuletzt mit der Desaster-Diagnose, dass er an der tödlichen Krankheit Morbus Fabri erkrankt sei. Gefolgt vom Mirakel seiner prekären Rekonvaleszenz.
Und auch ich ließ mich nicht lumpen und hatte auch Grund genug zum Hadern! Fast zur gleichen Zeit, als Geralds Erbkrankheit bekannt wurde, stellt man bei mir Zungenkrebs fest. Dessen Mortalitätsrate: Fünfzig Prozent! Die Ärzte waren sich einig, dass er eine Spätfolge meiner jugendlichen Qualmerei war, der Tribut an unzählige, filterlose, selbstgedrehte Kippen … Hello, “Kinderkönig”, if you are king, then I’ll be queen! Or to be more precise, the Drag-Queen of Nicotine!
Oh Fortuna velut Luna: Gerald konnte dem Sensenmann bereits mehrfach in gelungenen Operationen von der Schippe springen und auch ich streckte Dank der modernen Chirurgie dem alten Gevatter auf Tod und Teufel komm raus immer wieder erfolgreich meine widerspenstige Zunge heraus. – Und David Bowie musste an seinem Krebs sterben. Warum hat er seinen Leiden erliegen müssen? Warum können wir sie bislang überstehen? Warum wandeln die einen frei nach Bertolt Brecht im Dunkeln und die andern im Licht? Und da wir schon beim Thema sind, warum überhaupt immer wieder dieser alles vernichtende Todesstreifen?
Deadlines here and deadlines there … from the universe down to every university … and everywhere and far beyond … will we ever be free of death and its timeless, universal bond?
Die Fragemauer des Vaterlandes
Why all those walls, always rising and falling? From Jerusalem to Jericho and back to the future of Arizona, Mexico? Why all those joys and fears? Why so much blood and sweat and so many tears? And why time and space and then again all those dark holes? …Why you and not me? … It all depends for whom the bell tolls! Yes …
I remember my ding-dong suicide song!
But why are some of us already dead and some are still alive?
Why is one of us Mother Teresa and – vice versa – the other one is Mack the Knife?
And time takes another cigarette: Wann immer ich in den letzten Jahren in Berlin weilte, wohnte ich in Geralds Berliner Wohnung. Wie oft saßen wir dann in seiner Küche oder in seinem Kaffeehaus zusammen und debattierten und amüsierten uns wie eh und je. Jedoch wir spürten auch mehr denn je die alte Wiener Weise vom Tod, jenes leise, untergründige Beben – und wir wollten doch jetzt viel lieber die neue Berliner Weise vom ganz alltäglichen Überleben. Galgenfrist und Galgenhumor? Vor dem Tod ist jeder ein trauriger Tor! Oder frei nach Johann Nestroys Figuren-Fundus – ein armer Lumpazi Moribundus.2
***
Vom Mummenschanz zum Totentanz: In seinem letzten Album Blackstar hat Bowie seinen kommenden Tod mehrfach in makabren Visionen inszeniert und in gespenstischen Sketchen phantasmagorisch choreographiert. So sind zum Beispiel im Video zu Blackstar unheimliche, vogelscheuchenartige Gestalten zu sehen, zerlumpte Galgenvögel, die an ihre Gerüste gebunden auf grimmig-groteske Weise die drei Gekreuzigten auf Golgatha heraufbeschwören, wobei dieses düstere Nachtstück von einem gregorianisch anmutenden Gesang mit dem monoton-ominösen Kehrreim begleitet wird: „On the day of execution.“ In diesen halluzinatorischen Metamorphosen taucht auch immer wieder ein perlengeschmückter Totenkopf auf – Damien Hirst lässt grüßen – , bis sich schließlich diese schauderhaften Schimären zu einer Art allegorischen „Dance Macabre“ verdichten, in dessen dekadent-moribunden Tingeltangel sich der Tanz des Lebens in einen wankend schwankenden Totentanz verwandelt hat.
Wie kann ich, der ich in meiner Kindheit noch zutiefst im festen Glauben an die Leidensgeschichte Christi erzogen worden war, in meinen dunkleren Stunden dieses kalvarische Martyrium, dieses kryptisch-pandämonische Welttheater nachempfinden! Ölberg, Schädelstätte, Heulen, Zittern und Zähneklappern … frühe, traumatische Kindheitserinnerungen, uralte, kollektive Rückbesinnungen … sie alle starren meinen, sie alle „starren deinen Schädel an“. Und eine der spukhaften Vogelscheuchen streckt obendrein dem Betrachter am Ende auch noch die Zunge heraus …
Tongue in cheek? You pick and poke!
Don’t worry, be happy, it’s just another inside joke!
Im Video zu „Lazarus“ liegt Bowie mit verbundenen Augen auf dem Krankenbett oder er geistert durch unheimliche Räume und gespenstische Weiten. Es ist ein schwarzromantisches Nachtstück sondergleichen. Eine Szene zeigt seinen todkranken Körper in offensichtlicher Levitation, eine andere in scheinbarer Astralprojektion. Im Neuen Testament verkörpert Lazarus sowohl den Schwerkranken schlechthin, als auch den Wiederauferstandenen von Gottes Gnaden. Als Symbolfigur dieser christlichen Resurrektion gehört die Lazarus-Gestalt denn auch zu den frühesten Darstellungen der ekklesiastischen Ikonographie. Bowie spinnt diesen frühkirchlichen Wunderglauben auf seine Weise weiter, wenn er von sich als sterbenskrankem Lazarus sagt: „Look up here, man, I’m in danger, I’ve got nothing left to lose”, um dann das christliche Credo der Wiederauferstehung am Ende des Liedes zu verwandeln in das Crescendo eines aufsteigenden Singvogels:
„Oh I’ll be free / just like that bluebird,
Oh I’ll be free / ain’t that just like me?”
***
Non scholae sed vitae discimus – oder die Parabel vom modernen Paradigmenwechsel: So wie die vaterrechtliche Weltordnung in der spirituell-transzendenten Dreieinigkeit von Gottvater, Sohn Gottes und Heiligem Geist gipfelt, so gründet die mutterrechtliche Weltvorstellung in der sensuell-immanenten Dreieinigkeit von Großer Mutter, göttlicher Tochter und einem zwischen Diesseits und Jenseits vermittelnden Geist. Diese Triade hatte im antiken Modell der Eleusinischen Mysterien in Demeter, Persephone und Hermes ihre rituell-mystagogische Verkörperung gefunden. Die archaische Imago der Magna Mater als symbolische Cornucopia, als überquellendes Füllhorn von Wohlstand und Weisheit, im Sinnbild der Alma Mater als Schutzpatronin unserer Universitäten hat dieser matriarchale Mythos bis heute überlebt.
Womb and tomb, light and darkness of the moon: In Bowies Blackstar-Panorama mitsamt seinen plakativen Vollmond-Kulissen wird diese muttermythische Matrix unserer prä-patriarchalen Kulturgeschichte noch einmal evokativ in einem pantomimischen Frauenreigen heraufbeschworen, in dem der Zauberkreis von Schöpfung und Zerstörung, Mutterschoß und Erdengrab, in anderen Worten, das fruchtbar-furchtbar Große Weibliche und sein uraltes Weltgesetz des Ewigen Stirb und Werde seine heimlich-unheimliche Veranschaulichung findet. Orcus, orcus, uterus – hocus, pocus – hic est corpus.
„Music is your only friend, until the end …“ so raunte schon Jim Morrison von den Doors aus Los Angeles ehe sein ausschweifendes Leben in Paris sein viel zu frühes Ende fand. Im Gegensatz zu ihm, dem dunkel befeuerten doch so bald ausgebrannten Rockstar, verkörperte David Bowie ein halbes Jahrhundert lang mit seinen verschiedenen Spielfiguren immer wieder den Zeitgeist im Wandel der Zeit, ja, er war wohl sein vielseitigster Ausdruck. Und dies sowohl als Person im antiken Sinne von „persona“, als theatralische Maske, durch die er seine Ideen und Phantasien artikulierte und personifizierte, wie auch als musikalisches Medium, das sich wie wohl kein anderer Interpret der modernen Musik mit ihren diversen Traditionen kreativ auseinandersetzte, angefangen von Jazz, Soul, Lounge, Rhythm and Blues über Rock and Roll, Glam Rock und Psychedelic Funk zu Techno, Reggae, Disco, Hip Hop und Post-Punk, um hier nur die wichtigsten aufzuführen. Gemeinsamer Nenner seiner Kompositionen und Interpretationen war eine äußerst sinnliche Sensibilität, die musikalisch immer wieder changierte zwischen stilistischer Radikalität und melodischer Sentimentalität.
***
„Where Are We Now”, so heißt Bowies vorletzter Single aus dem Jahr 2013, auf der er bereits sein nahendes Ende zu ahnen scheint. In dieser melancholischen Ballade blickt er auf sein Leben zurück und erinnert sich dabei geradezu ausschließlich an seine Zeit in Berlin, wo einst auch seine künstlerische Laufbahn – so der Konsensus seiner Kenner und Kritiker – ihren kreativ-produktiven Höhepunkt erreicht hatte.
„Where Are We Now?“
„Had to get the train
from Potsdamer Platz
…
sitting in the Dschungel
on Nürnberger Straße
…
a man lost in time
near KaDeWe
…
twenty thousand people
cross Bösebrücke.”
Bahnhof am Potsdamer Platz
“Sei allem Abschied voraus …” heißt es in Rilkes “Sonette an Orpheus” und Bowie scheint auf dieselbe Erfahrung jener hermetisch verschlossenen Unterwelt anzuspielen, wenn er seine wehmütige Stimme erhebt und eine orphisch-odysseische Unterwelt heraufbeschwört:
„You never knew that / that I can do that,
just walking the dead /… / a man lost in time. ”
That is the journey’s ultimate part:
Nostos, Nekyia, homerische Heim – und Totenfahrt.
Nürnberger Straße in der Nähe des versunkenen Dschungels
„Sitting in the Dschungel“: Die Gegend rund um die Nürnberger Straße war schon im Wilhelminischen Kaiserreich und mehr noch in der Weimarer Republik ein bekanntes Künstler- und Amüsierviertel. Im Jahr 1978 öffnete der Dschungel in der Nürnberger Straße 53 seine Tür und war zur Zeit Bowies in West-Berlin der angesagteste Tanz-Club und beliebteste Treffpunkt der kreativen Bohème und internationalen Avantgarde. Hier trafen sich von Grace Jones bis zu Frank Zappa alle, die in der Jet-Set-Welt der Rockmusik und des Show-Business Rang und Namen hatten. Bald nach dem Mauerfall, als sich die Hipsterszene Berlins in den östlichen Teil der Stadt verschob, ging allerdings das legendäre Lokal recht schnell sang- und klanglos unter.
Nicht zufällig wurde im Tresor, der bald danach zum bekanntesten Nachfolgeclub des Dschungels avancierte, Techno zum „Sound der Wende“, der sich im Laufe der Jahre zudem mit weiteren Innovationen aus den Musikszenen von Detroit und Chicago angereichert hatte, sodass eine regelrechte transatlantische, deutsch-amerikanische Klangfusion entstanden war.
„People cross Bösebrücke …“ Die Bösebrücke hat trotz ihres Namens in der deutschen Geschichte erstaunlich viel Gutes geleistet. Ursprünglich als Hindenburgbrücke bekannt, erreichte sie am Tag des Mauerfalls weltweite Berühmtheit als erster Übergang zwischen Ostberlin und Westberlin. „Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehen.“ So hatte einst Gottfried Benn, der begnadete Dichter des deutschen Expressionismus und unselig Verführte des deutschen Faschismus, das Geheimnis des Lebens im Gleichnis zu fassen versucht. Von Brückenkopf zu Brückenkopf, was bleibt, glaubt man unseren sinnbildlichen Verfassern, ist der Gesang der Geister über den Wassern.
Die Bösebrücke, auch bekannt als Bornholmer Brücke
„Lost in time near the KaDeWe …“ Das Kaufhaus des Westens ist seit rund hundert Jahren der größte Konsumtempel Europas. Er hat auch den Zweiten Weltkrieg überstanden und so steht er bis heute als sprechendes Wahrzeichen unserer westlichen Überflussgesellschaften oder – mythisch-symbolisch gewendet – als steingewordene Cornucopia der Alma Mater.
Das KaDeWe am Kurfürstendamm
So sehr David Bowie in früheren Zeiten dem Kokain-Konsum frönte, so war er sich gleichzeitig auch schon früh der Flüchtigkeit allen Rausches, der Vergänglichkeit allen mondänen Glanzes und glamourösen Starkults vollkommen bewusst: „Fame puts you where things are hollow“ singt er in „Fame“, oder ins gebrochene Vagantenlatein gewendet:
Urbi et orbi! Sumus vagabundi!
Tempus fugit … sic transit gloria … et figura huius mundi!
„Memento mori“ – et vice versa – „carpe diem“, das waren jedenfalls die zwei zentralen Mottos des barocken Zeitalters, die wesentlichen Leitmotive seines so lebenssüchtigen wie todesbesessenen Zeitgeistes. Kein Lied David Bowies beschwört letzteres expliziter und emblematischer herauf als
„Ashes to Ashes“
„Funk to funky, we know Major Tom’s a junkie,
strung out in heaven’s high, hitting an all-time low.”
Das dazu gehörige Video zeigt Bowie im Pierrot-Kostüm am Meeresstrand und eine der Bildsequenzen lässt ihn tiefer und tiefer in den Fluten versinken. Das ist der letzte, lustig-traurige Kehraus unserer viel zu schnell verflossenen Jugendzeit und ihres so berauschenden Elixier aus “Sex and Drugs and Rock‘n’Roll”. Das war die zauberhafte Dreieinigkeit unserer einst so romantisch-rebellischen Burschen- und Mädchenherrlichkeit. Doch jene Zeit ist endgültig hin. Drum noch einmal zurück ins etwas dauerhaftere Berlin!
Vom mesopotamischen Turmbau zu Babel bis zu Berlin, der Hochburg des nationalsozialistischen Wahnsinns, wohl keine anderen Großstädte der Weltgeschichte in Mythos und Moderne haben solch vergleichbaren Hochmut entfaltet und entsprechende Niederlagen erfahren. Und nach der Zerstörung des faschistischen Berlins kam seine weitere Selbstzerstörung durch die kommunistische Teilung der Stadt seitens seines Ost-Berliner Regimes. „Auferstanden aus Ruinen“, dieses laute Loblied Ost-Deutschlands auf sich selbst wurde – entgegen all seinen utopischen, dialektisch-materialistischen Aspirationen – zum stummen Klagelied über all jene, die an der Mauer ihr Leben lassen mussten.
Bowie kannte den Potsdamer Platz, einst der metropolitische Mittelpunkt Berlins, nur als urbane Brache entlang des Eisernen Vorhangs. Auch Wim Wenders Film Der Himmel über Berlin aus dem Jahr 1987 zeigt diese Sperrzone noch immer als Ground Zero von Deutschlands gefallener und gespaltener Hauptstadt. Als Wings of Desire wurde Wenders Fantasy Drama in Amerika und vor allem in New York zum Kultfilm des neuen deutschen Kinos. Ich kann mich noch gut an die langen Schlangen ums Filmtheater am Lincoln Center in Mid-Town Manhattan erinnern.
Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands haben die renommiertesten Baumeister der Welt von Helmut Jahn und Daniel Libeskind über Renzo Piano und Norman Foster bis zu Frank Gehry und I. M. Pei das Areal vom Pariser Platz bis zum Potsdamer Platz wieder belebt und zum Teil völlig neu aufgebaut. In ihren architektonisch-kosmopolitischen Visionen kristallisierte sich dabei das Baumaterial Glas immer wieder als markanteste Bausubstanz heraus.
Sony Center, Potsdamer Platz: Rise and Fall and Fall and Rise
Berlin, Berlin – New York, New York: In den achtziger Jahren konnte man in Manhattan immer wieder hören, dass sich New Yorker von allen Großstädten der Alten Welt dem modernen Berlin am nächsten fühlten. Diese Wahlverwandtschaft könnte auch den damaligen Erfolg von Wenders Berlin-Film in New York miterklären. Eine weitere, wichtige Rolle spielen sicherlich die zahlreichen kulturellen Parallelen zwischen dem Weimar der Zwanziger Jahre und dem New York der „Roaring Twenties“. Fritz Langs Metropolis und George Gershwins Rhapsody in Blue, die grandiose Hymne auf das „Jazz Age“ der Neuen Welt, stellen gewissermaßen zwei repräsentative, musikalisch-cinematographische Manifestationen dieser modernen Sensibilität und ihrer experimentellen Kreativität dar. David Bowie, der in beiden Städten lebte und wirkte, spielte in diesem Sinne eine kongeniale Vermittlerrolle.
Der Himmel über dem Potsdamer Platz: Step dancing into a rhapsody in blue
Und auch den Freiherrn von Eichendorff sollte man bei dieser Gelegenheit nicht ganz vergessen. Jahrelang hatte er sich hier in Berlin einst als Geheimer Regierungsrat in preußischen Staatsdiensten nützlich gemacht. Eichendorff, ick hör dir trapsen. Nächtens heimlich her und hin, aber vielleicht bilde ich’s mir ja auch nur wieder mal ein, diese Mondnacht über einem ungeteilten Berlin?! Erinnerst du dich? Komm, wir schwelgen zusammen … doppelt hält besser … du als Ossi, ich als Wessi …
You test the west, I test the east and together we’ll be fine, half moon, full moon, let it shine! But seriously, you know how we adore that wandering moon, that heavenly body that makes us sway and makes us swoon. Do you remember your “Beautiful Stranger”, shining so bright in that starry Heidelberger night?!
We too could have been two of those heavenly heroes. Perseus and Venus! Or was it Mars and Medusa? In any case, two of those shooting stars, first all love and then nothing but wars! But don’t worry, we’re still a dream team – although we’re also double trouble – but at the end of every fight – guess what – my inexorable “Gypsy Queen” is again my adorable “Queen of the Night”. Because, as you know, sweet dreams are made of magic moments that turn into haunting memories and then into wonderful melodies … soaring higher and higher until …
“der Himmel die Erde still geküsst “
„under the moonlight, this serious moonlight”
„dass sie im Blütenschimmer von ihm nur träumen müsst.“
„Es funkeln auf mich alle Sterne mit glühendem Liebesblick“
and we dream again of those long gone nights,
“wie von künftigem, großen Glück.“
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Liebe, Tod und Liebestod: War in den Siebziger Jahren „Make Love Not War“ die internationale Parole, so war die alljährliche Berliner „Love Parade“ der Neunziger Jahre ihre konsequente Inszenierung und ultimative Theatralisierung. Auch Hegels Weltgeist hätte an diesem Berliner Spektakel sicherlich wieder seine helle Freude gehabt. So wie einst die deutsche Hauptstadt zum säbelrasselnden Aufmarschplatz zweier Weltkriege herhalten musste, in denen einmal mehr und mehr denn je die Söhne des Landes in grauer Felduniform für ihr Vaterland in den Krieg ziehen und dort ihr junges Leben lassen mussten, so wurde nun das Berlin um die Jahrtausendwende – vice versa – zum großen Schau- und Rummelplatz von Millionen von fröhlich feiernden Jugendlichen in kunterbunten Kostümen aus allen Herren Ländern der Welt.
Anstatt sinnlosem Töten in endlosen Materialschlachten war jetzt sinnenberauschender Tanz zu wummernden Techno-Rhythmen angesagt. Die Berliner Love Parade, das war die Gegenwelt zu den preußisch soldatischen Männerparaden, das war die erotische Zauberwelt der feschen Lola, und die war ja bekanntlich von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt. Viva La Diva! Blauer Engel Rediviva! And your drag queens are divine! They just want to have fun as male and female rolled into one!! You guys sure rule, just remember, don’t smoke and don’t coke – and you will always be cool. The only problem …
“You’ve got your mother in a whirl,
she’s not sure if you’re a boy or a girl.
Rebel, Rebel, how could they know,
you’ve torn your dress … I love you so.”
“Rebel, Rebel” (Wouldn’t You Know!)
So let’s dance … again and again … until we trance! And should we fall, let’s fall like angels and we will survive! Forget that Death! His face is a mess! But always remember to celebrate Life!!
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Und auch die Vergangenheit wirft lüsterne Lichter auf die einst so düsteren Schatten von Berlin: Heute mag so manch bekehrter Alt-Stalinist am prunkenden Potsdamer Platz und seinen hochragenden Glitzerpalästen eine ungeteilte Schadenfreude haben. Der einst so viel verrufene Spätkapitalismus in all seiner permanenten Dekadenz, vielleicht war er ja trotz allem kommunistischen Spott und Hohn die siegreiche Wiederkehr der sagenhaften Hure von Babylon? Sitzt sie nicht prächtig auf ihrem prunkenden Potsdamer Thron?! Metropolis, Matropolis, jede Großstadt ist eine Große Mutter und – mutatis mutandis – eine Dame von Welt und – Weltmarkt her und Weltmarkt hin – eine wendige, kosmopolitische Marketenderin.
Schau nur, wie sie herausgeputzt ist vor aller Welt, dort auf dem Potsdamer Platz, so glitzernd und strahlend unter seinem barocken, preußischblauen Himmelszelt! Und im Vergleich zu den einstigen Fünfjahresplänen ostdeutsch-kommunistischer Observanz ist sie ein wahres Super-Model der freien, multinationalen Marktwirtschaft. Was braucht‘s da noch altbabylonische Sternendeuter, Sumerer, Chaldäer und all die anderen mesopotamischen Astarte-Versteher! Man kann’s doch mit bloßem Auge sehen, den schönen Schein von Raum und Zeit, mitsamt all seiner vergänglichen Eitelkeit! Vanitas Vanitatum? Quod erat demonstrandum!
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Das Ellington Hotel in der Nürnberger Straße
Nach Duke Ellington benannt, steht dieses Hotel genau an jener Stelle, an der einst der Dschungel gestanden hatte. Kein anderer amerikanischer Musiker des Jazz Age verkörpert den Geist jener Zeit so wie er und so ist er denn auch der ideale Genius Loci dieses Ortes. Von Duke Ellington, dem „King of Jazz“ zu David Bowie, dem „God of Rock“ – good vibrations, great sensations – here are angels rocking around the clock.
The World of Music: Was David Bowie betrifft, so war er in der Tat ein Wunderkind der schönen Frau Welt, ein natürlicher Sohn der Großen Mutter. Er führte das Leben eines großen Weltenwanderers wie wenige andere seiner Zunft, da er nicht nur viel auf Konzertreisen ging, sondern auch immer wieder in anderen Ländern lebte, mit ihrer Musik experimentierte und sich ganz in ihrer Kultur investierte. Und von der schönen Frau Welt hatte er auch ihre farbenfrohe Tanz- und Schauspiellust geerbt und nicht zuletzt ihre hohe Zauberkunst, die Dinge ihrer Welt immer wieder in neuen Liedern zum Klingen zu bringen. Die Musik ist ein schlummerndes Weib, so wusste es schon Richard Wagner, doch der gute, alte Eichendorff wusste es sogar noch besser: Gesang ist der schönen Frau Welt ihr liebster Zeitvertreib. Vielleicht ist er es ja tatsächlich, der ihre zauberhafte Welt im Innersten zusammenhält.
Insgesamt betrachtet kann man sicherlich schlussfolgern: David Bowie war mit seinen vielfachen musikalischen und visuell-visionären Talenten geradezu ein kultureller Archetyp, ein moderner Wiedergänger der mythisch-romantischen Seher und Sänger. Jetzt ist er am Ende einer Lebensreise hier auf Erden angekommen und seine so klare, kristallene Stimme auf immer verstummt. Was von seinen Himmelfahrten und Höllenstürzen bleibt, ist eine Schatztruhe zauberhafter Lieder, wunderbarer Bilder und immer wieder großartiger Einbildungen …
A Black Box
of time warps and space oddities that crystallize and unlock
all those down-to-earth-phantasies of a human God of Rock.
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Hauptstraße 155 in Berlin-Schöneberg
Hier hat David Bowie zusammen mit Iggy Pop gewohnt
Wie kein anderes Dingsymbol veranschaulichen und versinnbildlichen Tür und Tor das Kommen und Gehen der Menschen, das Abschiednehmen und Willkommenheißen, das Weiterziehen von Stadt zu Stadt und von Land zu Land und nicht zuletzt die Quintessenz aller romantischen Existenz, das vagantische Fernweh und nostalgische Heimweh. Und oft sind es bedeutsame Augenblicke, erste und letzte Sinneseindrücke, die mit Ankunft und Abschied verbunden sind, oder wie es in Bowies Song „Where Are We Now“ so eindringlich heißt: „The moment you know, you know, you know.” Und als wollte sich der erinnernde Sänger der ewigen Wiederkehr des Vergangenen im Kommenden versichern, wiederholt er jede der folgenden Zeilen:
„As long as there’s sun
…
As long as there’s rain
…
As long as there’s is fire”
um schließlich nach der Aufzählung von Licht, Wasser und Feuer, seiner geradezu rituellen Inkantation der irdisch-überirdischen Elementargwalten unserer materiellen Welt, mit den folgenden schlicht-schönen Versen zu schließen:
„As long as there’s me,
as long as there’s you”
Dieser Zweizeiler, der bezeichnenderweise nicht wiederholt wird, ist nicht nur die Beschwörung der Einmaligkeit jeglichen irdischen Seins, sondern auch der Erfahrung der Zweisamkeit in lebenslanger Freundschaft und – non plus ultra – unsterblicher Liebe, wie einst metaphysisch angehauchte Poeten diese letzte Hoffnung der Liebenden auszudrücken pflegten.
Der basso ostinato von Bowies „Where Are We Now“ ist freilich das zerbrechende Herz, der zu Tode betrübte romantische Weltschmerz. Auch Iggy Pop, musikalischer Weggefährte Bowies aus ihrer gemeinsamen Zeit in Berlin, hat Anfang dieses Jahres nach einer mehr als zehnjährigen Schaffenspause ein neues Album herausgebracht und es in altbewährter Seelenverwandtschaft mit Bowie entsprechend Post Pop Depression genannt. Auf ihm findet sich auch der Song „German Days“, der Iggy Pop zufolge noch vor Bowies Tod aufgenommen wurde. Im Nachhinein klingt dieses Lied jedoch bereits wie ein insgeheimer Abschied von seinem langjährigen Freund und Berliner Weggefährten, eine orphisch-subterrane Evokation seines bevorstehenden Todes.
“Lust of Life”, so lautet der Titel eines Liedes, das Bowie zusammen mit Iggy Pop einst in Berlin geschrieben hatte. So wie das lebenssprühende „Carpe Diem“ die andere Seite des „Memento Mori“ bildet, so versinnbildlicht auch das farbenfrohe Graffiti der Berliner Mauer die andere Seite ihrer ehemals so todesdrohenden Allgewalt. Doch irgendwann wird auch dieses letzte Bruchstück der Weltgeschichte zerfallen … and down the road of time the last towers and bridges … they too will be tumbling and falling …
History
Between Right and Wrong
“The wall-to-wall is calling
…and the clock waits so patiently on your song …“
“Rock ‘n’ Roll Suicide”
Bruchstück der Berliner Mauer: In fading dayglow glory
Dieses Bruchstück befindet sich direkt an der Bösebrücke und die in seiner Mitte vermerkte Uhrzeit bezieht sich auf bestimmte Ereignisse während des Durchbruchs zum Westen am 9. November 1989. In den Boden eingelassene Platten geben zusätzliche Erklärungen über weitere Entwicklungen zu verschiedenen Zeitpunkten des Mauerdurchbruchs.
Bodenplatte an der Bösebrücke
„These fragments I have shored against my ruin“, so rekapituliert T.S. Eliots großes, episches Poem “The Waste Land” die Wechselfälle der Weltgeschichte und ihrer unzähligen Lebensgeschichten … Ruins and Fragments …
Dust to Dust
Teardrops to teardrops,
falling and rising deeper and higher,
and then they’re gone with the wind and the water
and only dreamers can see them as they circle the world on wings of desire.
„How many times does an angel fall?” So fragte sich Bowie auf seinem letzten Album Blackstar. Ich war nicht wenig überrascht, als ich diesen Vers zum ersten Mal hörte, erinnerte er mich doch sehr an jenes Konzert in Newcastle vor so langer Zeit, als mir Bowie auf der Bühne wie ein Engel zu fallen schien. Ein Augenblick, der mir über die Jahre so lebendig im Gedächtnis geblieben ist, als wäre es gestern geschehen. Ich hätte diese sinnbildliche Anwandlung von damals im Geist der dichterischen Freiheit für diese heutigen Erinnerungen einfach erfinden können, es ist ja nur eine kleine Randgeschicht – ich hab’s aber nicht.
Ob fallende Engel, ob steigende Engel, in jedem Fall ist die Techno-Musik deutscher Provenienz in Fan- und Fachkreisen auch als „kosmische Musik“ bekannt. Folgt man darüber hinaus den gnostischen Vorstellungen der jüdischen Kabbalah, von der bekanntlich auch Bowie fasziniert gewesen war, dann ist die Weltkugel von kosmischen Sphärenklängen und seraphisch-cherubinischen Engelsgesängen umringt.
Auch Wolf Biermann, der große Barde des zerrissenen, stachelverdrahteten Berlins, sang in den Siebziger Jahren mit „Marx- und Engelszungen“ – und das so fest überzeugt wie verschmitzt augenzwinkernd -, da er ja schon damals mit seinen beiden Vaterländern mehr oder weniger auf kritischem Kriegsfuß stand. Er war in der Tat ein Held, ein wahrhaft mutiger Drahtseiltänzer über dem Eisernen Vorhang und einer der letzten, utopisch-dialektischen Luftmenschen zwischen kommunistischem Materialismus und jüdisch-christlichem Spiritualismus.
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit … Möglicherweise ist ja der Himmel über Berlin tatsächlich eine geheime Offenbarung himmlischer Engel. Von Wim Wenders über Wolf Biermann bis zu Walter Benjamin und seinem Engel der Geschichte, dem Erzengel aus dem Paradies, der vom Sturmwind des Fortschritts in die Zukunft getragen wird. Oh Angelus Novus, Fragen über Fragen … ad infinitum … das ganze scholastische Weltenwissen der fahrenden, in alle Winde zerstreuten Gelahrten … Cogito! Cogito, ergo sum … credo, quia absurdum!
Fallen Angels, das ist auch der sprechende Titel von Bob Dylans letztem Album, das in diesem Frühsommer herauskam und sein letztjähriges Konzeptalbum Shadows in the Night fortsetzt, nämlich in From diverser musikalischer Re-Interpretationen klassisch amerikanischer Liedtraditionen. Vielleicht ist ja doch was dran an der kabbalistischen Kosmogonie und der irdischen Musik als einem fernen Nachklang der überirdischen Engelsharmonie? Schön wär’s ja, all die himmlischen Heerscharen und ihrem so irdischen, sinnlich-übersinnlichen Gebaren … angefangen von Astarte in all ihrer Sternenpracht über Mozarts zauberhafte „Königin der Nacht“ und hinunter zu Ella Fitzgerald’s „The Lady is a Tramp“ and Frank Sinatra’s „Strangers in the Night“ to David Bowie’s „Jean Jeanie“, who loves chimney stacks and keeps „talking ‘bout Monroe … New York’s a go-go …” where all the towers are so tall, scraping the skies …reaching for paradise …and after its heavenly fall … way back in the future…
The World
turned into a cosmic disco ball,
and became the glittering galaxies’ most glamorous wonder,
as she is turning us on and tuning us in throughout the deep and dark blue yonder!
Wonder World and Wonder Woman: Maybe her cosmic avatar is that spectral Shekina? Yahwe’s legendary lost better half! Is she the original Superstar? Or the ultimate Diva Divina? And along that long and winding road … maybe she is also dancing Salome and the gorgeous Queen of Sheba …Isis, Ishtar and Mystical Maya, the original Wo-Man before all those divisions and re-divisions began! God only knows, as the saying goes. But as far as I can see, it is a long, long way from here to his eternity! And if we keep going back to the future … with all the human wear and tear … we’ll never get there … but along the way …
Thank God, we have those rebel songs,
that teach us how to break the rules!
Thank Goddess, we have those siren songs,
for all those ships of moon-struck fools!
So praise them both, that king in the sky and his queen on the ground.
And how they long for each other … because they know they belong together! And how they search for each other … and find one another … up and down the stairways to heaven and earth … and what we so unknowingly call death and rebirth! Thank you for all those celestial flashbacks and all those terrestrial soundtracks. And if the two of you in all your glory are just pure phantasy, then thank you for giving us our down-to-earth-reality, our humanity, our temporary creativity and – last but not least – the magic and music of David Bowie.
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Was uns Sterblichen hier auf Erden bleibt, ist das tägliche “Carpe Diem” – allem “Memento Mori” zum Trotz. Und dann wird jeder Tag ein Heldentag! Genau wie in Bowies Berliner Weise, diesem großen Heldengesang von jenem immer wiederkehrenden Sturm und Drang …
„We can be heroes“
“We got the world in our hands … we could steal time just for one day“!
But to be honest and heaven knows:
“The stars look very different today.”
Leb wohl, David Bowie! Gute Reise auf deiner weiteren Seelenwanderung. Im Wandern des Wassers, im Wehen des Windes, im Gesang der Geister über den Wassern wirst du für immer weiterleben! Dort oben sind deine Lieder am allerbesten aufgehoben, schenkt man den Dichtern und Denkern unserer Geistesgeschichte Glauben, jenen Poeten und Philosophen des Weimarer Klassizismus und ihres dialektischen Idealismus.
From KaDeWe to JotWeDe, it’s all so near and it’s all so far out! So fare well, David Bowie! Be good! After all, that’s what the heavens are all about! And by the way, keep cruisin’ for bruisin’, because the storms of history – that age-old progress of his and her story – are never far away. But thank Goodness, now you are our hero for much more than one day!
Now you are free for eternity! No more earth bound, no more rock ’n’ roll! No more fancy costume changes, no more ground control! But we will always remember that we had a great ball! Especially if you think that what might come after death … is nothing … nothing at all!!
And for right now you are still with us, although you had to go, we still can hear you in all your songs, we still can see you in every rainbow, and we still can feel you in that serious moonlight and its twinkling afterglow. Because, after all, we still believe you now as then – and spes contra spem – when you call us through Lazarus … your final, mortal alter ego … calling us one more time … as if it were your last and lasting stardust show …
“Look up here, I’m in heaven,
dropping my cellphone down below.”
***