Nov 2013

Harri Engelmann

Dill & Sahnetorte  — Eine Poetik für die Hosentasche

Behauptet jemand, ein Instrument zu beherrschen, Gitarre, womöglich Geige oder Klavier, regt sich in uns stilles Bewundern. Gibt er gar eine Kostprobe von seinem Können, nicken wir: ja, er kann’s. Auch wenn wir völlig unmusikalisch sind: wir haben ein tiefsitzendes Gefühl für Harmonien in uns. Könnerschaft offenbart sich uns durch diese Gabe, eventuelle Scharlatanerie ebenso. Er zwingt es nicht, heißt es dann: er vergreife sich in den Saiten, treffe nicht den Ton. Wird nun von einem berichtet, dass er schreibe, sich also literarisch betätige, macht sich mitunter Ratlosigkeit breit. Er ist unter die Dichter gegangen, lautet eine gängige Redewendung – nicht ganz frei von Ironie. Denn diese Art sich künstlerisch zu betätigen ist hoch angebunden und wenig durchschaubar zugleich. Lässt der angehende Autor sein Tun durchblicken,  im Bekanntenkreis oder vor Kollegen, kann es sein, dass Unbedarfte an ihm vorbeischauen: „Reichst du mir bitte mal die Kaffeesahne herüber!“ Sie wittern Anmaßung. Freunde dagegen, vorausgesetzt, es handelt sich nicht um versierte Leser – versiert in dem Sinne, dass sie Texte auf ihre Struktur hin, nach Qualität zu beurteilen vermögen -, lesen etwas von dem Eleven, nicken und sagen: „Ganz toll! Hat mir gut gefallen.“ Auch wenn es sich um den größten Schwachsinn handeln mag. Denn die Zahl der Leserschaft  die beim Lesen gleichzeitig das „Räderwerk“ sieht, ist verschwindend gering. Unsicherheit breitet sich aus und verführt. Vielleicht hat jemand von ihnen „Ulysses“ von James Joyce in der Hand gehabt, das Buch nach dreißig Seiten geschlossen und gemeint, das sei zu hoch für ihn. Und bevor er seinem Freund oder der Freundin attestiert, dass er beim Lesen des Selbstverfassten Kopfschmerzen bekam, neigt er lieber zum Lob. „Wer weiß, vielleicht ist der so eine Art Joyce und ich kann es nicht erkennen.“ Aufatmen dagegen, wenn Dritte ihr Urteil abgeben, die Medien zum Beispiel. Dann herrscht Klarheit: Wer in der Zeitung steht, muss was können.

Manchmal, oft nach einer Buchlesung, bittet mich jemand, sein Geschriebenes zu beurteilen. Klar, mache ich, sage ich dann. Denn ich habe ein Glas Rotwein intus, stand auf wunderbare Weise im Mittelpunkt und mag nicht als Ignorant gelten. Obgleich Textanalyse  eine respektable Arbeit ist:  Unfertiges liest sich schwer. Und bis auf ein, zwei Ausnahmen war ich bislang der Überbringer schlechter Nachrichten. Eine Gitarre spielt sich nicht von allein. Man lernt Griffe, versucht den Ton zu treffen und übt solange, bis man ihr wahrhaftig eine kleine Melodie entlockt. Oder man lässt es, weil man spürt: das Talent reicht nicht. Schreiben dagegen kann jeder – das verführt. Als mein Buch „Aufzeichnungen eines Autoverkäufers“ in den Handel kam, hielt ein Taxifahrer neben mir, ließ die Seitenscheibe herunter und rief dröhnend, dass er mein Buch gelesen habe. Er müsse hier noch zwei Jahre seine Runden durch Rostock drehen, dann gehe er in Rente und schreibe darüber. Ob er denn mit dem Schreiben von Geschichten vertraut sei, fragte ich. „Nein“, antwortete er und sah mich, als hätte ich soeben seine Fahrkünste in Zweifel gezogen. „Ich habe in dieser Hütte soviel erlebt, das reicht für drei Bücher.“ Ich hätte ihm reinen Wein einschenken sollen: Abenteuer erleben und aufschreiben – zwei völlig verschiedene Abteilungen. Wie lange es dauerte, bis ich das begriff. Und wie ich mein eigener Zeuge wurde,  als die „Tornados“, die in meinem Geist wirbelten, sich in laue Lüftchen verwandelten, sobald ich versuchte, sie in  Sätzen zu bannen.

Institut für Literatur in Leipzig kurz nach meiner Immatrikulation. Ein Dozent, weißhaarig, spöttischer Blick, die Schultern ein wenig eingezogen wie ein römischer Konsul den die Tage plagen, und der die letzten damit verbringt, auf Volk und Senat herabzuschauen – eine Legende in diesem Haus. Er steht vor der Seminargruppe und hebt einen dicken Wälzer in die Höhe. „Dieser Mann“, deklamiert er, „hat tausend Seiten über literarischen Stil geschrieben. Ich würde empfehlen“, er macht eine Pause und schaut in die Runde, „ihn nicht zu lesen.“ Und mit  theatralischem Schwung wirft er das Exemplar hinter sich auf den Tisch. Es staubt, und in die Stille hinein fügt er hinzu, dass er uns grundsätzlich raten müsse, um solche Schwarten einen großen Bogen zu machen. – Damals war ich müde; wir hatten am Vorabend gefeiert. Doch als der Mann dort seine Performance bot, richtete ich mich auf. Was war das  für einer? Denn ich hatte bislang so ziemlich alles gelesen, was mir diesbezüglich unter die Finger geraten war: Arthur Schopenhauer „Über Schriftstellerei und Stil“, Wygotski „Psychologie der Kunst“, „Handbuch der Schreibkunst“, „Vom Handwerk des Schreibens“, und ich war stolz darauf, dass ich die Schriften bewältig hatte. Ein alter Kerl, dachte ich, ihm hängt das ganze hier zum Hals heraus, und nun versucht er seinen Überdruss deckungsgleich auf uns zu übertragen. Heute weiß ich, dass er recht hatte. Natürlich ist Wissen vonnöten; weitaus wichtiger aber ist, dem eigenen Rhythmus nachzuspüren, dem „Sendungsbewusstsein“ zu misstrauen, den Einfällen in die Zügel zu greifen, sobald sie den Anschein erwecken, über die Erzählung hinaus zu galoppieren, und nicht zuletzt: dem warmen Wannenbad des Aufgebens zu widerstehen. Denn es gibt beim Schreiben keinen tosenden Beifall, keine sich immer wieder hebenden Vorhänge, kein verständnisvolles Nicken. Wenn es dumm kommt, gibt es das: Kaffeeflecken, übervolle Aschenbecher und den Verdacht, dass man doch eigentlich und genaugenommen ein Spinner sei.

Letztens tat ich einem alten Herrn kund, natürlich sehr umwunden, vorsichtig, ich werde älter und vermeide es, anderen ohne Not in den Hintern zu treten, dass seine „Geschichte“ keine Geschichte sei. Er habe beim Schreiben nichts gesehen, sondern Sätze gedrechselt. Dabei fiel mir auf, dass ich immer die gleichen Ratschläge gebe. Es ist wohl derer eine Handvoll, überschaubar also und passend für die Hosentasche.

 

Eine Geschichte finden

Grundlage jeglicher Erzählkunst ist das Vorhandensein einer Geschichte. Möchte ich eine Botschaft unters Volk bringen, muss ich mich dieser Form bedienen. Dabei hat mein Anliegen verpackt, um Gottes Willen nicht vordergründig zu sein. Fehlt mir die Geschichte dazu, oder gelingt es mir nicht, eine zu erfinden oder zu „sehen“, die meine Botschaft auf zauberhafte Weise verbrämt, bleibt mir nur noch die Möglichkeit, ein Sachbuch zu schreiben. Oder mich in die Fußgängerzeile zu stellen und ein Plakat aufzurollen: „Wir essen zu viel Fleisch!“ oder „Ich bin strikt gegen die Abschiebehaft!“ und dergleichen. Denn Literatur hat die wunderbare Eigenschaft, dass uns die Anliegen hinterrücks erreichen. Was ist denn nun die Botschaft von „Krieg und Frieden“? Dass Kriege grausam sind? Das wusste die Menschheit bereits vor Tolstoi; und so simpel war der Mann nicht, dass er sich mit bekannten Tatsachen abgab. Ihm war daran gelegen, zu zeigen, wie wenig nütze alle noch so schlaue militärische Taktik und Strategie sind. Dass, wenn Menschen derart aufeinanderprallen, immer die große Unbekannte über dem Schlachtfeld schwebt: Stimmungen, Tagesverfassung, Heimatliebe oder Verzagtheit in der Fremde. Goethe drückte es etwa so aus: Die geschicktesten Unternehmung misslingen mitunter, während das scheinbar Paradoxe zum Ziel führt. Und das Fazit von Tolstoi: Lasst deswegen gefälligst die Finger davon. Aber in erster Linie hat er eine wunderbare Geschichte erzählt: von Leidenschaft, Liebe und Verwandlung. Davon erzählt auch Gustave Flaubert in „Madame Bovary“. Und erst viel später, wenn wir das Buch zugeschlagen haben, wird uns klar, was er sagen wollte: Gebt nicht stets euren erstbesten Empfindungen nach. Schon gar nicht, wenn eure Handlungen, die ein vermeintliches Glück versprechen, den Menschen um euch herum teuer zu stehen kommen. Dumm ist nur, dass er dabei eine Frau erwischte.

Ein Vorfall, der sich vor meinen Augen zutrug, der mich noch tagelang beschäftigte, mag sich als Geschichte anbieten. Er drängt sich vielleicht sogar auf, näher betrachtet, weil er die Vorgaben erfüllt. Er hat das, wonach eine Geschichte verlangt: einen Anfang, ein Ende, irgendwo dazwischen den Kulminationspunkt. Und er bedient womöglich das Gesetz der Dramatik: Ein Gewehr, das im ersten Akt an der Wand hängt, muss im dritten losgehen. Ein erster Test kann sein, die Geschichte vor anderen zu erzählen. Dabei stellt sich vielleicht heraus, dass der Spannungsbogen trägt, die Leute einen an den Lippen hängen und erst nach dem Schluss ausatmen. Berstend vor Tatendrang mache ich mich ans Werk. Und nicht selten erlebe ich, wie der Schreibfluss versiegt, meine Stimmung verebbt, und ich frage mich, was  mit meiner so scheinbar tollen Geschichte passiert ist. Ein Grund kann der sein: man sollte von seinen Projekten  nichts erzählen. Sich schweigend an die Arbeit machen und fertig. Wobei das eher einem Aberglauben gleichkommt und nicht fundiert genug ist, um als Regel standzuhalten. Wahrscheinlicher ist, dass die Kunst des lauten Erzählens anderen Kriterien unterworfen ist. Gestik und Mimik unterstreichen, gut formulierte Worte heben hervor, und plötzlich verwandelt sich eine Maus in einen Berg. Und wird wieder zur Maus, wenn ich mir das Geschriebene betrachte. Ideal ist es, wenn Geschichten einen „anspringen“. Das passiert zwangsläufig, wenn ich mich über lange Zeiträume mit dem Schreiben beschäftige. Ähnlich erging es mir, als ich über Wochen hinweg täglich Schach spielte: ich träumte nachts von Rochaden und Springerattacken. Offenbar richtet sich der Geist aus und galoppiert uns voran. Irgendwie verhält man sich wie ein Filmregisseur, der seine Finger formt und sie wie einen Rahmen vor die Augen hält, durch ihn hindurch die Welt betrachtet. Sie sozusagen in Facetten zerlegt, um so ihrer Unermesslichkeit beizukommen. Feld, Wald und Himmel verwandeln sich ins Handliche, und die Kamera erledigt den Rest: sie bannt. Und wenn es gut geht, wird Kunst daraus. Ebenso banne ich schreibend ein Geschehen. Ob ich es bewusst oder instinktiv tue: es muss sich meiner Sichtweise unterwerfen. In mir sollte sich unbedingt, zumindest so lange ich bei dieser Arbeit bin, das Gefühl einer großartigen Anmaßung breitmachen: das da habe ich entdeckt. Ich verstehe und durchschaue es bis in den letzten Winkel. Ich bin der Gott der sieben, zwanzig, hundert, fünfhundert Seiten.

  

Die Erzählwürdigkeit

Die Geschichte ist nunmehr sichtbar. Man könnte ihr sogar  das alt-ehrwürdige „Es war einmal …“ voranstellen. Sie hat also einen Anfang und ein Ende, dramatisiert sich  sprunghaft oder gleitend – je nach Temperament des Verfassers oder seinem Anliegen. Der Fortgeschrittene wird natürlich variieren: er beginnt womöglich mit dem Ende und arbeitet sich zum Anfang vor oder zurück. Oder er springt mitten ins Geschehen und erklärt das Vorrausgegangene behutsam im Folgenden. Immer so, dass es nachvollziehbar bleibt. Denn ein fiktiver Leser sollte einem über die Schulter schauen. Ein Merkmal des Könners ist, bei allem Hang zum Experiment, seine Verständlichkeit. Weil er stets auf der Suche nach dem allertrefflichsten Begriff ist. Kafka war so einer. Seine Sätze scheinen mir wie aus Stein gemeißelt. Vermutlich überstanden sie deshalb die Zeit: man kann sie heute noch „begreifen“. Der Anfänger dagegen, so meine Erfahrung, misstraut seinem Vermögen. Er scheint unter dem Druck zu stehen, Kunst zu machen. Also stürzt er sich auf die Sätze und drechselt so lange an ihnen herum, bis sie auch dadurch unverständlich werden. Anstatt die Augen zu schließen, der ausgedachten Szenerie zu folgen und das Geschehen treffend zu benennen. Es geht nicht um die Herstellung von Sätzen, sondern um das Aufzeichnen einer Geschichte. Die dann eine zu sein scheint, wenn ich sie mit wenigen Worten nachzuerzählen vermag. Ist die Fabel nicht mit ein, zwei oder drei kurzen Sätzen zu formulieren, je nach Umfang der Geschichte, ist was faul im Gebälk. Und wenn alles stimmen sollte, bleibt die Frage nach dem tieferen Sinn, der Erzählwürdigkeit. Die hat nun weiß Gott nichts mit dem Rang der Handlung zu tun. Anfänger versteigen sich oft darin, sich eines Themas anzunehmen, dass drei Nummern zu groß für sie ist: Der Hunger in der Welt. Oder: Die Leute verblöden durchs Fernsehen. Davon hört er doch dauernd. Und ist später überrascht, wenn in einer Untersuchung zu Tage gefördert wird, dass selbst die Gebildeten sich häufig das viel geschmähte „Unterschichtenfernsehen“ zu Gemüte führen. Gogol dagegen berichtet „lediglich“  von einem Mann, dem sie seinen neuen Mantel klauten. Und man spürt geradezu die Lust, die ihn die Sache ins Groteske treiben lässt. Welche Wirkung seine Erzählung auf seine Zeitgenossen haben könnte, dass sie über die Grenzen Russlands hinaus, ja durch die Zeiten springen würde, das sah er sicher nicht voraus. Er besaß die Fähigkeit, Phänomene  aufzuspüren, bestimmte Muster in der Gesellschaft zu entdecken. Und er schuf eine kleine, überschaubare Parallel-Welt auf dem Papier, ordnete kunstvoll das Beobachtete an, machte es auf diese Weise sichtbar: die Erstarrung einer Gesellschaft, ihren Hang, Menschen ausschließlich nach ihrem Äußeren zu beurteilen, nach ihrem Schein. Einer verliert mit dem Mantel seine Reputation, zieht sich die Herzlosigkeit seiner Mitmenschen zu und rächt sich dafür – eine ganz klare mögliche Fabel. Erzählwürdigkeit hat also nichts mit dem Gegenstand zu tun, den ich beschreibend gestalten möchte. Das kann, wie wir sehen, auch ein geklauter Mantel sein, ein Fahrrad oder sonstwas. Es kommt lediglich darauf an, ob wir mit seiner Hilfe weit über ihn  hinaus zu weisen vermögen: auf unser Dasein.

Vor einiger Zeit gab ich einem Freund die Kurzgeschichte „Arabia“ von James Joyce zu lesen. Der Ich-Erzähler, vermutlich Joyce selber, führt uns an den Ort seiner Kindheit. Er wohnt  bei Tante und Onkel. Er beschreibt die Straße, die Häuser: altehrbar, wuchtig, voller geheimnisvoller Vergangenheit. Das Licht, das ihm erscheint. Es ist Winter, und der Himmel leuchtet in einem sich ständig ändernden Violett (die Farbe steht für Geheimnis). Trotz der Kälte spielt er mit seinem Freund Mangan, „bis unsere Körper glühten“. Mangan hat eine Schwester, die in dem kleinen James unvermittelt ein Feuer entfacht. Sie erscheint ihm geradezu: das Lichtspiel in ihrem Haar, die Augen, ihre Haut, der Reif an ihrem Handgelenk …  Sie nimmt, ohne es zu ahnen, vollständig von ihm Besitz. Fortan beobachtet er Mangans Haus, hofft, dass dessen Schwester heraustreten möge und verspürt den verzehrenden Drang, sie anzusprechen. Die Stunde kommt, und Sie schwärmt von dem Basar  in Dublin, den sie Araby nennen, und dass Sie dort in nächster Zeit nicht hingehen könne. Es ihm aber anrate. Er verspricht, noch leicht in Trance, dass er das tue und ihr etwas von dort mitbringe. Er bettelt  die Tante wegen Geld an, die verweist ihn an den Onkel, der vertagt die Entscheidung. Am nächsten Tag ist der Onkel außer Haus. Der Junge tigert durch die Wohnung und zerspringt fast vor Erwartung, wird endlich erlöst und gelangt in den Araby. Eine Händlerin spricht ihn an. Doch er ist außerstande, ihr zu antworten. Schließlich schlendert er durch den Basar, in dem bereits die Lichter gelöscht werden, spielt mit den Geldstücken in seiner Hosentasche, blickt nach oben in die Dunkelheit und „sieht“ sich: „… ein Wesen, von Eitelkeit getrieben und lächerlich gemacht; und meine Augen brannten vor Qual und Zorn.“  „Wo zum Kuckuck versteckt sich denn hier deine berühmte Erzählwürdigkeit?“ wetterte mein Freund. „Eine Geschichte über kleine pubertäre Jungen, na und?“ Ihm war leider der große Wurf des Schriftstellers entgangen, der sich mir am Schluss der Erzählung offenbarte: Für Sekunden spürte der Junge die alles beherrschende Kraft der uns  innewohnenden Natur. Die unsere Glut entfacht und das Kommando übernimmt. Und uns vernichten könnte, ließen wir sie ungestört walten.

 

Handlung, Handlung, nochmals Handlung

Auch wenn der oben erwähnte Dozent verächtlich Bücher von sich warf, war er kein Ignorant.  Er unterschied die Schriftsteller in solche, von denen wir lernen könnten und in jene, von denen nichts zu holen wäre. Nicht weil es ihnen an Talent mangelte, im Gegenteil. Es gebe Autoren, zitierte er, deren Genialität eine Stufe erreicht habe, die sie auf Konventionen pfeifen lässt. Wir Schwächeren würden ihnen auch dann folgen, führten sie uns durch Sümpfe oder über unwegsam Gebirgspfade. Wir hängen an dem Geschriebenen wie andere an den Lippen der Weisen. Und zögen den Genuss allein aus der Art des Verfassten, möge sie auch noch so schwindelerregend sein. Die Regeln hätten sie auf jene Höhe gebracht. Denn, um ein anderes Genre zu bemühen, bevor Picasso seine Bilder „zerpflückte“, habe er Menschen und Gegenstände „ordentlich“ abgebildet. Dann habe ihn die Lust am Experiment ergriffen und fertig.  Der Dozent zauberte einen Roman hervor und meinte: „Dieser hier ist ganz passabel, und wir können ihn ausbeuten.“ Und eines sei bei diesem Autoren besonders deutlich: das Handeln. Eine gute Geschichte lebe von der Handlung. „Handlung, Handlung, Handlung“, rief er stakkato artig  in die Runde, „dann eine kurze Beschreibung, wieder Handlung, wieder kurze Beschreibung, wieder Handlung.“- Wenn ich mir nachträglich die Bücher betrachte, die mich mitrissen, so handelten sie vom Handeln. Wir sind temperaturabhängige Wesen, die, einmal warm geworden, tätig durch die Welt schreiten. Wir versuchen unsere Handlungen mit anderen zu koordinieren. Wer rastet, rostet – heißt einer unserer Kampfsprüche. „Handeln Sie endlich!“ fordern wir die Prädestinierten auf, „Machen Sie Nägel mit Köpfen!“ Wir bewegen uns, um zu leben. Und wir spüren instinktiv, dass wir uns durch die Bewegung verwandeln. Sitzen wir sehr lange auf der Couch, werden wir erst schlapp, dann unruhig. Schauen wir uns dabei einen Film im Fernsehen an, springen wir gegebenenfalls auf. „Das geht nicht vorwärts!“ rufen wir. Und weshalb nicht? Weil der Drehbuchautor darauf gepfiffen hat, was im Wesen von uns Menschen liegt: sich von Taten angezogen zu fühlen. – Wassili Schukschin (eine kurze Gedenkminute für den Mann) ließ in einer seiner Geschichten zwei Kriegsveteranen, entwurzelte Bauern, die bei ihren Kindern im Neubaublock lebten, über Seiten hinweg miteinander sprechen. Sie trafen sich dort regelmäßig im Keller unter den Heizungsrohren, um über die Welt zu schwadronieren.  Die Rohre knackten, der Wodka floss beim Einschenken über die zerfurchten Hände: absoluter Stillstand? Nicht bei einem wie Schukschin. Er lässt die Handlung vom statischen Keller in das dynamische Gespräch springen – Handlung ist Handlung. Auch wenn der Erzähler den Erzähler erzählen lässt. Thomas Mann, der sehr wohl die Gesetze des Schreibens kannte, setzte sich über sie hinweg. Seine „meterlangen“ Sätze sperren sich unserem Aufnahmevermögen. Doch sind sie in ihrer Art die schönsten überlangen Sätze, die die Literatur kennt. Auch seine Beschreibungen arten aus, legen sich quer zur Handlung. In „Dr. Faustus“ lässt er sich über Seiten hinweg über klassische Musik aus. Die Kraft dieser Beschwörung vermochte es: ich legte das Buch beiseite und schob eine CD in den Schacht. Was ich bei anderen verabscheute, Verharren, Stagnation, ließ ich mir von diesem gefallen. Ansonsten: Handlung und nochmals Handlung und möglichst kurze Sätze. Warum? Weil das mit unserem innewohnenden Rhythmus in Verbindung steht, mit unserem Puls, der Atmung.  Stil hat etwas mit unserer Atmung zu tun? Antwort: Ja.

 

Der Vergleich

Ein Russe hat sein Wesen bildhaft zusammengefasst: Er muss hundertprozentig genau, möglichst weit von dem zu vergleichenden Gegenstand entfernt sein und nach Dill duften. In einem Buch las ich, dass jemand einen Wollknäuel in seinem Schädel wähnte. Damit wollte der Autor wohl das Chaos beschreiben, das im Kopf seines Protagonisten herrschte. Ein Haufen Wolle vermag etwas Chaotisches wiederzugeben, ein Knäuel Wolle weniger. In Verbindung mit einem Faden drückt das Wort Ordnung aus: er ist ordentlich aufgewickelt. Gesetzt den Fall, wir akzeptieren den Vergleich dennoch, scheint er mir nicht weit genug entfernt zu sein. Denn ein Gehirn ist ebenfalls ordentlich gelegt, besser noch: gefaltet. Wobei dies ein Grenzfall ist, eine Sache des Geschmacks. Er zeigt uns aber, welcher Sorgfalt ein Vergleich bedarf. Ein Paradebeispiel, wenn auch ein schlichtes, kommt in dem Film „Das Boot“ vor. Unser aufgetauchtes U-Boot, heißt es dort sinngemäß, glitt durch die Straße von Gibraltar. Der klare Nachthimmel mit seinem grellen Mondlicht, das die Wasserfläche geradezu ausleuchtete, machte uns mehr als nur sichtbar: wie eine einzelne Kirsche auf einer Sahnetorte. Da haben wir die Zutaten: es ist genau, weit weg, und wer will leugnen, dass eine Torte duftet. Wobei der Duft, den der Russe erwähnte, für die „Seele“, die ausgefeilte Ästhetik steht. Durch Metaphern, es steckt im Wort, vermögen wir einer Geschichte nicht nur Bildhaftigkeit zu verleihen, sondern ihr auch Leben einzuhauchen. So wie Joyce in „Arabia“: „Die … Häuser der Straße, des ehrbaren Lebenswandel in ihrem Innern bewusst, sahen einander mit braunen unerschütterlichen Gesichtern an.“ So sehr wir solche Gedankenblitze lieben, sie sind Unikate. Einmal erfunden und verwendet, dürfen wir an ihnen nicht mehr rühren, auch wenn es uns in den Fingern juckt. Warum ich dann das Wort Gedankenblitz verwende? Weil es sehr alt ist und den Anschein erweckt, in den allgemeinen Sprachschatz übergegangen zu sein. Glücklich bin ich über die Wahl nicht. Auch deshalb, weil „blitzgescheit“ eines der Lieblingsworte Hitlers war. Doch es gibt Vorgänge, die verweigern sich der Mehrdeutigkeit. Synapsen, Neuronen – die Forscher selbst sagen, dass es dort blitzt, gewisse Regionen im Hirn, wenn auch nur auf Bildschirmen, aufleuchten. Trotzdem: die meisten der Vergleiche und Metaphern  sind tabu. Verwenden wir sie dennoch, ist das unserer Trägheit geschuldet. „Regentropfen, die an dein Fenster klopfen“, heißt es in dem Lied. Wir müssen nun also wohl oder übel die Augen schließen, dem Regen lauschen, sein Wirken neu benennen. Und im Zweifelsfall lassen wir es einfach regnen. Einen Vergleich nicht zu bemühen: das ist allemal besser, als einen falschen oder abgenützten zu verwenden. Auch wenn es mich noch so drängt, ich im Januar am Strand stehe, aufs glatte Meer schaue: das Wort „bleiern“ ist weg. Tut mir leid. Benutze es, und ich werde beim Lesen zusammenzucken. Was macht das Meer sonst noch, wenn es so träge daliegt? Keine Ahnung, ich schreibe zurzeit nichts über Meere und dergleichen. Aber starrte ich es lange genug an, würde sich wohl was tun. So wie der Dichter, der vormittags aus seinem Fenster auf den Marktplatz schaute, die Krähen dort auf dem Pflaster bemerkte und sie später in einer Verszeile verglich: wie gelangweilte Rentner, die Arme auf dem Rücken …

 

Das Beseeltsein

Einer, der ein bisschen zu zeichnen vermag, skizziert einen Hund. Er nimmt den Kopf zurück und betrachtet das Blatt. Vielleicht schaut ihm seine Frau über die Schulter. „Ein Hund wie er leibt und lebt!“ ruft sie. Sie kann nicht zeichnen. Nun ja, eine Blume vielleicht: ein Strich stellt den Stiel dar, Kringel hier, Kringel da, fertig. Aber ihr Mann brachte einen richtigen Hund aufs Papier: Ohren, Schnauze, Schwanz – es ist alles dran. Doch zufrieden ist unser Künstler nicht: das Tier dort „lebt“ nicht, entspricht keineswegs seinen Vorstellungen. Es kribbelt ihn in den Fingern, es richtig zu machen. Und vielleicht kommt er dahinter, dass es weniger an seinem Talent, eher an dessen Entfaltung liegt. Er wird also neugierig, eignet sich Wissen über die Technik des Zeichnens an, studiert, beobachtet den Hund des Nachbarn, macht sich Bewegungsskizzen, übt sich in besonderen anatomischen Merkmalen, hebt auf dem Blatt Details hervor, vernachlässigt andere. Und irgendwann, nach vielen Stunden emsigen Schaffens, schaut ihn ein wahrhaftiger Hund an. Das Tier wirkt neugierig und verhalten zugleich. Der Körper ist gespannt, zu Angriff  oder Flucht  bereit, und in der Tiefe seiner Augen glimmen die Körnchen seiner Natur. Habe ich das gemacht, mag sich der Schöpfer fragen. Diesmal ist die Zeichnung nach Plan geraten; mehr noch:  etwas scheint sich beigesellt zu haben. Denn die Weisheit, die für  Autoren zutrifft, gilt wohl auch für ihn: Das Buch muss schlauer sein, als der Verfasser. Er trägt all sein Wissen in das Werk, dort verwebt es sich, beseelt sich sozusagen und scheint sich vom Erfinder zu lösen. Nun spürt er die Kraft,  die Künstler an ihrem Werk ausharren lässt: dass die Geister, die er rief, um ihn herum zu tanzen beginnen. – Jasnaja Poljana im Sommer 1867. Tolstoi sitzt an seinem Buch „Krieg und Frieden“, schreibt gelegentlich die Nächte hindurch. Eines Morgens, Sofia Andrejewna, seine Frau, hat vor dem Haus den Frühstückstisch decken lassen,  tritt ihr Mann in die Tür, blinzelt in die Sonne, fährt sich mit der Hand durchs Gesicht, lehnt sich an. „Stell dir vor“, sagt er, „heute Nacht haben Natascha und Pierre geheiratet.“ Wie denn, hatte dieser Genius etwa seine Figuren nicht im Griff, tanzten sie ihm auf der Nase herum? Schwer vorstellbar: der Graf ohne Plan und in den Fängen des launigen Zufalls. Aber irgendwann begann der Zauber, den er veranlasste, auf ihn selbst zu wirken. So wie bei Gustave Flaubert, der eine Selbsttötung beschrieb, sich derart hineinsteigerte, bis das Unheil nach ihm zu langen schien – sein Körper wies Male auf, Hautreizungen wie nach einer Vergiftung.

Friedrich Nietzsche ging in seinem Werk kurz auf die Anmaßung ein: dass sie zu jenen menschlichen Phänomenen gerechnet werden müsse, der wir am wenigsten verzeihen. Dazu kann ich ein Beispiel liefern. Literaturinstitut Leipzig. Unter dem Dach dieser Villa gab es einen gemütlichen Raum, in dem Studenten im Kreis der übrigen Seminaristen lesen durften. Einen Text, den sie selbst für würdig erachteten, vorgestellt zu werden. Kaum war gefragt worden, schnellte mein Arm nach oben. Na was denn, ich hatte bereits einiges veröffentlicht, sogar in einer bekannten Literaturzeitschrift. Kurz zuvor hatte ich in einer Nacht einen Text in die Schreibmaschine gehämmert, der mich selbst berauschte. Er schien wie aus einem Guss zu sein: endlich mal einer, an dem ich nicht „feilen“ brauchte. Mir war nicht an der Meinung der Studenten gelegen – mir ging es lediglich darum, die vermeintlich hypnotische Kraft, die ich in meinem Gedankengut vermutete, auf andere zu übertragen. Ich lehnte mich also zurück, schlug das Bein über und sah prüfend in die Runde. Schließlich begann ich zu lesen. Erwärmte mich an dem Feuer meiner Sätze: die Finger zitterten leicht, wenn ich die Seiten umschlug. Als ich geendet hatte, ließ ich das Manuskript sinken, lehnte mich zurück und nahm triumphierend die Runde in Augenschein. Hier und da hüstelten sie, einer kratzte sich den Kopf, meine Dozentin schaute zu Boden. Und in die Stille hinein sagte ein anderer: „Das ist der größte Scheiß, den ich je in meinem Leben gehört habe!“ Er begründete seine Abneigung, in dem er Textstellen zitierte. Es war, als würde er immer wieder durchladen, Schuss um Schuss in meine Richtung abfeuern. Kaum hatte er geendet, brach es aus den anderen hervor: liederliche Sprache, unpassende Vergleiche – gequirlte Kacke, sagte eine. Ich steckte mir eine Zigarette an und versuchte es mit hochmütigem Aussehen hinzukriegen. Das klappte nicht, weil meine Gesichtshaut brannte und meine Augenlider zuckten. Der erste Gedanke war: Selbstmord. Zum Glück gesellte sich die Wut dazu und ich begann mir ihre Gesichter genau einzuprägen, besonders die mit dem gequirlten Zeugs nahm ich in Augenschein. Schließlich wollte ich das Studium aufgeben, dass Schreiben sowieso. Dann ebbte die Springflut ab, ich fand die Kraft, mir noch einmal den Text anzuschauen, sah, was dort nicht stimmte und verbesserte es.

Iwan Turgenjew schrieb sinngemäß, das gehöre zu den größten Peinlichkeiten: Ein junger, blendend aussehender Offizier stellt sich zwischen zwei musikalischen Vorträgen ans Klavier, zaubert einen Zettel aus der Uniform, glättet ihn, sagt, dass auf diesem ein Gedicht geschrieben stehe. Es sei ihm letzte Nacht „zugeflogen“. Und augenzwinkernd fügt er an, er habe es direkt aus seinem Herzen aufs Papier fließen lassen. Deklamiert. Endet und schaut glühend in die Runde. Es ist still im Saal. Es wird noch stiller. Dann springt einer auf und ruft: „Ja, Kinder, darauf müssen wir was trinken!“ – Ich habe die Stimme eines Heutigen in den Ohren: „Nun gut, aber ich persönlich schreibe nur für mich, fürs Nähkästchen. Zu meiner eigenen Erbauung.“ Schon klar, aber warum gab er es mir zu lesen? Von Montaigne behauptet man, er habe nur für sich geschrieben. Was ich persönlich nicht glaube. Die Schrift ist ein Mittel, um Botschaften weiterzugeben. Und wer maßt sich an, diesem Essayisten nachträglich ins Hirn schauen zu wollen.

Dies habe ich für mich erfunden: Schreiben ist mit dem Fliegen vergleichbar. Wer ein Flugzeug in die Luft bringen will, muss einen Pilotenschein machen. Die Bedingungen dafür sind die Beherrschung der Technik, das Wissen um Navigation, Wetterphänomene, Auftriebskräfte, Treibstoff, Ausweichflugplätze, Schwerpunktkontrolle, Pistenlänge. Man kann nicht nur ein „bisschen fliegen“. Wer das dennoch auf sich nimmt, stürzt vermutlich ab.

 

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