May 17 2024

Wriezen

Published by at 8:57 am under Literatur- und Kulturnachrichten

This story by Gabriele Eckart will be included in her forthcoming volume ‘Ach, du!’ Zehn Geschichten which will appear in 2024 with Königshausen & Neumann.

 

Wriezen
von Gabriele Eckart

“We are alone in these things that we suffer.” (Elizabeth Strout)

 

Anfang der achtziger Jahre. Die Leiterin der Stadtbibliothek Wriezen, Edith K., hatte mich zu einem Literaturball eingeladen, was immer das sein sollte. Den Bus ab Strausberg nehmen, hatte sie mir geschrieben. Dazu die Abfahrtzeit. Das Gedränge an der Bushaltestelle. Ein dünner kalter Regen fiel herab. Die meisten Wartenden Rentner, die, das entnahm ich den Gesprächen, im Westen Verwandte besucht hatten, Einkaufstüten und Pakete schleppten sie. So heftig drängten sie, als der Bus kam, dass am Ende gar keiner einsteigen konnte. Flüche und Beschuldigungen: Sie drängeln! Nein, ich nicht, Sie! Die Arbeiter unter den Wartenden klagten: Was die Rentner alle mit diesem Bus fahren müssen, jetzt, wo wegen des Benzinmangels so viele Busse eingespart werden. Sind nicht alle Berufstätigen hier auf diesen einen Bus am Freitag nachmittag angewiesen, um nach Hause zu kommen? Schließlich stieg der Busfahrer aus, Ordnung schaffen.

 

Einen Sitzplatz ergatterte ich, sah bis Wriezen in den Regen hinaus, lackgrün glänzende Bäume, und las zwischendurch Gedichte aus einem Band von Hermann Hesse, der aufgeschlagen auf meinem Schoß lag. Ein Gespräch hinter mir riss mich aus meinen Gedanken über das Gedicht “Stufen”, das mich berührte. Was würde wohl meine nächste Stufe im Leben sein? Um Versorgungsengpässe in der DDR drehte sich das Gespräch. Was für kuriose Blüten das schon treibt! sagte eine hohe Frauenstimme und erzählte, dass in ihrer Kaufhalle die Leiterin vermutet hatte, das Mehl würde wahrscheinlich nicht bis zur nächsten Lieferung reichen; deshalb stellte sie ein Schild auf: Bitte, nur eine Tüte nehmen! Jeder, der es liest, legt eine Tüte Mehl in seinen Einkaufskorb, auch dann, wenn er gerade kein Mehl benötigt. Weil das Schild zwischen dem Mehl und dem Salz steht und man nicht genau weiß, gilt es für das Mehl oder das Salz? nimmt man auch noch eine Tüte Salz dazu und schickt, wenn man nach Hause kommt, die Kinder los, um Mehl und Salz zu kaufen. Wie es aussieht, sagt die Mutter zur Begründung, würden diese Waren jetzt auch knapp werden. Wie ein Lauffauer geht die Mitteilung durch die Stadt: Mehl und Salz jetzt auch! Bei Ladenschluss am Freitag gibt es im ganzen Ort kein Mehl und kein Salz mehr… Ach! kommentiert eine heisere Männerstimme hinter mir das Gehörte. Einen Lacher musste ich unterdrücken angesichts der Komik dieses Gesprächs.

 

So verspätet kam der Bus in Wriezen an, dass Edith K. mich schon nicht mehr erwartet hatte. Erfreut führte mich die große, schlanke, ungeschminkte und auffallend schlicht gekleidete Frau in den Vierzigern sofort ins Stadtcafé, wo Operettensänger vom Theater in Frankfurt/Oder gerade schmalzig trällerten, über Liebe, Leid und Lust. Am Tisch mit der Stadtobrigkeit (Bürgermeister, Oberförster, Leiter der Geflügelfabrik und Pfarrer samt Ehefrauen) nahmen wir Platz. Ein Literaturquiz folgte auf den Gesang. Fragen über Goethe, Schiller und die DDR-Literatur, Erich Weinert, Anna Seghers, Bertolt Brecht. Den ersten Preis gewann ein Lehrling der Geflügelfabrik. In den Pausen Unterhaltung. Edith K. hatte dafür gesorgt, dass alle am Tisch mein letztes Buch gelesen oder wenigstens darin geblättert hatten. Fragen stellten sie jetzt, zum Beispiel über die psychisch stabilisierende Wirkung des Schreibens. Fragen, die ich gar nicht dumm fand. Ja, Schreiben sei eine Form der Psychotherapie für mich, sagte ich. Gar nicht leben könnte ich ohne diese Beschäftigung. In diesem Moment spielte eine Kapelle zum Tanz auf. Die Männer am Tisch tanzten der Reihe nach mit mir. All die Tänze in meinem früheren Leben, wie oft tanzten wir in der DDR. Polka. Walzer. Scharfe Aufpasserblicke der stark geschminkten Gattin des Geflügelfabrikleiters von ihrem Beobachtungsposten am Tisch aus, während ich mit ihrem Mann walzte. Ein versierter Tänzer. Nur redete er mir zu viel, während er mich herumschwang. Ein Klagelied darüber, dass man in so einer Kleinstadt wie Wriezen keinen Freiraum habe für Glück und persönliches Leben, keine Anonymität gäbe es wie in Berlin, dort habe er studiert, ja, diese wunderbare Anonymität der Großstadt.

 

Auf dem Weg zum Tisch fügte er hinzu, das Fehlen der Anonymität wäre aber der einzige Nachteil des Kleinstadtlebens. Diese Natur hier. Die Oder und die Wiesen. Haben Sie einmal vom Lebuser Burgberg nach Norden auf den Oderlauf geblickt? Die Pracht dieser Flusslandschaft. Morgen vormittag, es regne dann nicht mehr, werde er übrigens drei Stunden lang in seinem Garten Mist karren und graben und beides genießen, die Regenwürmer schon allein! Ja, dieser Herbst, schwärmte der Oberförster, als wir uns wieder den anderen zugesellten, wie die Blätter leuchten, glänzen… Aber bald kommt die graue Zeit, sagt seine Frau. Wie ich den November hasse, fügt der Bürgermeister hinzu, seine Brillengläser glänzen im reflektierten Licht der Saalbeleuchtung. Der Dezember ist noch schlimmer, meint seine Gattin, eine graue Maus: Diesiger Schneeregen! Neugierig bringt sie das Gespräch auf das Thema der psychisch stabilisierenden Wirkung des Schreibens zurück. Schön und gut, sagt sie, nachdem sie mir eine Weile gelauscht hat. Aber sagen Sie doch, falls Sie die Frage nicht als indiskret empfinden, sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben… immer nur Schreiben! Keine Familie, kein Haus, keine Kinder. Bevor ich dazukomme zu sagen: der einzige Mann, mit dem ich gern Kinder hätte, ist leider schon verheiratet und hat zwei Kinder… antwortet der Leiter der Geflügelfabrik für mich: Ich glaube schon, dass Fräulein E. zufrieden ist, sie hat doch dafür… mehr Freiheit. Prost! Er hebt das Weinglas an die Lippen. Beinahe frech lachen mir seine Augen über den Rand des Glases zu. Seine Frau, die unaufhörlich raucht, bietet mir eine Zigarette an, gibt mir Feuer, während der Oberförster mit einem Blick auf den sich in der Höhe verkräuselnden Rauch wie ein Rohrspatz zu schimpfen beginnt: Das gefällt mir nicht an Ihnen, Fräulein E., dass Sie rauchen! Wissen Sie, Sie könnten es sich abgewöhnen, wenn Sie nur wollten, aber Sie wollen ja nicht! Ich gebe ihm recht und verspreche ihm, mit dem Rauchen aufzuhören, ich hätte es ohnehin schon seit langem geplant. Zufrieden mit meiner Antwort, lädt er mich für den nächsten Morgen zur Jagd ein, seine Frau hätte nichts dagegen. Aber schon um fünf gehts los. Als ich die Uhrzeit hörte, lehnte ich die Einladung höflich ab. Einspruch erhob auch Edith K.: Wir möchten bis um acht Uhr schlafen. Und ich möchte mich auch noch gern mit Fräulein E. eine Weile unterhalten, am Nachmittag fährt sie ja schon zurück.

 

Leicht betrunken taumelte ich später einem Neubaublock entgegen, meine Begleiterin sagte zufrieden: Sie haben den Leuten gefallen, unserer Prominenz! Vor ihrer Wohnungstür, während sie in ihrer Tasche nach dem Schüssel kramte und ich auf das Ticken der Lichtuhr lauschte, fügte sie hinzu: Nun ja. Nicht nur, dass Sie Bücher schreiben und sich klug unterhalten können, Sie sind auch hübsch. Bevor ich einschlief, hörte ich ihre Stimme sagen: Falls Sie im Bett noch rauchen wollen, bitte, ich habe einen Aschenbecher auf Ihren Nachttisch gestellt! Nein, danke, lallte ich, es waren heute schon zu viele Zigaretten. Danke für alles! Gute Nacht!

 

Verkatert erwachen. Dazu ein Brennen in der zerrauchten Kehle, ein trockener Husten; erst in Amerika würde es mir gelingen mit dem Rauchen aufzuhören. Wie gerne brüllte ich dem Oberförster zu über die tosenden Wellen des Atlantischen Ozeans: Habs geschafft!

 

Das Gurgeln der Kaffeemaschine. Kaffeeduft, Löffelklappern, Tellerklirren. Vor dem Frühstück (Brötchen, weichgekochte Eier) nahm ich rasch ein Bad, meine Gastgeberin hatte mir die Wanne schon vorbereitet. Neubauwohnung, blauer Spannteppich, gestreifte Tapete, Pastellfarben, ein paar Möbel, meinem Geschmack nach standen sie zu sehr im rechten Winkel zueinander. Zimmerpflanzen, Palmen und Kakteen, lockerten das strenge Bild etwas auf. Mit Blumenmustern verzierte Keramiktöpfe. Auf einem Regal mit Miniaturmalereien verzierte Kästchen. Dazu gerahmte Fotos von einem blondgelockten Kind mit einem in den Mund geschobenen Daumen und von einem gutaussehenden jungen Mann an einem Turngerät, dem man das Kindergesicht noch ansah. Eine Schale mit Salznüssen auf dem Couchtisch. Um die Zentralheizung beneide ich Sie! sagte ich und erzählte ihr vom Kohlenschleppen jeden Morgen in meinem Hinterhaus in der Auguststraße. Im Winter bullert mir die Heizung zu sehr; die Temperatur ist nicht regulierbar, sagt meine Gastgeberin.

 

Von den Oderfestspielen vor einem Jahr erzählt sie mir während des Frühstücks; sie war im Gemeindeverband Wriezen die Hauptinitiatorin gewesen. Ein Preisausschreiben! In die Bezirkspresse ließ sie die Frage setzen: Wer kennt gute Kochrezepte aus dem Oderbruch? Hunderte Zuschriften. Neunundneunzig davon stellte sie zu einem Kochbuch zusammen, schrieb ein kluges Vorwort und beantragte die Druckgenehmigung. Nach einer Ewigkeit kam endlich eine Nachricht: Geht nicht, neunundneunzig Rezepte seien zu viele, Papiermangel. Sie strich die Rezepte auf die Hälfte zusammen und reichte das Manuskript erneut ein. Lange Zeit keine Reaktion, dann hörte sie, ihr Manuskript läge derzeit in Frankfurt/Oder auf dem Tisch der SED-Bezirksleitung. Sie rief dort an: sie wolle ihr Manuskript wiederhaben. Vorladung zum Bürgermeister. Ihr Manuskript auf der Schreibtischplatte, eilten seine Augen unruhig zwischen ihrem Gesicht und dem Papierstapel hin und her: Also, Frau K., das geht überhaupt nicht! Die meisten dieser Gerichte sind mit Rind- oder Schweinefleisch! Denken Sie nur an die schlechte Fleischversorgung jetzt, fast rebellisch werden die Frauen vor den geschlossenen Fleischerläden! Aber wir haben das Buch in der Kreispresse groß angekündigt; ohne das Buch gehen die Oderfestspiele nicht! erwiderte Edith K. leise. Sie einigten sich darauf, die meisten Fleischgerichte zu streichen; ein schmales Heft wurde am Ende gedruckt; Edith K. zeigt es mir beschämt. Hauptsächlich Nachspeisen, Fleisch erfordern die ja nicht.

 

Was für einen frischen Teint Frau K. hat! fiel mir während des Frühstücks auf. So stark leuchtet ihre Haut, dass sie es gar nicht nötig hat, sich zu schminken. Wahrscheinlich hat sie nie geraucht, und dazu diese großen, klaren, haselnussbraunen Augen, überdacht von langen dichten Wimpern! Jedoch wie traurig sahen diese Augen aus, denke ich heute rückschauend. Hatte ich mich nicht von Anfang an gewundert, welch ein Geheimnis dieser traurige Ausdruck verbarg? Ein Elend schien dieser Frau das Herz abzudrücken. Erst beim übernächsten, oder war es beim überübernächsten, Besuch in Wriezen würde sie mir erzählen, dass ihr Sohn wegen eines Republikfluchtversuchs im Gefängnis saß, hauptsächlich daher rühre ihre tiefe Niedergeschlagenheit. Erschrocken musste ich an die Ortsprominenz denken, die ich ja während des Literaturballs kennengelernt hatte. Eine Schlammflut aus Klatsch und Gerüchten? Ediths Kummer, auch Scham? Nachzufühlen vermochte ich ihre Trauer. Hinzukam, wieviel wussten die Leute in Wriezen von den Gründen ihres Sohnes, die DDR verlassen zu wollen? Weil er homosexuell war und Homosexuelle in der DDR schlecht behandelt wurden, hatte er einen Ausreiseantrag gestellt; der Antrag war abgelehnt worden. Ihr Sohn flutete daraufhin den Rat des Stadtbezirks mit neuen Anträgen; nie erreichte ihn eine Antwort. Nach zwei Jahren ungeduldigen Wartens wagte er auf Hiddensee einen Fluchtversuch; jetzt saß er gefangen und hoffte darauf, dass er vom Westen bald freigekauft wurde. Hoffentlich hatte Edith sich wenigstens dem Pfarrer anvertraut. Er hatte von allen am Tisch während des Literaturballs den besten Eindruck auf mich gemacht. Schweigsam und mitfühlend. Mit ihm zu tanzen war mir wegen seines würdigen Gesichtsausdrucks am angenehmsten gewesen. War nicht geteiltes Leid halbes Leid?

 

Nachdem sie resigniert das Heft mit den Rezepten ins Regal zurückgestellt hatte, sagte Edith K.: So viele Männer wurden in den letzten Tagen zum Reservedienst eingezogen, sogar Ältere. Was ist los? Beim Literaturball gestern saßen am Tisch, der für die Eisenbahner des Bahnbetriebswerks Wriezen reserviert war, fast nur Schüler der neunten und zehnten Klasse. Die Väter waren eingezogen worden, die Frauen wollten nicht allein zum Ball, also gaben sie die Karten den älteren Kindern. Der Nachbartisch war der Lehrertisch. Ich wunderte mich darüber, sagte sie, dass die Lehrer schon so früh nach Hause gingen, gerade als die Tanzmusik einsetzte und es schwungvoll zu werden versprach, verließen sie den Saal. Aber natürlich, sie fühlten sich von ihren Schülern beobachtet! Nach einem erschrockenen Blick über den Rand der Kaffeetasse fragte sie mich: Fürchtete die Partei vielleicht einen Aufstand wegen der schlechten Versorgung, und zog deshalb fast alle Männer im wehrpflichtigen Alter zum Militär ein? In Berlin war die Versorgung besser, Fleisch gab es immer im Konsum bei mir um die Ecke, deshalb hatte ich über diese Frage noch nicht nachgedacht.

 

Unser Spaziergang. Kein Regen mehr. Bunte Blätter, die Pirouetten tanzten. Wir streiften durch eine Gartenanlage. Vogelgesang. Sauber geschnittene Hecken. Dann Lauben, verblichener Putz, grau oder ockergelb. Mit Teerpappe benagelte Dächer. In einem Garten ein Sandkasten und eine Rutsche für Kinder. An einem Holztisch ein alter Mann, der mit beiden Händen seinen Kopf stützte. Unter unseren Schritten knirschte der Schotter des Weges. Später ein Ausblick auf das weite, sanft gewellte Land. Abgeerntete Kartoffel- und Kornfelder, ein Streifen Schilf, fette Krähen, dahinter dichter Kiefernwald. Hier konnte man die Seele strecken, dachte ich. Vor einer Baumgruppe mit Eschen und Eichen ein Holundergebüsch. Die Beeren! entfuhr es mir. Wie schade, dass wir keine Beutel mithaben! Sonst würde ich uns später für das Mittagessen eine Holundersuppe kochen. Fleischlos! Wollen Sie das Rezept, Frau K.? Dann könnten Sie morgen noch einmal zurückkommen und die Holunderbeeren ernten. Gut, notieren Sie es mir, wenn wir zurückkommen!

 

Alt bin ich heute. Der Drang zum Schreiben lässt allmählich nach. Ausgerechnet jetzt, wo ich endlich über Zeit in Hülle und Fülle verfüge und immer deutlicher spüre, jenes Land namens DDR, so wie es sich in meiner Erinnerung darstellt, ist noch lange nicht auserzählt. Bange ist mir, alles könnte verrauschen, als hätte es nie existiert. Würde ich jetzt nicht diesen Erinnerungstext verfassen, wüsste morgen niemand mehr, dass es eine Frau namens Edith K. gab und was diese Frau durchgemacht hat.

 

Während meines nächsten Besuchs in Wriezen, Edith hatte mich in ihre Bibliothek zu einer Lesung eingeladen, streifte das Gespräch auf dem Nachhauseweg ihren Sohn. Über die Liebe redeten wir, so hatte unser Gespräch über den Sohn angefangen. Vor Neugier auf mein Liebesleben schien Edith zu platzen. Du lieber Himmel! sagte ich. Seit Jahren war ich einem verheirateten Mann verfallen, einem Literaturwissenschaftler, Heine-Spezialist, ein Jahr älter als meine Mutter war er. Jahrelang hatte er neben mir noch andere Freundinnen gehabt, immer nur Geliebte Nummer zwei war ich. Man lernt damit zu leben, Edith! Dass die Eifersucht, nicht auf seine Ehefrau, sondern auf die Geliebte Nummer eins, Sigrid hieß sie, mich jahrelang erdrosselt hatte, erwähnte ich nicht. Natürlich ärgerte ich mich über die Besessenheit meiner Liebe zu diesem Mann, aber konnte nichts dagegen tun. Jetzt war er schwer krank und impotent, Nierenversagen; und ich träumte davon ihn im Rollstuhl durch den Friedrichshain schieben zu dürfen. Manchmal schlief ich mit anderen Männern, aber das war nichts, des Zaubers entbehrten diese Begegnungen. So stand es bei mir. Und bei dir?

 

Drei Ansätze benötigte Edith, bevor sie auf den Punkt kam: Ihre große Liebe sei ein sowjetischer Soldat gewesen, zwei Jahre lang gehörte sie nicht mehr sich selbst, so sehr war sie ihrer Liebe zu dem Soldaten verfallen. Brennendes Glücksgefühl und darauf ein maßloser Kummer. Denn leider wurde er nach der Geburt ihres Sohnes versetzt, später in die Sowjetunion zurückgeschickt. Nie wieder hörte sie von ihm. Die Fieberhaftigkeit dieser Jahre. Und das Gerede, dachte ich beim Zuhören: Die scharwenzt mit den Russen! Als ihr Sohn älter wurde (wie der Vater sah er aus, groß und blond, ich musste an das gerahmte Foto im Regal ihrer Wohnung denken, das einen gutaussehenden jungen Mann an einem Turngerät zeigte), beschloss er eines Tages, er wolle nicht länger im Dunkeln tappen und reiste in die Sowjetunion. Vatersuche. Jahrelang. Ergebnislos.

 

Die Stadt zeigte mir Edith erst während meines nächsten Besuchs in Wriezen. Zerdehnter Ort, ohne Zentrum, ohne Marktplatz. Allein eine spätgotische teilweise zerbombte Kirche gab es. Wo einmal ein Zentrum gewesen sein musste, da stand sie. Rote Backsteinruine, aus der mutlos kleine Birken sprossen. Allenorts trostlos aussehende Neubauten, Plattenbau. Losungen. “Hohe Leistungen zum Wohl des Sozialismus und für den Frieden.” “Vorwärts beim Aufbau des Sozialismus!” Gottverlassen wirkt der Ort auf mich heute noch in der Erinnerung; zähflüssig rinnt Langeweile durch die Straßen. Nur in der Hauptstraße noch Altbausubstanz. Kleine Kramläden. Zwei Fleischerläden, in denen es leider nur, sagt Ediths Stimme, Suppenfleisch gibt. Vor dem zweiten eine Schlange Frauen. Ab fünfzehn Uhr soll es hier Wurst geben. Stoisch warten die alten Frauen, die jüngeren zappelnd und schimpfend: Wo gibts denn so was, keine Wurst mehr! Was sollen wir unseren Männern auf die Stullen legen! Das ist unsere Stadt, sagt meine Begleiterin verlegen. Entschuldigend fügt sie hinzu: War ja nach dem Krieg zu einem Dreiviertel zerstört. Wo arbeiten die Wriezener? frage ich, während wir vor geschlossenen Eisenbahnschranken zusammen mit einer Menge anderer Fußgänger warten müssen, neben uns eine endlose Autoschlange. Edith sagt: Im Betonwerk, im Eierkombinat, in der Entenmast und in einer Zweigstelle des Halbleiterwerks; die Teile der Halbleiter, die in unserer Gegend hergestellt werden, verpacken sie da. Endlich kommt der Zug, ein Güterzug, rumpelnd kriecht er vorbei, die Schranken gehen hoch. Die nachhallenden Geräusche. Darauf hüllt uns eine Wolke Auspuffgase von Zweitaktmotoren ein.

 

Später überqueren wir eine kleine Brücke, unten paddeln zwei kleine Mädchen in Badeanzügen und mit Schwimmringen um den Bauch auf einer Luftmatratze im schmutzigen Wasser. Brühe, denke ich. Unser Kanal, sagt Eva verlegen. Mit Stöcken schieben die Mädchen sich ächzend vorwärts. Rechts und links je ein Stück Wiese mit alten, krumm gewachsenen Apfelbäumen, kleine weiße Blüten lugen aus dem Rasen. Auf einer Bank ein junger Mann mit halb zugekniffenen Augen, ein unhörbares Murmeln bewegt seine Lippen. Danach ein winziger Rummelplatz mit Schießbude und Karussell, am Schießstand hält ein Mann ein Gewehr, vor dem Karussell wartet die Karusellfrau verdrießlich auf Gäste. Ein Sonnenstrahl sticht durch die Wolkendecke und ihr Gesichtsausdruck hellt sich auf. Der Rummelplatz ist das ganze Kulturangebot für unsere Bevölkerung! sagte Edith ironisch. Und dazu ab und zu ein Literaturball, antwortete ich. So langweilig war er ja gar nicht gewesen, ganz im Gegenteil. Meine Begleiterin, die Schöpferin jenes Balles, sah ich von der Seite, strahlte.

 

Hinter dem Platz mit der Schießbude und dem Karussell ein moderner Flachbau, auf dem das Wort Stadtcafé prangte. Jetzt gehen wir in unser bestes Café, sagte Edith. Ein hallenartiger Raum mit einer steril wirkenden großen Theke, Sprelacart. Eine große Uhr, die falsch ging. Von den Kellnern abgesehen keine Menschenseele. Na ja, ein Wochentag, sagte meine Begleiterin, und das Gefühl der Trostlosigkeit überkam mich von neuem, fühlte sich nicht hier leben müssen wie lebendig begraben sein an? Mir auf die Lippen beißen, um das nicht laut zu sagen. An einem Vierertisch unter einer gerahmten Urkunde mit Wettbewerbsergebnissen nahmen wir Platz. Licht flutete herein. Was aßen wir? Ein Steak, dazu tranken wir Rotwein, fällt mir ein, wenn ich über unsere Mahlzeit in dieser Gaststätte nachdenke; ohne Ediths vielsagende Bemerkung: Es gibt ja sonst kein Fleisch in dieser Stadt! hätte ich die Mahlzeit wahrscheinlich längst vergessen. Aber so erinnern sich meine Geschmacksnerven noch heute an das Steak, es schmeckte gut. Im besten Restaurant der Stadt, in welchem “die Prominenz” aß, ich war offensichtlich seit dem Literaturball ein Teil dieser “Prominenz”, gab es natürlich Fleisch. Edith schien beim Essen ganz hin zu sein. Wie sie mich anlächelte mit ihren regelmäßigen, sehr weißen Zähnen. Sie wollte am liebsten für den Rest ihres Lebens hier mit mir sitzen bleiben, schien dieses Lächeln zu sagen. Mich in ihrem Blick ausruhen können. Und wie sie ihre langen schlanken, von einem farblosen Nagellack glänzenden Finger flocht, fast zufrieden sah sie aus.

 

Worüber redeten wir, während wie die Steaks verschlangen und am Wein nippten? Über Wriezen (die fürchterlich zerstörte und auf öde Weise schnell wiederaufgebaute Stadt) und später, bevor wir aufbrachen, über Kulturpolitik. Wie immer bei diesem Thema hatte ich einen meiner Redeausbrüche, für die ich mich am nächsten Morgen nach dem Aufwachen schämte. Unsere Auffassungen, stellte sich heraus, lagen nicht weit auseinander. Diese geistige Enge und Unfreiheit seit der Biermann-Ausbürgerung! An die Demagogenverfolgung in Preußen Anfang des neunzehnten Jahrhunderts fühlte man sich erinnert, nicht? Edith fragte mich nach Schriftstellern, die ich kannte, wollte wissen, was sie über diese schier unerträgliche Situation dachten. Sie leiden, sagte ich. Mit Ausnahmen. Manche schmieren sich bei der Macht an. Bei wem konkret? Bei Gerhard Henniger, Sekretär des Schriftstellerverbandes, und bei Hermann Kant, dem Präsidenten, widerliche Funktionäre beide. Mit ungeteilter Aufmerksamkeit lauschte Edith.

 

Manchmal bewegte mich die Frage, war sie seit ihrer dramatischen Liebesgeschichte mit dem sowjetischen Soldaten, um die dreißig Jahre lag sie zurück, nicht furchtbar einsam? Einmal platzte die Frage aus mir heraus. Weder mit ja noch mit nein antwortete Edith. Ausweichend sagte sie, nun, sie betreibe jetzt, wie soll sie das ausdrücken… “Männerfang”. Einen Stapel Briefe baute sie in ihrer Wohnung vor mir auf; nach einer Heiratsanzeige in der Wochenpost hatte sie diese alle erhalten. Schau nur! Könntest du sie bitte lesen und auch die Durchschläge meiner Antworten darauf? Ich verstehe nicht, warum die meisten Männer nach meinem Antwortbrief nicht mehr schrieben. Sofort machte ich mich an die Lektüre. Danach sagte ich: Kein Wunder! So knapp und spröde deine Antworten; wie eine Absage klingen sie. Oder so, als hättest du noch werweißwieviele andere Heiratskandidaten auf Lager und bist an diesen hier nicht weiter interessiert! Wie meinst du das? Zum Beispiel schreibst du niemals “ich”. “Bin Bibliothekarin. Habe Ihre Zuschrift erhalten…” Höchstens sechs oder sieben Zeilen, kalt wie eine Aktennotiz. Welcher Mann sollte dich nach der Lektüre so eines Briefes näher kennen lernen wollen? Ich nicht, wenn ich ein Mann wäre, das sag ich dir. Aber zwei antworteten doch, kam leise Ediths Antwort. Und ich beschloss, sagte sie, die beiden kennenzulernen.

 

Zuerst ein Witwer, ehemaliger Lehrer in Rostock, jetzt Rentner. Sie hatte sich bei ihm angemeldet, stand vor seiner Wohnungstür und wagte nicht zu klingeln, weil sie auf dem Weg vom Bahnhof zu seiner Wohnung in den Regen gekommen war. Keinen Regenschirm hatte sie dabeigehabt, sah wahrscheinlich wie ein nasser Pudel aus. Mit dem nächsten Zug zurückfahren. Warum lädtst du ihn nicht nach Wriezen ein? Um Gotteswillen, was sagen die Leute im Haus, wenn bei mir immer andere Männer klingeln. Wenn schon, dann fahre ich dorthin, wo diese Männer wohnen und schaue sie mir mitsamt ihrer Wohnungen an. Ein Blick, und du lernst so viel über ihren Charakter.

 

In Frankfurt/Oder besuchte sie einen “Regisseur” (so stand es im Telefonbuch), eine verkrachte Existenz, dieser Eindruck überfiel sie sofort, als sie ihn sah; in der Konzert- und Gastspieldirektion hielt er manchmal Vorträge, sagte er. Am Bahnhof holte er sie ab, beinahe barsch klang es, als er sagte: Gehen wir zu mir nach Hause, ein Käffchen trinken! Die Wohnung starrte vor Schmutz, im Flur entdeckte sie Unmengen leerer Schnapsflaschen. Versoffen also. Den Kaffee, den er zubereitete, trank sie nicht, “aus Angst, dass er mir was reingemacht hat”. Sein Blick, hungrig und stier nannte sie ihn, erschreckte sie. Sie sagte sehr höflich: Sie sind leider nicht der Richtige für mich! nahm ihre Jacke und eilte davon. Das hätte ich dir aus dem Brief, den er dir auf deine Annonce hin geschrieben hatte, schon voraussagen können, neunmalklug sagte ich das. Nur schnell mal ins Bett springen, weiter wollte der nichts von dir. Der Brief des Rostocker Witwers dagegen war höflich und phantasievoll. Edith gestand mir, dass sie später noch einmal nach Rostock gefahren sei und ihn getroffen habe. Welch ein netter Mann! Nur mit der Größe haben Sie geschummelt! sagte sie ihm lachend zur Begrüßung. Schmunzelnd hatte er darauf geantwortet: Nein, frühmorgens bin ich wirklich einen Meter zweiundsechzig groß, schrumpfe nur etwas im Laufe des Tages. Was für ein strahlender Tag war das, schwärmte sie, und ganz als ein Gentleman habe er sich benommen. Lange Briefe austauschen; insofern war ihre Anzeige nicht ganz umsonst gewesen. Kein Mann für sie wegen der Körpergröße, schließlich überragte sie ihn wie ein Turm, aber ein Freund.

 

Zwei Monate später klingelte Edith Sturm bei mir in Berlin. Schön siehst du aus, sagte ich überrascht, und es liegt nicht nur an dem Lidstrich über den Augen und dem sachte aufgetragenen Lippenstift. Also, wenn es heißt, Liebe macht schön, dann stimmt das! sagte sie errötend, ob du siebzehn bist oder siebzig. Mein Herz klopft so stark, Gabi! Mit federnder Stimme erzählte sie mir noch im Flur: Ihr Telefon in der Bibliothek habe geklingelt, sie war gerade dabei eine Anschaffungsliste für neue Bücher anzufertigen, zu Hause hatte sie ja keinen Telefonanschluss. Eine ihr wohl bekannte Stimme sagte: Hier ist Erwin, ich bin jetzt geschieden, bist du noch frei? Im Augenblick noch, antwortete sie stotternd und fügte lachend hinzu: Aber du musst dich beeilen! Wer ist Erwin? fragte ich sie überrascht. Na, der Ingenieur aus Eisenhüttenstadt, neun Jahre älter als ich, schon ein bisschen trottelig, aber sonst…  Sie legte den Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aneinander und küsste ihre Fingerspitzen. Er war mein Kurschatten gewesen vor einigen Jahren zur Kur in Bansin, erzählte sie. Wie verliebt waren wir! Nach der Kur brach ich die Beziehung ab, wollte mich ja nicht in seine Ehe hängen, Heimlichtuerei wäre nötig gewesen, auf ihre Regeln lasse ich mich nicht ein. Aber neulich erklärte ihm Erwins Frau: Unsere Kinder sind erwachsen, ich such mir einen anderen Mann! Ließ sich scheiden…

 

Setz dich, Edith! Kaffee kochen ging ich. Sie folgte mir in die Küche und fuhr mit ihrer Geschichte fort: Dann bin ich bei dir bloß Lückenbüßer, habe sie am Telefon erwidert, obwohl ein Gefühl ihr sagte, so stand es ganz gewiss nicht um seine Gefühle. Letztes Wochenende waren wir in Prenzlau, er hatte ein Hotelzimmer reserviert. Mein Gott, wir waren wie die Kinder! Schwebten umher und kusselten uns. Und tanzen kann er! Wie schwungvoll, obwohl er dieses steife Fußgelenk hat und orthopädische Schuhe tragen muss. Und in der Partei ist er auch nicht, kritisch wie ich denkt er über den Staat. Am Wochenende kommt er nach Wriezen, soll er kommen! Sollen die Leute gaffen! Ich hol ihn sogar an der Bushaltestelle ab, obwohl meine Kollegin dort wohnt und immer, wenn ein Bus kommt, neugierig aus dem Fenster hängt. Hab schon zu meinem Sohn gesagt: Also, hör mal, deine Mutter, die hatte ja ein ganz schön turbulentes Jahr. So ein Verschleiß an Männern! Und jetzt hat sie den Richtigen gefunden! Da freu ich mich für dich, du hast ja so viel nachzuholen! antwortete er. Edith strahlte. Nie hatte ich gedacht, dass sie einmal so strahlen würde. Wenn alles gut geht, ziehe sie bald zu ihrem Freund. Aus Wriezen weg sein. Weg für immer! Ach, Wriezen! Wie oft habe ich sie die zwei Wörter schon sagen hören im Laufe der Zeit, mit einem seufzenden Ton. Tagsüber habe ich meine Arbeit, sagte sie einmal. Aber abends? Da guckst du nur in die Flimmerkiste.

 

Wieder Herbst war es während meines zweiten (oder war es während meines drittens?) Besuchs in Wriezen gewesen. Bewegungssüchtig drängte ich Edith zu langen Spaziergängen. Windböen schüttelten gelbes Laub aus den Bäumen und wirbelten es vor unseren Augen herum. Wieder schwelgte ich im Anblick der weichen, von Bächen durchzogenen Hügellandschaft, die sich mit ihren abgeernteten grauen oder braunen Äckern bis zum Horizont erstreckte. Wieder hingen die Holunderbüsche voller dicker, überreifer schwarzer Beeren, die danach schrien geerntet zu werden. Hast du dir im vergangenen Jahr eine Holundersuppe gekocht, Edith? Das Rezept hatte ich ihr aufgeschrieben. Leider war sie nicht dazu gekommen. Bevor ich mit dem Bus zurückfuhr, kaufte sie mir an einem Blumenkiosk einen großen Strauß Chrysanthemen.

 

Bei meinem nächsten Besuch in Wriezen (keine Einladung zu einer Lesung diesmal, ich wollte einfach Edith sehen und dazu den Himmel, der sich über der Oderlandschaft so viel weiter wölbte als in Berlin) kein Wort mehr über Erwin aus Ediths Mund. Ein Gefühl verbot mir nach ihm zu fragen. Stattdessen klagte sie: Der Sohn, der Sohn! Die Sorge um ihn umschnürte ihr Herz. Ihre Schultern bebten. Sie besuchte ihn im Gefängnis, in Cottbus war das. So oft, wie es nur geht, besuche ich ihn, Gabi! Ach, würde er doch bald freigekauft! Die Ungewissheit des Ausgangs der Geschichte zerrte an ihren Nerven. In die DDR wollte er nach der Verbüßung seiner Haftstrafe nicht zurück. Einen Freund besaß er in Westberlin, der hatte ihn über die Jahre in Rostock, Ediths Sohn arbeitete auf der Werft als Zimmermann, besucht; mit diesem Freund wollte er leben. Aber dann siehst du ihn nicht mehr, bis du in Rente gehst, Edith! rutschte es mir heraus. Natürlich wollte sie für ihn, den über alles geliebten Jungen, nur das, was er selbst wollte, und das waren die Stadt Westberlin und der Freund, der dort lebte! Ihre eigenen Wünsche zählten für sie seinen Wünschen gegenüber nicht. Während sie das sagte, versuchte sie ein paar Tränen aus den Augen wegzublinzeln.

 

Während unseres Spaziergangs, kein Herbst diesmal, keine Holunderbeeren, nur blühende weiße Dolden, deren süßer Duft uns umfing (und ich biss mir auf die Zunge, um Edith nicht sofort das Rezept für eine Holunderlimonade aufzudrängen, die man aus den Dolden kochen konnte), schauten wir eine Weile einem Specht zu, an einem Baumstamm hackte er. Plötzlich sagte Eva: Weißt du, mein Sohn… Mit sechzehn hatte er eine Freundin. Aber die Frau sagte ihr, als sie sich neulich vor dem Fleischerladen beim Schlangestehen unterhielten, es war nicht dasselbe wie mit einem anderen jungen Mann. Nicht küssen wollte er sie und auch nicht anfassen. Aber wozu brauchte er dann eine Freundin? Edith zuckte nur mit den Achseln. Dass ihr Sohn homosexuell war, nicht zu gestehen wagte sie es. Niemanden in Wriezen ging das etwas an. Darauf sagte Edith, sie wisse nicht mehr, welches Schulbuch es war, aber bestimmte Unterrichtsmaterialien, von denen ihr Sohn beim Abendessen manchmal erzählte, stellten Homosexualität als pathologisch dar. Verängstigt von der Lektüre, hatte er damals beschlossen, eine Freundin zu finden… Auf diese Art erklärte sich Edith die enge Freundschaft ihres Sohnes mit jener Frau.

 

In einem besserwisserischen Ton, für den ich mich heute schäme, entgegnete ich: So schlimm geht es Homosexuellen gar nicht mehr in der DDR. Jedenfalls ist der Paragraph 175 im Strafgesetzbuch, der Homosexualität kriminalisiert hatte, getilgt worden. Stimmt, sagte Edith, grobe Gewalt von Seiten der Polizei… so etwas hatte ihr Sohn in Rostock, wo er seine Homosexualität nicht versteckte, zum Glück nicht erfahren, nur in Wriezen versteckte er sie. Aber in der Öffentlichkeit… dort würden Homosexuelle immer noch angegriffen, homophobe Beschimpfungen; einer seiner besten Freunde war verbal niedergemacht und danach verprügelt worden, das Leben hatte er sich daraufhin genommen. Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt, dreiundsiebzig im Westfernsehen ausgestrahlt und auch in der DDR gesehen, hatte ihn elektrisiert. Dann fand er heraus, dass den homosexuellen Opfern der Hitler-Diktatur die Mitgliedschaft in den Opferverbänden “Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes” und “Opfer des Faschismus” verwehrt wurde. Ungeheuerlich fand er das. Wir fanden das auch, Edith und ich, auf unserer Bank, von der aus wir dem Specht zuschauten und seinem tak, tak, tak lauschten. Einen Augenblick lang dachten wir an die hoffentlich baldige Erlösung der Homosexuellen in der DDR, als handele es sich um die Erlösung der Menschheit.

 

Das Gefängnis. Ihre Haushalttage benutzte Edith, um ihren Sohn dort zu besuchen. Äpfel brachte sie ihm regelmäßig, was anderes, sagte sie, darf ich ihm nicht mitbringen, Bücher auf keinen Fall. Die Atmosphäre dort, Gabi! Massen von Uniformierten, überall rasselt und knackt und summt es. Die Geräusche spuken dir in die Träume hinein… Kürzlich war sie wegen einer Verletzung an ihrer Wirbelsäule für vier Wochen krankgeschrieben. Nach einer Woche bereits die Vorladung vor eine Ärztekommission. Überprüfung, ob sie auch wirklich krank sei. Diese Kommission käme, wurde ihr mitgeteilt, im Auftrag der Abteilung Inneres des “Rat des Kreises”. Die Mitglieder der Kommission schauten auf die ihre Krankeit betreffenden Röntgenbilder und bestätigten die Korrektheit der Krankschreibung. Aber bevor die vier Wochen abgelaufen waren, ließ sich Edith gesundschreiben und nahm sofort den ihr zustehenden Haushaltstag, um ihren Sohn besuchen zu können. Nach ihrer Rückkehr ihre Bestellung zum stellvertretenden Bürgermeister. Lackaffe der Mann. Wenn er seine Eitelkeit wenigstens mit einer Spur Ironie zur Schau tragen könnte. Ein Disziplinarverfahren wollte er eröffnen. Die Kollegin der Abteilung Inneres habe ihr mit einem Blumenstrauß einen Krankenbesuch abstatten wollen, aber sie war nicht zu Hause gewesen. Verreisen, wenn man krankgeschrieben ist? Edith stellte die Sache richtig. Haushaltstag! Ach, erzählen Sie mir doch nichts! fuhr er sie an. Mit einigen Telefonanrufen überprüfte er ihre Aussagen. Darauf betretenes Schweigen… Nun warten sie auf eine neue Gelegenheit, um mir eins auswischen zu können, sagt Edith. Was das sein könnte, beschäftigte sie so stark, dass ihr Verstand, so stellte ich mir beim Zuhören vor, alles verwarf, was nichts mit diesem Problem zu tun hatte. Dazu die irrationalen Impulse, die sie bedrängten, beherrschen zu lernen; wieviel inneren Stress hält ein Mensch aus. Und die Kollegen geben alle vor, sie wüssten nichts von der Inhaftierung meines Sohnes!

 

Bei welchem meiner Besuche in Wriezen erzählte sie mir von ihrer eigenen Inhaftierung? Allein, dass es während eines Spaziergangs war, fällt mir noch ein. Ein verwildertes Gleisbett gingen wir entlang, irgendwo rumorte Wasser, als Edith plötzlich sagte: Auch ich saß ja einmal hinter Schloss und Riegel. Dann rollte mit einem Himmel voller Wogenkämme ein Gewitter heran. Ein grimmig kalt wehender Wind kam auf. Nach Hause eilen.

 

Ohne Punkt und Komma redend, teilte Edith mir später als eine Art Vorbereitung auf den Bericht über ihre politische Haft ihre Lebensgeschichte mit, die mir noch lange nachgehen sollte. Eher ein Schauerstück als ein Lebenslauf, dachte ich spontan. Und ich staunte: Wieviel Selbstbehauptungskraft diese Frau besitzt! Im Westteil Berlins geboren, eins von fünf Kindern. Krieg. Ausgebombt, zogen Mutter und Kinder nach Mecklenburg um. Nach dem Schulabschluss kam die Zeit der Lehre, Edith wollte Buchhändlerin werden, aber es gab dafür weit und breit keine Lehrstelle, deshalb wurde sie Maurer. Schwer die Arbeit auf dem Bau, viel zu schwer, lange hielt sie sie nicht durch. Ein Vorgesetzter sah ihren guten Willen und fragte sie: Willst du nicht für die FDJ-Kreisleitung arbeiten? Erleichtert darüber von der körperlichen Schwerstarbeit wegzukommen, sagte sie zu.

 

Politische Schulungen, aus denen sie als eine “Zweihundertprozentige”, dieses Wort gebrauchte sie selbstironisch, hervorging. Politisch eingelullt eben. Verbohrt, vielleicht ist das ein Wort dafür. Sich vor Einsatzbereitschaft für das, was sie die Sache nannte, schier überschlagen. Zu Hause nannten sie sie “die Rote”. Schickten ihr zum Beispiel Verwandte aus Westberlin ein Lebensmittelpaket, schickte sie es zurück: Vom Klassenfeind will ich nichts, lieber hungern! Danach arbeitete sie als Pionierleiterin. In diese Zeit fiel ihre heimliche Liebesgeschichte mit dem sowjetischen Soldaten. “Die ganz große Liebe war das!” Viel Ärger in Wriezen, als ihre Schwangerschaft sichtbar wurde. An einen anderen Ort in der DDR wurde ihr Geliebter zunächst versetzt. Weit, weit weg. Unter der Verliebtheit leiden wie unter einer schweren Krankheit, beiden erging es so. Mit Bitten um eine Heiratsgenehmigung bombardierten sie die sowjetische Botschaft. Njet! Er sei für sie ein Ausländer, hieß es vorwurfsvoll. Mit Ausländern lasse man sich nicht ein. Wenn sie das Kind nicht wolle, käme es nach der Geburt in ein sowjetisches Kinderheim. Natürlich wollte sie es. Aber kein Kindergeld gibt es! wurde ihr mitgeteilt. An diesem Punkt begann Ediths politische Desillusionierung. Ihr geringes Gehalt reichte nicht aus, um sich und das Kind zu ernähren. Da ihr Vater schwer krank war, ein Pflegefall, konnten die Eltern sie nicht finanziell unterstützen. Am Hungertuch nagen. Dazu das Kopfkissen umarmen jede Nacht aus Sehnsucht nach dem Geliebten. Während ich Edith aufmerksam zuhörte, fühlte ich, dass ich in diesem Augenblick etwas Wichtiges lernte über die frühen Jahre der DDR, aber nicht in klare Gedanken zu fassen vermochte ich meine Gefühle damals, noch war ich nicht so weit. Nur einzelne Ausdrücke wirbelten mir in Kopf umher: Bau auf, bau auf! Fanfarenzug. Die verschärfte ideologische Auseinandersetzung. Unsere Heimat. Angstschweiß. Sind nicht nur die Städte und Dörfer. Marschkolonne. Klartext reden. Blaue Wimpel im Sommerwind.

 

Zwei war ihr Kind gewesen, als Freunde in Bad Freienwalde sie mit einem jungen Westberliner bekannt machten. Er gefiel ihr. Keine neue große Liebe erwuchs aus der Bekanntschaft, die erlebst du nur einmal im Leben, aber ein Rausch, ja, ein Rausch war es schon. Er schlug ihr vor, zu ihm nach Westberlin umzuziehen und in seinem Werk zu arbeiten, Glühlampen stellten sie dort her, man würde ihr bestimmt eine Stelle anbieten. Nicht zu schwer sei die Arbeit, und man verdiente gut. Das Kind könne sie inzwischen bei ihrer Mutter lassen. Sie würden ihr Lebensmittelpakete schicken. Später würden sie das Kind nachholen. Ich nehme die Einladung an, sagte Edith stürmisch. Problemlos bekam sie die Arbeitsstelle, vertrug sich auch gut mit dem neuen Freund. Gar nicht schlecht dieses neue Leben. Allein ihr Kind vermisste sie. Vier war es, als ihre Mutter schrieb, so sehr verschlechtere sich der Gesundheitszustand des Vaters, rund um die Uhr benötige er ihre Pflege, deshalb könne sie sich um das Kind nicht mehr kümmern. Bitte, lass es holen! Das wollte Edith, ja, natürlich, aber ihr Freund war dagegen. Wir brauchen dein Kind hier nicht! Auch ihr Vermieter, obwohl er ein freundlicher und großzügiger Berliner Polizist war, entschied sich gegen Ediths Sohn. Keine Kleinkinder im Haus erlaubt! Schweren Herzens kehrte Edith, neunzehnhundertachtundfünfzig war es, zu ihrem Kind zurück. Dass sie in der DDR auf der Stelle verhaftet werden würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Aus der Partei war sie bereits während ihrer Abwesenheit ausgeschlossen worden, teilte man ihr nach der Verhaftung trocken mit, Vaterlandsverrat und Republikflucht. Elf Monate Gefängnis. Schwer diese Zeit. Nur einige Andeutungen darüber, wie schwer sie war, vermochte Edith aus sich herauszureißen. In Häftlingskleidung sehe ich sie vor dem vergitterten Zellenfester auf den Zehenspitzen stehen, ins Schneetreiben hinausstarrend. Nach dem Ablauf der Haft noch zwei Jahre Schwerstarbeit “zur Bewährung”; in einem Kaff an der Oder musste sie in einem Stall arbeiten, Mist schaufeln. Weiter erzählt sie: Als eine Art Verbannung musst du dir das vorstellen, Gabi! Die Hoffnungslosigkeit, wenn sie an die Zukunft dachte. Aber wenigstens hatte sie jetzt jeden Tag ihr Kind um sich, den kleinen Jungen mit den weichen Locken, der sie an ihren sowjetischen Soldaten und dessen Zärtlichkeiten erinnerte! Mitgefühl mit Edith überschwemmte mich an dieser Stelle des Berichts. Einen von Eschen gesäumten Weg gingen wir entlang. Gänsegeschnatter. Ein Hund wälzte sich im Gras. Wie das Wetter war, fällt mir nicht mehr ein. Nur noch an mein starkes Mitgefühl, das mich beinahe umriss, erinnere ich mich.

 

Nach einem Jahr in jenem Dorf bat sie darum, von der schweren körperlichen Arbeit erlöst zu werden; die Schule suchte dringend eine Pionierleiterin, mit dieser Arbeit hatte sie Erfahrung, Fröhlichsein und Singen. Der Bürgermeister, ein gütiger Mann, war mit ihrem Arbeitswechsel einverstanden, aber sofort kam jemand vom Rat des Kreises und sagte: Als eine Vaterlandsverräterin sei sie nicht würdig Kinder zu erziehen. Nach einem Verzweiflungsanfall fand sie die Courage einen Brief an Wilhelm Pieck zu schreiben; da sie der Post nicht traute, fuhr sie mit dem Bus nach Berlin und gab den Brief beim Pförtner seiner Dienststelle ab. Eine Kommission aus der Hauptstadt erschien, studierte ihre Kaderakte und nahm ihre Situation an diesem Ort genau unter die Lupe. Ob sie nicht in Wriezen in der Bibliothek arbeiten wolle? Diese Frage stellte man ihr schließlich. Neben der Arbeit würde sie sich zu einer Bibliothekarin qualifizieren müssen, dazu wäre ein Fernstudium erforderlich. Natürlich wollte sie das. O ja. Mit Büchern arbeiten! Ihr Umzug nach Wriezen. Keine vibrierende Stadt, das wusste sie ja bereits. Aber besser als das Kaff war sie allemal. Und nach Jahren fleißiger Arbeit voller Berufsleidenschaft wurde sie zur Leiterin der Bibliothek befördert, dazu bekamen sie und ihr Sohn diese Neubauwohnung mit Fernheizung zugewiesen, in der sie heute noch lebte.

 

Also, alles in Butter jetzt, mehr oder weniger, sagte ich am Ende ihres langen Berichts. Ja, wenn ihre Kollegin, Frau N., nicht wäre. Eine faule Bibliothekarin, aber fanatisches Parteimitglied, außerdem karrieremäßig stark ambitioniert, eine zu jeder Schandtat bereite Person. Seit Jahren beargwöhne sie Edith. Vielleicht bildest du dir das nur ein, sagte ich. Nein, denn der Parteisekretär vom Rat der Stadt, dem die Bibliothek angeschlossen sei, habe Edith neulich zugeflüstert: Es gibt eine Eingabe gegen Sie an den Rat des Kreises mit Kopien an die Bezirksbibliothek und noch an drei andere höhere Stellen. Darin steht, Sie würden nachlässig arbeiten, den ganzen Tag nur mit Besuchern schwafeln und dabei Ansichten vertreten, die politisch unzulässig sind. Diese Eingabe trug die Unterschrift von Frau N. Ich möchte, dass Sie Bescheid wissen, schon bald komme eine Untersuchungskommission vom Bezirk. Haltung zeigen, befahl sich Edith, so gut es geht!

 

Wie fühlte sich das Leben für mich an, wenn Ediths mein Leben wäre? fragte ich mich beim Zuhören manchmal. Beschissen. Ein besseres Wort fiel mir nicht dafür ein. Deine Rückkehr aus Westberlin war ein Fehler gewesen, sagte ich. Natürlich war sie das, sagte sie. Darauf widersprach sie sich heftig: Nein, mein Sohn wäre in der DDR in ein Kinderheim gekommen. Und ich hätte diese politische Desillusionierung nicht erlebt. Wo all die großen Sätze ihren Sinn verlieren. Ein Denkumsturz. Das heißt, ich wäre noch heute eine Zweihundertprozentige, selbst als Westberlinerin. Na ja, wenigstens eine Hundertprozentige, korrigierte sie sich mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. Nach all den Phrasen über den Sozialismus, die uns in der Schule eingetrichtert worden waren, war mein Gehirn noch verkleistert, ich brauchte die Hafterfahrung als ein inneres Gegengewicht. Du weißt nicht, wie das ist, in einem DDR-Gefängnis. Und jetzt steckt mein armer Sohn da drin.

 

Jahre später, wann genau war das, feierten wir einmal Silvester zusammen; Edith, diese trotz allem Leid immer offene, dem Leben zugewandte Frau, nie schien Trübsinn über sie zu kommen, hatte entschieden: Tanzen wir uns ins Neue Jahr hinein! Zwei Karten hatte sie erstanden für eine große Silvesterfeier mit Tanzkapelle in einem Restaurant in Neubrandenburg. Eine Karte für sich selbst, die zweite Karte schenkte sie mir. Edith holte mich am Bahnhof ab, mit Schneeregen hieß uns die fremde Stadt willkommen. Kinder trugen Mützen mit Ohrenklappen. Der Wind trieb Papierfetzen über den Schnee. Vergilbte Bilder nur mehr in der Erinnerung. An unsere Stimmen erinnere ich mich besser. Um die Wette redeten wir in dem Hotelzimmer, für das wir uns die Kosten teilten, während wir uns für die Feier ankleideten. Wieviel gab es zu reden. Mein Konflikt mit der Macht, um ein verbotenes Buch ging es, hatte sich hochgeschaukelt im Laufe der Zeit; was für ein Hangen und Bangen, ganz dicht daran durchzudrehen war ich in jenen Tagen. Mach dir nichts aus dem ganzen Scheiß! sagte Edith von der Bettkante her, auf der sie saß, um sich die Strümpfe anzuziehen. Schreib etwas Neues und veröffentliche es im Westen! Hatte ich nicht gefühlt in diesem Moment, dass etwas nicht aufging? Zu forsch Ediths Ton, als sie mir diesen Rat gab. Und ihre Augen, sonst waren es immer ihre Augen, die redeten, schwiegen.

 

Danach ein ausführlicher Bericht über ihren Sohn. Seit seinem Freikauf aus dem DDR-Gefängnis lebte er in Westberlin. Bescheiden ihr weinrotes Kleid, aber nicht schmucklos, dachte ich, während ich, in Gedanken mit meinen Zensurproblemen befasst, ihr nur halb zuhörte. Nach einem tiefen Seufzer riss sie mich mit den Worten: Aber wie soll ich das sagen! aus meinen Gedanken. Mehrfach Anlauf nahm sie, als müsste sie erst überlegen, wie sie sich ausdrücken sollte. Ganz knapp dann: Krank mein Sohn, AIDS. Good Lord! So etwas in dieser Art muss ich gedacht haben. Hoffentlich kann er geheilt werden, sagte sie; ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu verraten, ich hatte gelesen, dass es für AIDS keine Heilung gab. Zum Glück, fügte Edith hinzu, darf ich ihn besuchen. Du darfst nach Westberlin? Weit riss ich den Mund auf. Ja, sagte sie leise. So sehr freute ich mich darüber, dass sie ihren schwer kranken Sohn in Westberlin besuchen durfte, dass ich zu fragen vergaß: Für welchen Preis? Was dieser Preis war, erst Jahrzehnte später, als ich meine Akte OV “Ecke” las, erfuhr ich es. Die DDR, Mielkes Hort des Schreckens. Wieviele Nächte lang hatte Edith sich schlaflos herumgewälzt, bis sie sich dafür entschied, eine Verpflichtungserklärung der Staatssicherheit zu unterschreiben? Zur Mitarbeit erpresst hatten sie sie.

 

Nein, Ediths Geschichte darf ich nicht unter den Tisch fallen lassen.

Blasse Umrisse eines mit Girlanden geschmückten Saals in jener Silvesternacht in Neubrandenburg. Vierertische. Edith und ich teilten einen Tisch mit einem ortsansässigen älteren Ehepaar. Sympathischer Mann mit einem dicken Bauch, der, so erklärte er uns lachend, kein Bier-, sondern ein Nussbauch war. Den ganzen Tag knabbere er Nüsse. Die Frau, Bibliothekarin von Beruf, begann sofort mit Edith zu fachsimpeln. Fehlerlos gebaute Kataloge, Regalaufstellungen, Aussonderungslisten… Rasch trinke ich mir einen Schwips an und stelle die Frage: Haben Sie auch Nietzsche in Ihrer Bibliothek? Während meines Philosophiestudiums wollte ich Nietzsche lesen, aber es war nicht erlaubt. In einer Vorlesung über bürgerliche Ideologie wurde der Philosoph nur auf Reizwörter abgeklopft und dann marxistisch-leninistisch zerfetzt, ich möchte seine Bücher aber gern selbst lesen! Leider nicht, sagte die Frau mit einem verständnisvollen Lächeln. Bei der Reinigung der Bibliotheksbestände nach dem Krieg wurde Nietzsche… Tanzmusik setzt dröhnend ein, die die Gespräche erstickt… Edith und ich tanzen zusammen, Rock’n Roll. Schweiß rinnt uns übers Gesicht. Am Ende des Abends das Knallen von Feuerwerkskörpern. Sekt. Erste blasse Streifen zeigten sich bereits am Himmel, als wir zu unserem Hotel zurückstolperten. Auf allen Vieren kletterte ich die Stufen zu unserem Zimmer hoch, während ich über Edith staunte. Nicht, dass sie gerade ging. Sie wankte, doch sie hielt sich auf den Beinen.

 

Mit Erinnerungsbildern die Zeit zurückholen. Ediths synthetische DDR-Damenunterwäsche an einem Haken im Badezimmer. Haargenau die gleiche Unterwäsche, die ich selbst trug! dachte ich. Trugen alle Frauen in der DDR die gleiche Unterwäsche? Ediths Stolz in den Augen, als sie sagte: So viel Wagemut hatte ich meinem Sohn damals eigentlich gar nicht zugetraut, Fluchtversuch! Einen sandigen Weg gehen wir entlang in einem anderen Bild. Schatten bewegen sich auf dem Rasen zu unserer Linken wie über eine Tastatur fliegende Hände. Plötzlich zuckt Edith zusammen, als habe eine Phantomhand sie am Arm berührt.

 

Nur einmal war ich im Winter in Wriezen. Kahle Bäume griffen in die Januarluft. Trotz der scharfen Kälte schafften wir es an die Oder. Die Augen mit einer Hand abschirmend, schauten wir auf den Fluss. Schau doch nur, Edith, schau mal! Grelle Reflexionen der Sonne auf dem gleißenden Eis, das sich in großen Quadern übereinander geschoben hatte. Sieht das nicht wie ein Gemälde von Caspar David Friedrich aus? In diesem Augenblick zerrissen Schüsse die Luft. Ein auffliegender Krähenschwarm.

 

Das letzte Mal hörte ich von Edith im Januar siebenundachtzig. Ich hatte zur Frankfurter Buchmesse reisen dürfen, war enttäuscht von meinem Aufenthalt in der Bundesrepublik in die DDR zurückgekehrt und hatte im Spiegel etwas über meine Gründe für diese Rückkehr veröffentlicht. Edith hatte den Artikel gelesen, rief mich aus Wriezen an und sagte: Bitte, Gabi, werd mir jetzt keine artige DDR-Bürgerin! Ganz Wriezen wäre von dir enttäuscht. Den Bürgermeister, den Leiter der Geflügelfabrik, den Oberförster, den Pfarrer samt Ehefrauen – ich sah sie alle in Gedanken vor mir. Enttäuscht? Wirklich? Wenn das so war, war die DDR nicht mehr zu retten, dachte ich lachend und schmiedete weiter an meinem Plan nach Amerika auszuwandern. Bereits gepackt die Koffer. Weg aus Deutschland! Aus Minnesota schrieb ich Edith etwa ein Jahr später einen langen Brief nach Wriezen. Keine Antwort. Wahrscheinlich hatte sie meine Post nicht erhalten.

 

Träfen wir uns heute, Edith und ich, worüber redeten wir? Über das Alter. Wieviel tiefer deine Augen in den Höhlen liegen! würde ich vielleicht sagen, davon abgesehen siehst du noch genauso aus wie damals. Bis auf die Falten, antwortete sie mit einer brüchigen Stimme, einen Schuss Selbstironie hatte sie immer besessen. Der Tod des Sohns das nächste Thema. Noch Jahre hatte es nach unserer Silvesterfeier in Neubrandenburg gedauert, bis ein Medikament entwickelt werden konnte, welches Aidskranken zu überleben ermöglichte. So lange hatte ihr Sohn vermutlich nicht durchgehalten. Ein Schwerthieb sein Tod, schlecht vernarbt die Wunde in Ediths Gedächtnis. Mein lieber, guter Junge! Wie oft waren diese Worte über ihre Lippen gekommen im Laufe der Jahre. Als nächstes Gesprächsthema Erklärungen dafür finden, warum wir beide, eine kurze Zeit lang, inoffizielle Mitarbeiterinnen der Staatssicherheit gewesen waren. Dieses machtgeilen Scheißvereins. Siebzehn war ich, als ich angeworben wurde, noch nicht ich selbst, würde ich sagen und mir sofort widersprechen: Naiv und gutgläubig gewesen sein ist keine Entschuldigung. Steh Rede! Als ich Edith kennenlernte, war ich schon lange ausgestiegen. Sogenannte “Operativakten” wurden über mich geführt, das heißt, ich wurde auf Schritt und Tritt überwacht. War Edith meinetwegen zur Mitarbeit erpresst worden? Aus ihrem Bericht über mich, er war im Grunde nichtssagend, ging die Antwort auf diese Frage nicht hervor. Wie es sich anfühlt, den scarlet letter zu tragen, darüber redeten wir auch. Der Klatsch in Wriezen. Durchgehechelt werden. Vor Scham die Hände vors Gesicht schlagen. Aber Edith hatte ja bereits ihre Erfahrung damit gemacht, war abgehärtet, was Klatsch betraf. “Russenbalg!” hatte es gezischelt, damals, als sie ihr Kind im Kinderwagen in der Mitte der fünfziger Jahre durch die gesichtslosen Straßen Wriezens schob. Meine hilflosen Versuche mir Ediths Leben nach der Wende vorzustellen. In der Stadtbibliothek hatte sie auch weiterhin gearbeitet, erfuhr ich, als ich einmal dort anrief und fragte, ob sie sich an eine Edith K. erinnerten. Sie gaben mir ihre Adresse, schon sehr alt und hinfällig, lebe sie in einem Heim. Ich fasste mir ein Herz und schrieb ihr. Keine Antwort.

 

Kaum auszuhalten der Gedanke, dass Edith K. nur dieses eine Leben hatte.

Lange einsame Straße durch eine Wüste, die den Namen DDR trug.

 

Gabriele Eckart is a regular contributor to Glossen. Her last Recent Post was “22.2.22”. Her other recent publications with Königshausen & Neumann are SchrappelVogtlandstimmen, and Havelobst.

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