Oct 08 2021
Druckfehler
von Gabriele Eckart
Viel wurde seit dem Fall der Berliner Mauer über die „Zersetzungsmaßnahmen“ der Staatssicherheit der DDR veröffentlicht; am wichtigsten sind meines Erachtens die Bände Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi (Behnke, Fuchs, 1995) und Mielke-Konzern (Gieseke, 2001). Wie Jens Gieseke zeigt, suchte die SED nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 und der folgenden Ausreise vieler bedeutender Künstler „nach weniger aufsehenerregenden Formen der Disziplinierung […]. Mit Blick auf negative Schlagzeilen vermied sie nach Möglichkeit harte Schritte.“ (154) Statt direkte Repression in der Gestalt von Verhaftung oder Ausbürgerung ging es nun um eine „als besonders raffiniert erdachte […] weitere Steigerung der totalen Herrschaft durch Verfeinerung“ – ein Wechsel in der Art des polizeilichen Durchgriffs, der natürlich, wie Gieseke hervorhebt, zugleich ein „Symptom der Schwäche“ (155) war. Die politischen Kosten durch Reputationsverlust wären bei einem harten Durchgreifen zu hoch gewesen, sorgte sich die SED zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich zu Recht.
Über das Anbringen peinlicher Druckfehler als einer „verfeinerten“ Methode der „Zersetzungsmaßnahmen“ der Staatssicherheit ist bisher nicht reflektiert worden; es soll an dieser Stelle nachgeholt werden. Warum erst jetzt? Hatte ich mich nicht über dreißig Jahre lang über die „Druckfehler“ geärgert? Der Grund für die Verzögerung besteht in der Verhältnismäßigkeit. Was sind „Druckfehler“ im Verhältnis zu den ernsteren „Zersetzungsmaßnahmen“, wie sie Udo Scheer etwa im Fall Jürgen Fuchs’ beschreibt, der nach seiner Haftzeit in der DDR in Westberlin unter der Stasi-Zermürbung litt: „Der Erfindungsreichtum, die kriminelle Energie der Staatssicherheit zum Verunsichern und Zersetzen, auch zum Stehlen von Zeit, war nahezu unerschöpflich. Sie schaltete Annoncen, schickte nächtliche Havariedienste, streute Gerüchte.“ (345) Dazu Manipulationen am Auto, die der Familie Fuchs beinahe das Leben gekostet hatten. Nicht zu reden von der Vergiftung mit radioaktiven Stoffen während der U-Haft, welche wahrscheinlich die Krebserkrankung hervorrief, die Fuchs’ Leben viel zu früh und abrupt enden ließ. Klitzeklein dagegen die Sache mit den „Druckfehlern“, fast auf lächerliche Weise geringfügig, dachte ich.
Hinzukommt, dass ich mit achtzehn eine Verpflichtungserklärung als eine inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit unterschrieben hatte; vier Jahre dauerte es, bevor ich es schaffte, ein für allemal auszusteigen. Auch zu den „Tätern“ gehörte ich also. In dieser Rolle hält man am besten den Mund; Scham hielt mich jahrelang davon ab, von meinen Opferakten zu sprechen. Opferakten? Nach dem Verbot meines Buches über das Havelobst (1984 ohne die Genehmigung der DDR unter dem Titel So sehe ick die Sache in der Bundesrepublik erschienen), wurden die Operative Personenkontrolle „Kontra“ (im Bezirk Potsdam) und der Operative Vorgang „Ecke“ (in Berlin) gegen mich eröffnet und die ersten Zersetzungsmaßnahmen in Gang gesetzt. Neben widerlichen Gerüchten, um meinen Ruf zu schädigen und einer aufdringlichen Überwachung der Wohnung (einmal erhielt ich dabei sogar vor der Wohnungstür Prügel) eine Fülle von „Druckfehlern“.
Die Stasi hatte ihre Leute in den Druckereien, erinnert sich Marion Brasch, die in der DDR als Setzerin gearbeitet hatte, in ihrem autobiographischen Roman Ab jetzt ist Ruhe (2015):
Ich war an der Maschine inzwischen routiniert, und wenn Schulklassen durch die Setzerei geführt wurden, um zu erfahren, wie eine sozialistische Tageszeitung entstand, stellte mich der Meister gern als leuchtendes Beispiel für eine junge, weibliche Arbeiterpersönlichkeit vor. Die meisten Schüler verstanden seine Ironie nicht, nur ein paar kicherten.
Auch die Gruppe langweilig gekleideter Männer, die er eines Tages durch unsere Werkstatt schleuste, bemerkte nicht, dass er sich über sie lustig machte, als er auf mich zeigte und sagte: ‚Diese junge Frau hier kann zehnmal schneller ENTWICKELTE SOZIALISTISCHE GESELLSCHAFT setzen, als mancher hier im Raum diese Worte einmal fehlerhaft buchstabieren könnte!’ Einige der Männer guckten irritiert, andere nickten wissend.
Und sie blieben. Es gab einen Parteitag, über den unsere Zeitung berichten musste. Und weil die Partei Sorge hatte, dass wir die Berichterstattung sabotieren könnten, postierte sie hinter jeder Setzmaschine einen Aufpasser. Zwar wurden uns die Männer nicht als Mitarbeiter der Staatssicherheit vorgestellt, doch wir wussten, dass sie es waren. (270-71)
Wann vollzog die Stasi den Schritt vom Nur-Aufpassen, dass beim Abdruck der Parteitexte der Inhalt nicht etwa durch Verdrehungen sabotiert wurde, zum eigenen Sabotieren der Texte von Autoren, die als „feindlich-negativ“ eingeschätzt wurden? In den Akten findet sich nichts dazu. Wie Udo Scheer richtig hervorhebt, „ihre Schweinereien haben sie nicht aufgeschrieben, sie waren sich ihrer Kriminalität durchaus bewusst.“ (351)
Wie sich das anfühlte für einen Autor, der so, d. h. mit „Druckfehlern“, „behandelt“ wurde, beschreibt Sarah Kirsch in einem Brief an Christa Wolf. Am 24. Juni 1989 berichtet die Lyrikerin über Probleme beim Korrekturlesen für ihren Gedichtband Die Flut: Gedichte, der im gleichen Jahr beim Ostberliner Aufbauverlag erscheinen sollte:
Diese Scheißfahnen von Herrn Aufbau machten ja Spaß. Die Lektorin wollte alles telefonisch korrigieren – als das Gespräch kam, war sie aber schon wieder nach Hause gegangen. Ich habs nun doch geschickt, war nämlich auf jeder Seite fast was, enorme Fehler des Sätzers, der hat sich wohln Spaß gemacht oder seinen Frust doch durch witzige Fehler abreagiert. Anders kanns nicht gewesen sein. Sag mal Gerhard ich brauche noch ne spätere 2. Correktur sonst ist mir sehr vage und grauenhaft schlecht zu Mute. Sah wie Sabotage ja aus. (292)
„Grauenhaft schlecht zumute“ war es mir auch jedes Mal, wenn die Stasi in den Druckereien an meinen Texten manipuliert hatte. Die Nerven lagen blank. Und seit ich in den USA lebte, konnte ich die Fehler nicht mehr rechtzeitig „abfangen“, die Verstümmelung dessen, was ich geschrieben hatte, „durch witzige Fehler“ blieb.
Um ein Beispiel zu nennen: In der 1988 im Aufbauverlag erschienen Anthologie Die Wärme, die Kälte des Körpers des Andern: Liebesgedichte drehte die Stasi in meinem Liebesgedicht „P. tanzt“ das letzte Wort in der vorletzten Zeile von „meinen“ in „seinen“ um und verlieh dem Text, in dem es um Geschlechtsverkehr geht, damit eine peinliche Wendung. Diesen Text hatte ich unter anderem eingereicht, nachdem mich der Herausgeber der Anthologie, Kurt Drawert, um Gedichte gebeten hatte:
P. tanzt
Seine Hüfte auf meiner Seine auf meiner Brust Seine Augen gewürznelkenfarbig lachen Verlachen den Winter die falschen Propheten die Straßenverkehrsordnung P. tanzt Schweigend und beredt wie Demosthenes Seine Bewegungen sagen Woher wir kommen wohin wir gehn Ich lausche und P.s Tanz umwächst mich Mit Zweigen und Blättern Sie schwanken Ein Nest fällt Die Erde bebt Siehst du wir leben! Sagt P.s Blick Er tanzt Seine Hände Die immer ruhig sind: Ein Helm um meinen Hinterkopf gepolstert mit Gras und Federn (Wie mag ich alles, was beginnt, 95)
In der Anthologie heißt der letzte Satz dagegen: „Ein Helm um seinen Hinterkopf gepolstert mit Gras und Federn“ (35) Nur einen Buchstaben hatten die Tschekisten auf ihre „witzige“ Art verändert: Ein „s“ statt ein „m“; damit hatten sie das Wort „meine“ zu „seine“ gemacht: „ein Helm um seinen Hinterkopf“ (35). Dem Vorgang des Geschlechtsverkehrs, der in dem Text beschrieben wird, hatten sie durch die Manipulation eine peinliche Drehung gegeben und mich als Dichterin unglaubwürdig gemacht. Welch eine Blamage in den Augen der Leser! Kurt Drawert, der die Anthologie herausgegeben hatte, schrieb mir nur „O Gott!“, nachdem ich ihn auf den Fehler hingewiesen hatte und versicherte mir glaubhaft, er hatte die Fahnen ordentlich korrigiert und mit der Manipulation an meinem Gedicht nichts zu tun. Es tat ihm leid. Ich glaubte es ihm. Mit Tränen der Wut in den Augen knallte ich mein Belegexemplar dieser Anthologie, das mit der Post gekommen war, in Minneapolis in den Müllcontainer. Einen Tritt hatten sie mir versetzt, auf so „feine“ Art, dass sich die SED um negative Schlagzeilen nicht zu sorgen brauchte.
In seinem Kapitel „Zersetzung – der ‚leise‘ Terror“ analysiert Jens Gieseke die Richtlinie 1/76 des MfS „zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge“ und zitiert zwölf Methoden für die psychologische Manipulation:
Die Diskreditierung des öffentlichen Rufs, die Organisierung von Mißerfolgen in Beruf und sozialen Kontakten, das Untergraben von Überzeugungen und Erzeugen von Zweifeln in der persönlichen Perspektive, das Schüren von persönlichen Rivalitäten und gegenseitigen Verdächtigungen in den Gruppen, die Zuweisung eines fern liegenden Arbeitsplatzes, das Verbreiten von kompromittierenden Fotos, Briefen, Telegrammen und ähnlichem Material, das Verbreiten von Gerüchten und fingierten Indiskretionen über MfS-Aktivitäten, zum Beispiel IM-Treffs mit Gruppenmitgliedern, scheinbar unmotivierte Vorladungen bei staatlichen Stellen, die den Eindruck einer IM-Tätigkeit der Zielperson erwecken sollen. (186)
Im Falle der „Druckfehler“ waren zweifellos die ersten beiden Methoden maßgebend gewesen. Das psychologische Ergebnis war in meinem Fall eine innere Lähmung; vor Entsetzen konnte ich jahrelang keine Gedichte mehr schreiben. Der Jenaer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Edwin Kratschmer ersetzt das schreckliche Wort „Zersetzungsmaßnahmen“ mit „Seelenterror“. In seinem Nachwort zu dem wichtigen Essay-Band Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi beschreibt der Autor, wie das Selbstbild der als „feindlich-negativ“ eingeschätzten Personen durch diesen Seelenterror erschüttert werden sollte. „Schleichend“ beginnt dieser Terror, schreibt Kratschmer anhand seiner eigenen Erfahrungen, „mit kaum wahrnehmbaren Sanktionen, Disziplinierungen, Demütigungen, Diffamierungen und führt über Angstnächte oft genug zur Zerstörung der Person“ (322).
Die „Druckfehler“, so war mir damals aufgefallen, traten meistens an Stellen auf, in denen es um Liebe ging. Jens Gieseke schreibt: „Überhaupt beflügelte die Welt des Sexuellen die Phantasie der Tschekisten.“ Diese Phantasie, zeigt der Autor, „war ständig genährt vom voyeuristischen Blick in die Intimsphäre der Ausspähungsopfer und dem auffälligen Bemühen mancher IM, ihren Führungsoffizieren Schlüpfriges und Schmuddeliges zu präsentieren, das offenbar von den Projektionen des sauberen und ordentlichen DDR-Bürgers lebte.“ (189) Als Beispiele verweist Gieseke unter anderem auf die pornographischen Fotomontagen und falschen Bezichtigungen über außereheliche Beziehungen von Pfarrern.
Hatte ich nicht schon vor der Wende über das Thema „Stasi und Druckfehler“ einen Text verfasst und ihn an Freunde geschickt? Freundlich bat ich sie, mir zu sagen, ob es ratsam sei ihn zu veröffentlichen. Nein! rieten mir die meisten; Druckfehler schleichen sich immer ein, du kannst nicht beweisen, dass die Staatssicherheit dahintersteckt. Als Hirngespinst einer Wichtigtuerin würde dein Artikel wahrscheinlich abgetan. Sie hatten wohl Recht; sogar Jürgen Fuchs wurde ja, wie Udo Scheer zeigt, damals von Westjournalisten wegen seines angeblichen Verfolgungswahns belächelt. Wenn er von den gegen ihn und seine Familie laufenden Stasi-Maßnahmen sprach, hieß es „Paranoiker“ – ich hatte den Ausdruck selbst in der Westberliner Redaktion des Spiegel mit Bezug auf Jürgen Fuchs gehört. Also besser das „Druckfehler“ – Thema verdrängen! Als Paranoikerin wollte ich nicht verschrien werden. Und was waren schon „Druckfehler“ und diskreditierende Gerüchte gegen die Manipulationen an den Bremsen des Autos der Familie Fuchs und die vor ihrer Haustür explodierenden Granaten.
Seither sind über dreißig Jahre vergangen. Als ich letzte Woche in der vierten Serie von Handmaids Tale June Osborn dabei zusah, wie sie und ihre Freundinnen den „Commander“, der sie einst gepeinigt hatte, ermordeten, um innerlich Ruhe zu finden, denn zu tief saß die Verletzung, um damit leben zu können, beschloss ich: Jetzt ist es an der Zeit! Sich frei schreiben! Hauptsächlich Psychokrieg war es in meinem Fall; von ein paar Schlägen nachts vor der Tür abgesehen, gab es nur ausgeklügelte Techniken der Beschämung, aber die „Druckfehler“ bleiben; sogar, wenn ich einmal das Zeitliche gesegnet habe, sind sie noch da. Warum sollte dieses perfide Detail aus dem geheimen MfS-Instrumentarium ausgeblendet bleiben?
Bibliographie
Brasch, Marion. Ab jetzt ist Ruhe: Roman meiner fabelhaften Familie. Frankfurt: Fischer, 2015.
Eckart, Gabriele. „P. tanzt.“ Wie mag ich alles, was beginnt. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1987: 95.
Eckart, Gabriele. „P. tanzt.“ Die Wärme die Kälte des Körpers des Andern: Liebesgedichte. (Kurt Drawert, Hg.) Berlin: Aufbau, 1988: 35.
Fuchs, Jürgen. „Bearbeiten, dirigieren, zuspitzen: Die ‘leisen’ Methoden des Mfs.“ Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Hamburg: Rotbuch. Klaus Behnke, Jürgen Fuchs (Hrsg.) 1995, 44-83.
Gieseke, Jens. Mielke-Konzern: Die Geschichte der Stasi 1945-1990. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 2001.
Kirsch, Sarah. Wolf, Christa. „Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt: Der Briefwechsel.“ Sabine Wolf (Hg.) Berlin: Suhrkamp, 2019.
Kratschmer, Edwin. „Die Neurose dauert an.“ Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Klaus Behnke, Jürgen Fuchs (Hrsg.) Hamburg: Rotbuch, 1995, 318-27.
Scheer, Udo. Jürgen Fuchs. Berlin: Jaron Verlag, 2007.
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