Nov 2013

Julian Reidy

Sonnenschein oder Schatten? Zur Entwicklung ethischer Reflexion in Christian Krachts Faserland, 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

Christian Krachts vorletzter Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten befremdet zunächst. In diesem kontrafaktischen Fabulierstück zettelt Lenin 1917 in der Schweiz eine Revolution an; die Alpenrepublik wandelt sich in der Folge zur ‚Schweizer Sowjetrepublik’ und verwickelt sich in einen Weltkrieg mit dem faschistischen Deutschland und dessen britischen Verbündeten. Der namenlose Ich-Erzähler (im Folgenden nach James Phelan ‚character narrator’ genannt[i]), ein Parteikommissär aus dem afrikanischen Kolonialgebiet der SSR, erhält den Auftrag, den mysteriösen Oberst Brazhinsky festzunehmen, der ins Réduit geflüchtet ist – in die gigantische Alpenfestung der SSR. An dieser Stelle soll versucht werden, das Befremden bei der ersten Lektüre des Romans wenn nicht zu exorzieren, so doch besser zu verstehen. Wenn man Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten zu diesem Zweck einer intertextuellen Lektüre unterzieht und in Krachts Romanwerk (exklusive Imperium) einzugliedern versucht, könnte man zum Schluss kommen, dass zwischen dem irren und wirren Schweiz-Roman und den beiden zuvor erschienenen Romanen des Autors – Faserland und 1979 – eine klare Diskontinuität besteht. Zu zeigen ist jedoch, dass der Text in vieler Hinsicht ebenso gewitzt und akribisch gestaltet ist wie Krachts frühere Werke, aber im Grundsatz ein anders gelagertes Erkenntnisinteresse verfolgt. Was die in Teilen problembehaftete intertextuelle Vernetzung von Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten betrifft, wird ein Vorbildtext vertieft zu betrachten sein: Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness.

Als ergiebig erweist sich indes zunächst der Vergleich mit 1979, dem Debütroman Faserland sowie Der Gelbe Bleistift, einer Sammlung von Reiseberichten. In diesen Texten entwirft Kracht eine widersprüchlich anmutende „Selbstpoetik“ (Lettow 289): Der implizite Autor unternimmt eine aufwendige „Selbststilisierung zum Dandy“ (Lettow 296), schreibt aber zugleich stellenweise mit „aufklärerische[m] Sendungsbewusstsein […] fernab von Ironie und dandyistischem Gebaren“ (Lettow 303). Gerade diese „ethische Komponente […], die das ästhetische Spiel der Selbststilisierung spannungsvoll relativiert“ (Lettow 303) – also die irritierende Diskrepanz zwischen lustvoll zur Schau gestelltem postmodernem ennui und, zum Beispiel, einer schon fast moralistischen Passage über „Drittwelttourismus“ (GB 99) –, scheint in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten kassiert zu werden. Diese Beobachtung wird noch detaillierter zu belegen – und zu widerlegen – sein und am Ende einen klareren Blick auf den Schweiz-Roman erlauben, der in Krachts bisherigem Schaffen eine nur auf den ersten Blick erratische Stellung einnimmt: Die ethische Komponente von Krachts Schreiben tritt in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten durchaus in Erscheinung, allerdings in anderer Form als noch im Frühwerk.

Dem „in den […] Schriften Krachts auszumachenden Selbstentwurf […] im Sinne einer ‚Bastelexistenz’“ eignet also neben dandyhafter „Selbststilisierung“ auch „aufklärerische[s] Sendungsbewusstsein“ (Lettow 286). Dieses manifestiert sich in Faserland in denkbar plakativer Weise in einer Passage, in welcher der ‚character narrator’ über ein idealisches Leben mit der Schauspielerin Isabella Rossellini phantasiert: Er würde ihren gemeinsamen Kindern „alles erklären“ und ihnen

„von Deutschland erzählen, […] von der großen Maschine, die sich selbst baut […]. Und von den Menschen würde ich erzählen, von den Auserwählten, die im Inneren der Maschine leben, die gute Autos fahren müssen und gute Drogen nehmen und guten Alkohol trinken und gute Musik hören müssen, während um sie herum alle dasselbe tun, nur eben ein ganz klein bisschen schlechter. Und dass die Auserwählten nur durch den Glauben weiter leben können, sie würden es ein bisschen besser tun, ein bisschen härter, ein bisschen stilvoller.“ (FL 152-153)

Die „moralischen“ oder moralisierenden „Untertöne[]“ dieses „bedrückenden Szenarium[s]“ (Lettow 291) sind deutlich. Solche Tiraden, wie auch die Feststellung des Protagonisten und ‚character narrators’, dass die „Welt […] unfassbar verkommen“ (FL 30) sei, stehen in einem Spannungsverhältnis zu seinen an anderer Stelle formulierten zynischen und versnobten Ansichten – er mokiert sich bei Gelegenheit gerne mit arrogantem Gestus über die „senffarbenen Sakkos“ fliegender „Betriebsräte“ (FL 52) oder den „Regenbogen-Friedens-Nichtraucher-Ökologen-Sticker“ (FL 30) auf dem Armaturenbrett eines Taxifahrers. Kritische Stimmen übersahen diese Polarität des ‚character narrators’ aber oft und postulierten in Bezug auf Faserland teils in ungebührlicher Weise eine Identität von empirischem Autor und Erzähler oder nahmen zumindest an, dass Kracht seinen ‚character narrator’ in einem affirmativen Licht präsentiere – so zum Beispiel, wenn Joachim Rohloff Kracht (und nicht etwa dem ‚character narrator’) „Herrenmenschentum“ (Rohloff 4) vorwirft. Vielleicht ist der Irrtum, der derart polemischen Kracht-Lektüren unterliegt, mit einem Verweis auf das rezeptionsästhetische Modell von Phelan (und Rabinowitz, siehe Anm. 1) besser zu verstehen: Interpreten wie Rohloff unterstellen Kracht eine ‚authorial audience’, die er gar nicht bedienen will. Anders ausgedrückt: Wer dem realen Autor von Faserland „Herrenmenschentum“ attestiert, geht von einer Appellstruktur aus, die so im Text nicht vorhanden ist und vergisst damit erstens, dass hier ein fiktionaler ‚character narrator’ spricht, und nicht Christian Kracht, und ignoriert zweitens, dass sich die ‚authorial audience’ des Romans nicht aus Schnöseln auf der Suche nach Selbstvergewisserung rekrutiert, sondern der Text vielmehr die Abgründe des Schnöseltums erkundet.

Eine sorgfältige Lektüre stützt die gegenüber Faserland geäußerte vernichtende Kritik keineswegs: Die „Barbour-Salem-Schnösel-Kultur wird“ natürlich „thematisiert und stellt auch den Ich-Erzähler“, sie wird im Roman aber keineswegs „propagiert“ (Bassler 112). Dessen kritisches Potenzial liegt vielmehr gerade in der „Darstellung der Barbour-Schicht als menschlich höchst defizitär“ (Bassler 113). In einer beispielhaften Szene überlässt der ‚character narrator’, dessen Selbstzentriertheit spätestens hier offenbar wird, „seinen Freund Rollo, dessen Depression er nicht auszuhalten imstande ist, sich selbst und damit dem Suizid“ (Lettow 292). Faserland weist mithin einen ethischen, kulturkritischen Impetus auf, der zuweilen überhaupt nicht registriert wurde. Das Spannungsfeld zwischen zynischer Dekadenz und kulturkritischem Reflex, das der „janusköpfige“ (Lettow 294) ‚character narrator’ in Faserland verkörpert, macht in gewisser Hinsicht die Attraktion des Romans aus: Kracht gelingt die Darstellung eines „postmoderne[n] Szenarium[s]“, in dem die „Basis von allgemein verbindlichen Werthorizonten“ erodiert ist und in dem die Figuren an der „kollektive[n] Banalität einer von Markenartikeln dominierten Welt“ (Lettow 289-290) zerbrechen. Die Darstellung dieses „Scheitern[s]“ aller „Ich-Konzeptionen, die einen stabilen und kohärenten Persönlichkeitskern fordern“ (Lettow 294), birgt einen ästhetischen Reiz und ein Identifikations- und vielleicht sogar Erkenntnispotenzial, denn das von Kracht in bester popliterarischer Manier ‚archivierte‘[ii] Deutschland der Neunzigerjahre ist nicht irgendein „postmodernes Szenarium“, sondern eines, „in welchem sich wohl ein jeder heute […] zu bewegen genötigt sieht“ (Lettow 294).

Noch anschaulicher präsentiert sich Krachts „aufklärerische[s] Sendungsbewusstsein“ in den faktualen Reiseberichten im Gelben Bleistift, so beispielsweise in der bereits erwähnten Passage, in der Kracht den Goa-Tourismus junger Aussteiger geißelt:

„Das ist […] Drittwelttourismus der allerübelsten Art. Denn moralisch fragwürdig, das sind nicht die Chartertouristen in ihren ausgegrenzten Kluburlaubsghettos. Nein, diese bringen Arbeitsplätze nach Goa […] und fahren nach zwei Wochen auch wieder ab, ein paar Kunsthandwerksgegenstände im Gepäck. Verachtenswert, das sind diejenigen, die sich [sic] aus Hedonismus der Welt entsagen, diejenigen, die sich finanziell unter die Inder stellen, um Pfennigbeträge feilschen, sich nicht waschen und dann zwei Jahre bleiben.“ (GB 99)

Auch in der Beschreibung einer Demonstration in Phnom Penh scheint Kracht für einen Augenblick jegliche ironisch-popliterarische Distanzwahrung abzustreifen:

Joachim Bessing und ich waren zu feige, mitzumarschieren. Was uns vor wenigen Stunden in Berlin noch als herrlich subversive Tat vorgekommen war, nämlich das wahllose Mitmarschieren bei unsinnigen Demonstrationen, hielt uns hier mit einem lastwagengroßen Spiegel unser wahres Gesicht vor: Wir waren feige Popper. Und wir erkannten: Hier in Kambodscha hört die Popkultur auf. Es gab hier keinen ironischen Bruch zwischen dem, was ist und dem, was sein sollte. Hier ging es um zwanzig Dollar mehr im Monat.“(GB 138)

Spätestens hier zeigt sich, dass Krachts ‚authorial audience’ offenbar heterogener und seine frühen Texte facettenreicher sind, als einige Interpreten vermuteten. Wäre Kracht tatsächlich nur ein Gimmick-Autor, dessen Bücher gleichsam als Accessoires für eine ‚authorial audience’ aus blasierten ‚Poppern’ zu lesen sind, dann könnte es in ihnen keine subtilen und selbstentlarvenden Momente der Introspektion geben.

In Krachts zweitem Roman, 1979, finden sich keine derart offen moralisierenden Szenen, und doch könnte man die fatale Reise des Protagonisten als ‚morality tale’ interpretieren, als „Drittwelttourismus“-gone-wrong. Der ‚character narrator’ in 1979 ist wie alle ‚character narrators’ aus Krachts Feder eine seltsam identitätslose Figur, eigentlich eine einzige Leerstelle, aber wir erfahren zumindest, dass er alles andere als ein Intellektueller ist. Christopher, der hochnäsige Freund des ‚character narrators’, dem dieser um jeden Preis gefallen möchte, beschimpft ihn als „mongoloid“ (1979 31), als „Idiot[en]“ (1979 48), als „etwas … einfach“ (1979 53) und als „dämlich, womit er ja auch vielleicht recht hatte“ (1979 19). Aber auch wenigstens ein weiterer Charakter, der Koch Massoud, teilt diese negative Einschätzung der Intelligenz des Protagonisten: „Il est vraiment un peu simple, celui-la [sic]“ (1979 102). Während der ‚character narrator’ in Faserland seine postmoderne Umgebung wenigstens subliminal als problematisch wahrnimmt und sich (wenn auch erfolglos) an ihr abarbeitet, hat sich der ‚character narrator’ von 1979 mit dem „Böse[n]“ arrangiert, dem „schaumigen Meer aus Corn Flakes und Pepsi-Cola und aufgesetzter Höflichkeit“, von dem ihm Massoud erzählt, dessen Ausführungen er „gerne zu[]hört, auch wenn“ er sie „nicht ganz verst[eht]“ (1979 98-99).

Konsequenterweise ist dieser Protagonist nicht in der Lage, die Gefahren, die seine „Drittwelt[]“-Umgebung für ihn bereithält, zu verstehen und adäquat auf sie zu reagieren. Als ihn der Vizekonsul der deutschen Botschaft in Teheran informiert, dass  „die islamische Revolution“ bevorstehe, entlockt dies dem ‚character narrator’ nur ein komisch anmutendes „Huh, je“ (1979 89). Dem Rat des Vizekonsuls – „[v]erlassen Sie den Iran“ (1979 91) – leistet er nicht Folge. Auch das revolutionäre Geschehen selbst wird vom weitgereisten, aber offenbar nicht besonders weltgewandten Protagonisten vollkommen missverstanden: „Etwas Neues war geschehen, etwas völlig Unfassbares […]. Es schien, als gäbe es kein Zentrum mehr […]“ (1979 94). Er (miss)interpretiert also die iranische – und damit: islamistische – Revolution als „wholly postmodern“ (Langston 62) und verwendet dabei sogar Derridas Terminologie, der ja bekanntlich den postmodernen ‚Zentrumsverlust’ diagnostizierte. „Nothing could be further from the truth“ (Langston 62) als die Interpretation des ‚character narrators’, denn was könnte wohl weniger postmodern sein als die diktatorische Installation der „central reactionary modernist ideology“ eines „militant Islam“ (Langston 62), also eines alten ‚grand récit’, in Jean-François Lyotards Terminologie? 1979 weist somit wie die anderen frühen Werke Krachts eine „ethische Komponente“ (Lettow 303) auf, denn der Roman erzählt im Grunde die Geschichte eines Menschen, der sich mit seiner ‚condition postmoderne’ vollkommen arrangiert hat, eines Menschen, der „entirely empty“ ist und dessen „self“ allein aus „appropriated signs“ (Langston 61) besteht. So missinterpretiert der ‚character narrator’ in seiner postmodernen Blindheit die Geschehnisse (und Gefahren) im Iran, was sein Verderben bedeutet:

As the streets of Tehran fill with protestors, the protagonist fails to grasp Iranian fundamentalism’s nostalgic intent to use violence to reverse the historical process toward Western (post)modernity. […] If there is a lesson to be learned in the fate of the protagonist in 1979 it is that a reversal of the postmodern processes, i.e., a retreat back to the modern or even pre-modern, accentuates the vulnerability of the material body to socio-political systems of domination and control that transform bodies into objects. (Langston 62, 65)

Der ‚character narrator’ in 1979 entspricht demnach in gewisser Weise genau den gedankenlosen Abenteuertouristen, deren „moralisch[e] [F]ragwürdig[keit]“ (GB 99) Kracht im Gelben Bleistift so beißend feststellt, und die Geschichte weist sogar ein fabula docet auf – „a lesson to be learned“.

Dabei ist in 1979 ein narratives Moment bereits angelegt, das später Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten prägen wird. Die Handlung von 1979 spielt vor dem Hintergrund faktualer historischer Ereignisse; nicht zufällig ist der Text ganz lakonisch nach einem Jahr benannt. Wirkungsästhetisch betrachtet stellt der Roman einen Bezug zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung her – in der Tat vermischen sich diese beiden Modi in 1979 und sind nicht klar zu scheiden: Die Geschichte des fiktionalen Protagonisten ist untrennbar mit den tatsächlichen Ereignissen des Jahres 1979 verknüpft, denen im Verlauf des Textes auch eine historiographische Deutung verliehen wird, wodurch der namenlose Erzähler zum Chronisten wider Willen wird. 1979 weist damit die Charakteristika auf, welche Hayden White historischen Texten zuschreibt: Er deutet sie als „sprachliche Fiktionen [verbal fictions], deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften“ (White 124-125). Laut White gilt: „[W]ir [erklären] die reale Welt […], indem wir ihr jene formale Kohärenz verleihen, die wir normalerweise mit den Werken von Autoren der fiktionalen Erzählliteratur assoziieren“ (White 154-155). In 1979 findet diese Vermählung von Literatur und Geschichtsschreibung unter umgekehrten Vorzeichen statt, ist aber trotzdem im Groben mit Whites Modell zu charakterisieren: Hier begegnet eine literarische ‚verbal fiction’, deren Inhalt „ebenso erfunden wie vorgefunden ist“ und die historischen Umwälzungen „Kohärenz“ verleiht. Wenn also historische Texte laut White „die reale Welt“ erklären, „indem“ sie die „formale Kohärenz“ literarischer Texte an sie herantragen, so ist 1979 ein Roman, der analog zu dieser Sichtweise einen Erklärungswert aufweist, weil er sich formal als faktual grundierter Erfahrungsbericht ausgibt, in welchem historische Tatsachen und Erfundenes nicht klar zu scheiden sind – weil er, kurzum, einen Grad an Faktualität aufweist, den wir, frei nach White, „normalerweise mit den Werken von Autoren der“ Geschichtswissenschaft „assoziieren“. Diese historiographische Komponente des Romans ist zunächst Teil seiner ‚Verstörungsstruktur’: Die ausgewiesene Faktualität des Textes verstärkt auf der wirkungsästhetischen Ebene den Effekt dieser ‚cautionary tale’, denn sie erlaubt es der ‚authorial audience’, sich umso leichter mit wohligem Grausen in den naiven westeuropäischen ‚character narrator’ hineinzuversetzen. In dieser Weise wird 1979 als eine Art historischer Roman lesbar.

Dieses noch zu spezifizierende historiographische Interesse und die Gestaltung des Textes als historischer Roman nimmt aber auch in gewisser Weise die Versuchsanordnung von Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten vorweg. In diesem wird Geschichte nicht mehr im strikt Whiteschen Sinne verarbeitet – als faktuales Bauelement eines Narrativs, dem mit den Mitteln literarischen Schreibens Form gegeben wird –, sondern wird vollkommen kontrafaktisch erzählt. Dieser Befund lässt den Schluss zu, dass sich zumindest 1979 doch in gewisser Weise mit Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ergänzt, dass es also womöglich doch eine Kontinuität in Krachts Schaffen gibt und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten gar nicht so erratisch ist, wie man zunächst vermuten könnte. Deutlich hervorzuheben sind aber die unterschiedlichen Herangehensweisen an historische Tatsachen und den Modus historiographischen Schreibens. In 1979 werden verbürgte Tatsachen als Gestaltungselemente verwendet, um die abschreckende und damit belehrende Appellstruktur des Textes zu verstärken; in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten dagegen wird Geschichte geradezu gewaltsam umgeformt, in gewisser Hinsicht auch schlicht negiert und durch alternative, fiktive Verlaufsformen ersetzt.

In Ergänzung zu Whites Thesen ließe sich diese graduelle ‚Fiktionalisierung’ im Zuge der mit 1979 beginnenden literarischen Auseinandersetzung mit Geschichte noch genauer durch einen Rückgriff auf Ansgar Nünnings Typologie des postmodernen historischen Romans charakterisieren. Dabei fällt auf, dass 1979 als historischer Roman streng genommen relativ konventionell bleibt. Am ehesten passt auf den Text das von Nünning folgendermaßen skizzierte Modell des „[r]ealistische[n] historische[n] Roman[s]“, welches auf das 19. Jahrhundert „zurückgeht“: Realistische historische Romane, so Nünning, „schildern ein weitgehend fiktives Geschehen in einem raum-zeitlich präzise ausgestalteten geschichtlichen Milieu. […] Im Vordergrund steht die meist chronologische Darstellung einer sinnhaften, kausal verknüpften […] Geschichte, während die Ebene der erzählerischen Vermittlung rein funktionalen Charakter hat“ (Nünning 27).

Mag die Darstellung des „Geschehens“ in 1979 auch durch eine ‚Verstörungsstruktur’ traumartig verzerrt oder intensiviert sein, so erzählt der Roman letzten Endes doch eine durchaus klassisch „chronologische“, „sinnhafte“ und „kausal verknüpfte“ Geschichte, die in einem „raum-zeitlich präzise ausgestalteten geschichtlichen Milieu“ angesiedelt ist. „Funktional“ ist die „Ebene der erzählerischen Vermittlung“ dabei insofern als der Iran und die islamische Revolution des Jahres 1979 eher zweckmäßige Staffage sind: 1979 ist ja in letzter Konsequenz kein genuin historiographischer Beitrag über diese Epoche, sondern eine Art moralistisches Gedankenexperiment darüber, was einem genuin ‚postmodernen’ Individuum im Verlauf eines ultra-ideologischen ‚Backlash’ widerfahren könnte.

Anders verhält es sich mit Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Hier treffen wir kein „raum-zeitlich präzise ausgestaltete[s] geschichtliche[s] Milieu“ an, und wenn das „Geschehen“ auch weitgehend „chronologisch“ geschildert wird, so ist es in seiner Drastik doch nicht auf den ersten Blick „sinnhaft[]“ und „kausal verknüpft[]“ – zumal es ja auf einer Meta-Ebene durch zahlreiche Bezüge auf andere kulturelle Artefakte (Conrads Heart of Darkness, Coppolas Apocalypse Now, Dürrenmatts Winterkrieg in Tibet) vermittelt ist und vielleicht nur über diese intertextuelle und intermediale Vermittlung verständlich wird. Die konventionellen Merkmale des historischen Romans sind hier nicht mehr gegeben. Im Sinne Nünnings müsste man in Bezug auf den jüngeren Text demnach von einem „[r]evisionistische[n] historische[n] Roman[]“ sprechen (Nünning 28). Dieser „unterscheide[t] sich von stärker traditionellen Ausprägungen der Gattung“ wie folgt: „Erstens behandelt der revisionistische historische Roman vornehmlich Stoffe, die von einer kritischen Haltung gegenüber der Vergangenheit bzw. den überkommenen Deutungsmustern […] zeugen“ (Nünning 28) – das trifft zweifelsohne auf Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten zu; diverse historische Tropen (die friedliche Schweiz, das instabile und kriegerische Afrika etc.) werden ‚revidiert’ beziehungsweise invertiert. „[Z]weitens“, so Nünning, erzählen revisionistische historische Romane „Gegengeschichten“, also counterfactual history, wodurch sie die traditionellen formalen und wirkungsästhetischen „Beschränkungen“ der Geschichtsschreibung und des Genres des historischen Romans zu überwinden vermögen – auch dieses Kriterium erfüllt Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten klar (Nünning 28). Damit einher geht das dritte Charakteristikum des revisionistischen historischen Romans, das Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ebenfalls aufweist: Der Text „verwendet“ nämlich „spezifisch fiktionale und innovative Formen der Geschichtsdarstellung“ (in diesem Falle eher Gegengeschichtsdarstellung) (Nünning 28). Während also 1979 noch dem eher traditionellen Modell des ‚realistischen historischen Romans’ verpflichtet ist, lässt sich Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten als genuin „postmoderne“ Form des historischen Romans charakterisieren, namentlich als ‚revisionistischer historischer Roman’ (Nünning 28).

Nun scheint allerdings die von Lettow postulierte moralisierende Ader Krachts, die in Faserland, 1979 und Der gelbe Bleistift dingfest zu machen ist, prima facie in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten zu fehlen. Stattdessen drängt sich im Lichte obiger Beobachtungen die Annahme auf, dass im jüngeren Roman der Fokus auf Geschichte und Geschichtsschreibung liegt. Dieses mutmaßliche Wegfallen ethischer Reflexionen im Stil des Frühwerks lässt sich in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten in mehrerlei Hinsicht zeigen: Bei einer oberflächlichen Lektüre entsteht der Eindruck, dass die politischen und moralischen Implikationen der intertextuellen Bezüge (v. a. zu Conrad) nicht näher reflektiert werden, was ebendiese Bezüge als simple und eigentlich redundante Versatzstücke bloßstellt, und dass die postkolonialen Komponenten des Romans ziemlich krude ausgefallen sind.  

Krachts zahlreiche Verweise auf Conrads Heart of Darkness sind nämlich nicht besonders ergiebig; es kommt kaum je zur einer wie auch immer gearteten Vertiefung des aufgerufenen Intertexts. Überhaupt müsste man hier primär von ‚struktureller Intertextualität’ sprechen, denn die Handlung von Krachts Roman ist gleichsam an derjenigen von Conrads Novelle entlanggeführt: In beiden Fällen beschreibt ein ‚character narrator’, wie er in einer feindseligen Umgebung eine ominöse Figur ausfindig macht – Kurtz beziehungsweise Brazhinsky –, die sich im ‚Herz der Finsternis’ verschanzt hat. Es lässt sich unschwer zeigen, dass Kracht Heart of Darkness sehr genau gelesen haben muss; die Anspielungen beginnen schon früh und lassen sich bis auf die Ebene auch der scheinbar trivialsten Details in den Beschreibungen der beiden Ich-Erzähler verfolgen. So schildert Conrads ‚character narrator’ seine Ankunft in der Basisstation der Kolonisten:

A rocky cliff appeared […], houses on a hill, others with iron roofs; […] blinding sunlight drowned all this at times in a sudden recrudescence of glare. […] [I came upon] […] an undersized railway-truck lying there on its back with its wheels in the air. One was off. The thing looked as dead as the carcass of some animal. (Conrad 16)

Man vergleiche diese Passage mit derjenigen in Krachts Roman, in welcher der ‚character narrator’ zum ersten Mal Neu-Bern beschreibt:

[E]rst ging es an mit Rauhreif überzogenen Wellblechhütten vorbei, dann kam ein Gatter […]. Die Sonne glitzerte kalt im Schnee. Ein gepanzertes, außer Gefecht gesetztes deutsches Automobil stand quer, man hatte es noch nicht weggeräumt. (SuS 13)

In Krachts Text finden sich also beinahe wörtliche Übernahmen (oder Übersetzungen) aus Conrads Novelle. Diese Anspielungen ziehen sich leitmotivisch durch den ganzen Roman. Eine der deutlichsten Parallelstellen, und auch das beste Beispiel für Krachts trotz aller Detailkenntnis oberflächlichen Umgang mit Conrads Text, ist die ‚Hüttenszene’, die Kracht kurzerhand übernimmt.

Genau wie Marlow in Heart of Darkness stößt Krachts ‚character narrator’ auf eine „armselige Hütte“, in der er überraschenderweise „Bücher in“ einer fremden, in diesem Fall „englischer Sprache“ (SuS 68) vorfindet. Bei Conrad stört das Buch über „Seamanship“, das Marlow in der Hütte findet, das ganze semiotische Universum, in dem er sich bewegt: Es passt offensichtlich nicht in seine Umgebung – „such a book being there was wonderful enough“ – und es enthält Randnotizen „in cipher“ (Conrad 43). Später stellt sich heraus, dass das Buch einem Russen in Kurtz’ Station gehört und dass die Notizen eben nicht in einer Geheimsprache, sondern in Russisch abgefasst sind. Bis zu dieser Erklärung aber bleibt die Hüttenszene enigmatisch und ist damit programmatisch für Heart of Darkness: Conrad konstruiert mit großer Akribie eine verrätselte Welt, die nicht mehr lesbar ist, in der Zeichen täuschen können oder vollkommen unverständlich sind, in der mithin die Einheit von signifiant und signifié nachhaltig gestört ist. Die Hüttenszene in Krachts Roman dagegen treibt augenscheinlich nur die Handlung voran. Zwar kommt es auch hier zu einer kleineren semiotischen Verwirrung – „[d]ie Titel sagten mir nichts“ (SuS 68) –, aber diese wird später nicht wieder aufgegriffen und auch nicht weiter reflektiert. Eine Szene, die bei Conrad gleichsam poetologische Funktion hat, erscheint also bei Kracht in vereinfachter und fast schon banaler Form wieder.

Diese ‚blinde’ Intertextualität ist ein Indiz für das Fehlen einer ethischen Komponente im Sinne von Krachts frühem Romanwerk. Denn wenn Zeichen trügen und die Welt nicht mehr interpretierbar ist, hat das auch ethische Implikationen – diese werden bei Conrad reflektiert und spielen bei Kracht kaum eine Rolle. Die Charaktere in Heart of Darkness haben ja nicht nur mit dem Schritt von der ‚zivilisierten’ in die ‚unzivilisierte’ Welt zu kämpfen, sondern auch mit der Erkenntnis, dass diese Dichotomie vielleicht gar keine Gültigkeit hat: In der Heterotopie des Dschungels ist man auf sich selbst zurückgeworfen – „you must fall back upon your own innate strength, upon your own capacity for faithfulness“ (Conrad 56) – und die Widersprüche zwischen den hehren kulturimperialistischen Ansprüchen, dem Glauben an die Perfektibilität der ‚Wilden’ durch „science and progress“ (Conrad 28), und der skrupellosen Ausbeutung eines ganzen Kontinents werden deutlich. So entpuppt sich gerade die angeblich ‚zivilisierte’ Heimat der Kolonisten in der Novelle als verlogene, friedhofsartige Welt – „sepulchral city“ (Conrad 27) –, mithin als wahres ‚Heart of Darkness’:

[B]efore the high and ponderous door, between the tall houses of a street as still and decorous as a well-kept alley in a cemetery, I had a vision of [Kurtz] on a stretcher, opening his mouth voraciously, as if to devour all the earth with all its mankind. He lived then before me […]. The vision seemed to enter the house with me – the stretcher, the phantom-bearers […], the beat of the drum, regular and muffled like the beating of a heart – the heart of a conquering darkness. (Conrad 84)

Diese zentrale Ambivalenz fällt bei Kracht weg. Dabei hätte gerade die intertextuelle Übernahme nicht nur von Details, ‚reality effects’ und ähnlichem Zierrat, sondern auch von Conrads differenziertem Blick auf die moralischen Problem- und Spannungsfelder kolonialistischen Tuns eine Gelegenheit zur ‚Ethisierung’ von Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten geboten – einer ‚Ethisierung’, die Krachts frühe Texte eben durchaus aufweisen.

Der Conrad-Intertext bleibt indes gleich in zweifacher Hinsicht blind. Denn wenn es Kracht auch nicht gelingt, auf Conrad in gleichsam affirmativer Weise einzugehen, also seinen eigenen Text mit ähnlich komplexen Diskrepanzen und spannungsgeladenen Leerstellen zu untertiefen wie sie sich in Heart of Darkness finden, so hätte er in seinen Anspielungen doch von der langen Tradition der postkolonialen Kritik an Heart of Darkness zehren können. Will sagen: Auch eine kritische, vielleicht gar polemische Bezugnahme auf Conrads bekanntlich nicht unproblematische Novelle hätte Krachts Roman eine profunde moralische Komponente verliehen. Nach Spuren einer postkolonialen Conrad-Lektüre sucht man in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten wiederum vergeblich, wie der Roman überhaupt einen sehr bedenklichen Umgang mit (post-)kolonialen Frage- und Problemstellungen betreibt.

Neben der bereits erwähnten Hüttenszene böte in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten vor allem eine Parallelstelle zu Heart of Darkness Gelegenheit für eine ‚ethische’ postkoloniale Reflexion. In Conrads Text nämlich entwirft Marlow einmal ein Alternativszenario, in dem Schwarze durch England ziehen und als Kolonisten auftreten, also den Spieß umdrehen:

[I]f a lot of mysterious niggers armed with all kinds of fearful weapons suddenly took to travelling on the road between Deal and Gravesend […], I fancy every farm and cottage thereabouts would get empty very soon. (Conrad 22)

Dieses Alternativszenario entspricht genau der Versuchsanordnung von Krachts Roman, in dem sich ja tatsächlich ein Afrikaner mit „fearful weapons“ (Conrad 22) durch das Schweizer Mittelland bewegt und als Offizier Autorität über einfache (weiße) Soldaten ausübt. Dieser Rollentausch, gekoppelt mit der sukzessiven Ablösung des Protagonisten von der schweizerischen Indoktrination und seiner nicht nur geographischen Wendung zu den afrikanischen „Brüdern“ und „Ahnen“ (SuS 143-144), mutet zunächst wie eine postkoloniale Geste Krachts an. Der ganze Emanzipationsprozess des ‚character narrators’, der zuerst „die Schweizer Zeit“ (SuS 143) hinter sich lässt und schließlich „durch den Kanal, der nun uns Afrikanern gehören würde“ (SuS 146) in seine Heimat zurückreist, spielt sich in bester Fanonscher Manier als Rückbesinnung auf die eigene präkoloniale Vergangenheit ab, wie übrigens auch der Exodus der Afrikaner aus den von Corbusier konzipierten Retortenstädten „zurück in die Dörfer“ (SuS 148) am Ende des Romans. Dass die Arbeit an Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten auch im Zeichen einer Auseinandersetzung mit Frantz Fanons Thesen stand, gibt Kracht übrigens selbst zu Protokoll[iii]. So heißt es in Fanons Die Verdammten dieser Erde:

[D]ie [kolonisierten] Intellektuellen [stellen] sich in den Rahmen der Geschichte. Sie beschließen, auf die kolonialistische Theorie einer vorkolonialen Barbarei aggressiv zu antworten. […] [M]an muss sich über die Heftigkeit wundern, mit der die kolonisierten Intellektuellen die Existenz einer nationalen Kultur verteidigen. Aber wer diese übertriebene Leidenschaft verurteilt, der vergisst, dass sein Ich sich bequem hinter einer französischen oder deutschen Kultur verschanzen kann, die […] von niemandem bestritten werden. […] [D]iese leidenschaftliche Suche nach einer nationalen Kultur vor der kolonialen Ära [ist] durch das Bestreben der kolonisierten Intellektuellen legitimiert […], gegenüber der westlichen Kultur […] Abstand zu gewinnen. (Fanon 177-178)

Fanons Modell der Dekolonisation, die „Suche nach einer nationalen Kultur vor der kolonialen Ära“, wird von Kracht zweifellos aktualisiert, aber seine Rezeption dieser Thesen greift zu kurz. Die Verweise auf Fanons Befreiungstheorie sind bei genauer Betrachtung oberflächlich und täuschen nicht darüber hinweg, dass Kracht keine realistische postkoloniale Situation konstruiert, oder jedenfalls keine postkoloniale Situation im Sinne Fanons, sondern eine lyrisierend-delirierende Befreiungsphantasie. Fanon beschreibt den Kolonialismus anschaulich als „Terrorregime“ (Fanon 177) und stellt klar, dass „die Dekolonisation […] immer ein Phänomen der Gewalt“ ist, ein „historischer Prozess“, und „nicht das Resultat einer magischen Operation“ (Fanon 29). Bei Kracht dagegen scheint sich die Emanzipation relativ reibungslos zu vollziehen; jedenfalls sind ihm allfällige Schattenseiten des Befreiungsprozesses keine Erwähnung wert. Die „Grausamkeit“, mit der „die blauen Augen unserer Revolution brannten“ (SuS 147), bleibt letztlich eine Blindstelle, denn außer Corbusier, der beim Exodus der Kolonisierten in die Dörfer Suizid begeht, scheint nicht einmal jemand zu Tode zu kommen: „Die eilig aufgebrachten Soldaten, die der Architekt an den Rändern der Städte Sperrposten beziehen ließ, legten die Gewehre nieder und reihten sich in die Menschenströme ein“ (SuS 148).

Der von Kracht zur Darstellung gebrachte Vorgang der Dekolonisation entspricht mithin keineswegs den von Fanon spezifizierten Parametern: Er ist offenbar kein „Phänomen der Gewalt“, und schon gar nicht ein „historischer Prozess“, denn die Dekolonisation ereignet sich tatsächlich „über Nacht“ (SuS 148). Vielmehr gestaltet Kracht die Befreiung als „magische Operation“, als poetische Reise des offenbar zum Messias avancierten Protagonisten „zur Liebe hin“, „[u]nter einem brennend blauen Himmel“ (SuS 146-147). Dazu „tönt[]“ auf dem Schiff, mit dem der ‚character narrator’ nach „Somaliland“ reist, „blechern und wehmütig ein altes irisches Volkslied aus einer Stimm-Schrift-Maschine“ (SuS 146), womit wohl Danny Boy gemeint sein wird, das im Titel des Romans auch anzitiert wird. Zu den Klängen eines eher kitschigen Volkslieds also, das zwar eventuell ein irisches Emigrantenschicksal und damit auch das Schicksal eines Kolonisierten beschreibt, nicht aber die Dekolonisation, vollzieht sich die Befreiung Afrikas in Krachts Roman. Dieser beschreibt somit, man darf es so sagen, mit erstaunlicher Naivität oder Gleichgültigkeit eine vollkommen unrealistische Dekolonisation in einem romantisierten Afrika. Zwar modellierte Kracht augenscheinlich Teile von Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten gemäß Fanons Thesen, verfuhr dabei aber fahrlässig: So folgt der Befreiungsprozess strukturell dem Fanonschen Modell (die Unterdrückten machen sich auf, ihre genuin eigene Kultur wiederzubeleben), ist aber mirakulöserweise frei von allen Schwierigkeiten, die Fanon eben auch beschrieb. Deshalb geht der Darstellung der Dekolonisation in Krachts Roman jegliche Plausibilität und ethische Stringenz ab; die Gestaltung eines oberflächlich an Fanon geschulten, allerdings vollkommen gewalt- und reibungslosen Dekolonisationsvorgangs kann in ihrer Naivität durchaus anstößig wirken. Jedenfalls werden die Defizite von Krachts Aktualisierung des Conrad-Intertexts besonders deutlich, wenn man sich die rudimentäre Fanon-Rezeption in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten bewusst macht, denn gerade Conrad hatte offenbar – mehr als sechzig Jahre vor der Publikation von Fanons Text – ein feineres Gespür als Kracht für bestimmte Perversionen des Kolonialismus. So fragt Marlow nach seiner Ankunft in Kurtz’ Lager den verwirrten Russen, den er dort antrifft, warum die Eingeborenen kurz zuvor sein Boot attackiert hätten. „They don’t want [Kurtz] to go“ (Conrad 62), lautet die lakonische Antwort, obwohl oder eben gerade weil Kurtz sich von den Afrikanern als Gott verehren lässt und sie brutal knechtet. Wie schon in der oben erwähnten Hüttenszene vermag es Kracht also bei der Darstellung des Zusammenbruchs der Schweizer Kolonien in Afrika nicht, den von Conrad behandelten Themen auf den Grund zu gehen, obwohl ihm dazu ein ganzes Korpus an postkolonialer Reflexion zur Verfügung stünde.

Aber auch eine kritische Relektüre Conrads, die sich, wie oben erwähnt, im Zusammenhang mit dem Thema des Kolonialismus angeboten hätte, wird in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten versäumt. Der Fund des in englischer Sprache abgefassten Buches in der Hütte in Heart of Darkness lässt sich nämlich nicht nur gleichsam strukturalistisch als Element in einer komplexen Verrätselungsstruktur begreifen. Homi Bhabha hat die Szene auch einer postkolonialen und dekonstruktivistischen Lektüre unterzogen:

The discovery of the book installs the sign of appropriate representation: the word of God, truth, art creates the conditions for a beginning, a practice of history and narrative. […] The immediate vision of the book figures those ideological correlatives of the Western sign – empiricism, idealism […] – that sustain a tradition of English ‚national’ authority. […] Towson’s manual [das Buch, das Marlow findet, ist Towsons Inquiry into some Points of Seamanship, Anm. von J. R.] provides Marlow with a singleness of intention. It is the book of work that turns delirium into the discourse of civil address.“ (Bhabha 1169-1170)

Das Buch in der Hütte erscheint also, wenn man Heart of Darkness gegen den Strich liest, gerade nicht als erratisches Zeichen, das paradigmatisch für das semiotische und moralische Chaos des Dschungels steht. Vielmehr könnte man es mit Bhabha als ordnungsstiftende Metonymie für koloniale Macht interpretieren. Diese geriete so gleichsam durch die Hintertür in einen Text, der, wie gezeigt, dem Kolonialismus prima facie durchaus kritisch begegnet. Das gefundene Buch kreiert einen Haarriss in dieser kritischen Oberfläche und „allows the fraught text of late-nineteenth-century imperialism to implode within the practices of early modernism“, was zu „ideological ambivalences“ (Bhabha 1171) führt. Auch diese kritische Lesart hätte eine Gelegenheit für Kracht dargestellt, seinem Roman auf konkrete Weise Komplexität und moralische Tiefe zu verleihen, beispielsweise durch die Erwähnung eines für die Schweizer Kolonisten bedeutungsstiftenden Texts in der Hütte.

Für die postkoloniale Sensibilität, die Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten vermissen lässt, gäbe es im Übrigen ein Beispiel in Krachts früheren Schriften: Im Gelben Bleistift beschreibt Kracht „eine Bar, die sich“ – ausgerechnet – „Heart of Darkness nannte“ (GB 42). Dabei äußert Kracht durchaus luzide Kritik an der perversen „Freude am kitschigen Spiel mit der leichten Kriegs-Frisson der Touristen“, und die amerikanischen Gäste in der Bar, die „zu Sharky’s Bar fahren [wollten], zu den Fünf-Dollar-Nutten“ (GB 42), widern ihn offensichtlich an. Mit einem feinen Sensorium für die postkoloniale Problematik gelingt es Kracht hier, „[to] expose[] the milieu’s efforts to suture together codes originally concocted to paint an American imaginary of Vietnam after the Vietnam war“ und „[to] [u]nmask[] this orientalist simulation“ (Langston 59). Ebendieses Sensorium, das in Krachts Frühwerk in fast schon penetranter Weise präsent ist, sucht man in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten vergeblich. Womöglich gibt es aber, wie zuvor beim ersten Verweis auf die Thesen Hayden Whites und Ansgar Nünnings angemerkt, ein anderes, subtileres Sensorium, das in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten wirksam ist – und das vielleicht eine ganz spezifische und abstraktere ethische Qualität aufweist.

Stefan Bronner stellt richtig fest, dass sich die ersten drei Romane Christian Krachts in eine „Poetik des Verschwindens“ einordnen lassen. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ist mithin als „Weiterführung des bereits in den zwei vorherigen Romanen Angedachten zu verstehen“: In Faserland ‚verschwindet’ der ‚character narrator’ nach seiner erfolglosen Identitätssuche, indem er sich „auf den Zürichsee hinaus[rudern]“ lässt, und in 1979 „löst sich das Ich im Arbeitslager auf“ (Bronner 104). Dieses Programm wird in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten fortgeführt: Auf der Reise des Protagonisten nach Afrika befreit er sich sukzessive von seinem ‚identity kit’[iv] und auf dem Schiff behandelt ihn die Crew „als sei [er] unsichtbar“ (SuS 146). Bronner bemerkt nicht zu Unrecht, dass es dieses postmodernen „Verschwindens des Subjekts und der damit verbundenen Vorstellungen von Einheit, Sinn und Ordnung“ bedarf, „[u]m dem Phänomen ‚Wirklichkeit’ in der Literatur gerechter zu werden“ (Bronner 106). Jedoch scheint ihm zu entgehen, dass Krachts Poetik des Verschwindens in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten auf ganz andere Weise aktualisiert wird als in den früheren Romanen. Wenn man nämlich Bronners These von der „Poetik des Verschwindens“ mit den Ansätzen von Lettow und Langston kombiniert, wird deutlich, dass sich das Verschwinden des Subjekts in Faserland und 1979 vor dem Hintergrund einer mit kritischem Blick geschilderten Wirklichkeit abspielt, deren „[V]erkommen[heit]“ (FL 30) und deren „leeres Zentrum“ (1979 98) entlarvt werden. Damit entfaltet das „Verschwinden“ in Faserland und 1979 ethisches und kritisches Potenzial und stiftet auch Kohärenz zwischen den beiden Romanen: In ihnen wird „the topos of […] space“, der sich im Titel Faserland ankündigt, mit dem „topos of temporality“ in 1979 „cross-fertilize[d]“ (Langston 53).

Kracht konstruiert in seinen ersten beiden Romanen mithin eine Art Raum-Zeit-Achse kritisch-moralisierender postmoderner Reflexion, in die sich Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten prima facie nicht einfügen lässt. Denn im Gegensatz zu Faserland und 1979 spielt sich das Verschwinden des erzählenden Subjekts in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ja gerade nicht vor dem Hintergrund einer als defizitär empfundenen und kritisch analysierten postmodernen Wirklichkeit ab, sondern vor der Kulisse einer durchaus unterhaltsamen und aufwendig gestalteten, aber fiktiven Alternativwelt. Der Topos des ‚Verschwindens’ ist somit zwar in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten präsent, aber anders geartet als in Krachts älteren Romanen, in denen dieses ‚Verschwinden’ immer mit moralischer Reflexion verschaltet war. In Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten fehlt diese explizite moralische Komponente. Wenn der Topos des ‚Verschwindens’ dennoch aktualisiert wird, so ist er jedenfalls nicht unmittelbar mit der in dieser Arbeit skizzierten Form postmoderner moralischer Reflexion erklärbar, welche Faserland und 1979 innewohnt. Einmal mehr wird deutlich, dass Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten im Werkkontext des Autors eine irritierende und erratische Position einzunehmen scheint.

Auf dieser Basis, aber auch aufgrund der diskutierten‚ defizitären Intertextualität’ des Werks und seines fragwürdigen Umgangs mit dem Thema der Dekolonisation, könnte man leicht zu einem negativen Urteil über Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten kommen. Das wäre aber voreilig, denn Krachts Interesse an ethischen Fragestellungen fällt in diesem Roman nicht einfach weg. Vielmehr wird es in andere Bahnen gelenkt, und zwar in einer Weise, die durchaus mit der „Poetik des Verschwindens“ kompatibel ist, aber, anders als Bronner zu glauben scheint, nicht einfach nahtlos an den Topos des ‚Verschwindens’ im Frühwerk anschließt. Denn im vorliegenden Text wird gerade nicht das „Verschwinden[] […] des Subjekts“ (Bronner 105) gestaltet; schließlich eignen dem „disappearing act[]“ (Langston 50) des Erzählers keine offensichtlichen kritischen und moralisierenden Weiterungen im Stil der früheren Romane. Was in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten indes tatsächlich zum Verschwinden gebracht und damit thematisch gemacht wird, und zwar mit einiger erkenntnisstiftender Konsequenz, ist die Geschichte, also „Historiographie“ als „Tiefenstruktur der historischen Einbildungskraft“ (Schössler 101) im Sinne des zuvor erwähnten Hayden White.

Zur Rekapitulation: White geht davon aus, dass „jeder Zugriff auf die Wirklichkeit […] tropologisch verfasst ist, das heißt mit Sprachfiguren arbeitet, die das Unbekannte bekannt werden lassen“ (Schössler 104). Ausgehend von einer solchen Homologie zwischen literarischen Tropen und den narrativen Mustern der Geschichtsschreibung liest – oder demaskiert – er „historische[] Erzählungen“ (Schössler 101) als „sprachliche Fiktionen [verbal fictions], deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften“ (White 124-125). Nun soll nicht behauptet werden, dass Kracht in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten Whites Thesen tatsächlich umsetzt oder anwendet: White spricht ja von einem ‚emplotment’ tatsächlicher Ereignisse, das durch Historiker vorgenommen wird und mit den Modi fiktionalen literarischen Erzählens vergleichbar ist, während Kracht die Geschichte des 20. Jahrhunderts kurzerhand und in fast schon gewalttätiger Manier umbiegt. Dennoch zeigt der Verweis auf White, dass sich Krachts kontrafaktischer Roman nicht auf seine auffälligen Blindstellen reduzieren lässt. Obwohl nämlich in Krachts Text nicht ‚Geschichtsschreibung’ im Whiteschen Sinne betrieben, sondern kontrafaktisch fabuliert wird und somit ‚Geschichte’ – ganz im Sinne der „Poetik des Verschwindens“ – tatsächlich ‚verschwindet’, ist in ihm doch derselbe Impetus wirksam, den White beschreibt: Kracht erkundet die tendenzielle Artifizialität und Poetizität von Geschichtsschreibung. Diese Reflexionen sind konsequenterweise autoreferenziell grundiert. So macht zum Beispiel die Theaterisotopie am Anfang des Romans deutlich, dass Geschichte in dieser kontrafaktischen Kriegschronik inszeniert wird, dass Geschichte vielleicht immer eine Inszenierung ist: „Der Weg zum Bahnhof“ erscheint dem ‚character narrator’ „jeden Morgen wie eine Theaterkulisse“; „immer wieder schwarze Vögel, die gerade so aufflatterten, als ziehe sie ein unsichtbarer Bühnenmeister an einem Bindfaden durch die Szenerie“ (SuS 13). Später kommt es ihm „erneut“ vor, „als seien diese ruinierten Häuser Theaterkulissen“, und in einer Art Vision eines wiederaufgebauten Neu-Bern schweben ihm bezeichnenderweise zuallererst „Theatergebäude“ vor – diese werden noch vor dem „Sowjetrat“, vor den „Fabriken“ (SuS 26) genannt.

Die Theatermetapher greift Whites Begriffsschatz auf: White übernahm nämlich aus Northrop Fryes Analyse der Literaturkritik „vier Kategorien“ – Tragödie, Komödie, Romanze und Satire –, die er seinem „Geschichtsent[wurf] als metageschichtliches Fundament zugrunde [legt]“ (Schössler 101), und gleich zwei dieser Kategorien sind Bühnenkünste. Die Emphase des in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten gültigen Geschichtsbegriffs liegt somit durchaus auf dem von White beschriebenen Komplex, auf der Produktivität einer historischen Einbildungskraft, welcher mit den formalen Mitteln der Dichtung Form gegeben werden kann. Dabei wird die Whitesche Konzeption von Geschichtsschreibung in radikalisierter Form aktualisiert: Bei Kracht ist die Poetizität der Geschichtsschreibung so ausgeprägt, dass das erzählte Geschehen letztlich nur noch wenig mit ‚Geschichte’ zu tun hat – dass ‚Geschichte’ in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten mithin nur noch als ‚Gegengeschichte’ figuriert und ‚Geschichte’ als Kategorie faktual grundierten Berichtens über vergangene Ereignisse, eben, zum ‚Verschwinden’ gebracht wird.

Diese Gestaltung ist wiederum konsistent mit den Merkmalen, die Nünning dem revisionistischen historischen Roman zuschreibt. Faktualität und Fiktionalität werden durch die Erzählung einer „Gegengeschichte“ suspendiert, und die „Geschichtsdarstellung“, die bei Kracht im Zeichen einer Theatermetapher steht, ist „fiktional[] und innovativ“ (Nünning 28). Allerdings ist zu konstatieren, dass Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten auch Merkmale einer anderen Kategorie des historischen Romans aufweist, die Nünning skizziert, namentlich der „historiographic metafiction“ (Nünning 28). Denn Krachts Werk ist durchaus bemüht, grundsätzlich „die Erkennbarkeit und Rekonstruktion von Geschichte […] in Zweifel [zu] ziehen“ (Nünning 28) beziehungsweise „geschichtliche Themen“ nicht zuletzt „im Dienst der theoretischen Reflexion über Probleme der Geschichtsschreibung einzuführen“ und damit den „Akzent von der Geschichtsdarstellung auf die Reflexion über die Rekonstruktion von geschichtlichen Zusammenhängen und die Thematisierung geschichtstheoretischer Fragen zu legen“ (Nünning 30-31). Damit ließe sich Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten gleichsam als Hybridform der beiden prominentesten Ausprägungen des postmodernen historischen Romans charakterisieren: des revisionistischen und des metafiktionalen historischen Romans.

Wenn Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten auch die ethisch instruktive Komponente von Krachts Frühwerk vermissen lässt, so wird diese doch durch ein übergeordnetes Interesse an Geschichte, Geschichtsschreibung und der Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit vermeintlicher historischer Tatsachen ersetzt. Dieses Interesse ist in statu nascendi bereits in 1979 anzutreffen und wird im dritten Roman klarer konturiert: Krachts literarisches Interesse an Historiographie kann nicht nur im Rückgriff auf die einschlägigen Thesen Hayden Whites verständlich gemacht werden, sondern ist zudem an Ansgar Nünnings Typologie des historischen Romans zurückzubinden. So scheint mir 1979 eher dem traditionellen Modell des realistischen historischen Romans verpflichtet, während Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten als Mischform des revisionistischen und des metafiktionalen historischen Romans lesbar ist. Die „ethische Komponente“, welche Lettow in Krachts Frühwerk feststellt, bleibt damit in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten wider Erwarten erhalten, denn die von Kracht unternommene Problematisierung von Geschichtsschreibung als potenziell fiktional vorgeformt hat ihrerseits eine signifikante ethische Qualität: Nünning attestiert sowohl dem revisionistischen als auch dem metafiktionalen historischen Roman großes kritisches Potenzial – durch das „Erzählen von Gegengeschichten“ beispielsweise würden „vergessene oder unterdrückte Aspekte der Vergangenheit“ thematisiert, aber auch „gegenwärtige Verhältnisse, überkommene Traditionen und etablierte Deutungsmuster in Frage“ gestellt; „insgesamt“ werde im revisionistischen historischen Roman „eine Überprüfung, Zurückweisung und Veränderung vorherrschender Geschichtsbilder und Kontinuitätsvorstellungen“ vorgenommen (Nünning 34). Diese Beschreibung passt zweifellos auf Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, dessen „Gegengeschichte“ ja bei allen Schwächen der Fanon-Rezeption beispielsweise einen interessanten Kontrast zwischen „überkommene[n]“ Schweiz- und Afrika-Bildern aufbaut.

Weil sich Krachts Text aber eben auch auf einer Meta-Ebene mit Geschichtsschreibung und Geschichte befasst, eignet ihm zudem eine „didaktische Tendenz“: Durch seine „metahistoriographischen Reflexionen“ schärft er „das Bewusstsein dafür, dass die geschichtliche Welt dem Historiker nicht direkt zugänglich ist […], dass auch historiographische Werke sprachliche Konstrukte sind, die narrative Darstellungsmuster verwenden“ (Nünning 37). Die in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten zu konstatierende literarische Anfechtung des „Anspruch[s] der Historiographie auf Objektivität, Totalität und Wahrheit“ (Nünning 39) birgt einen klaren ethischen Impetus, der in ähnlicher Form eine lange Tradition in der deutschsprachigen Literatur hat[v]. Der Verdacht auf ein ‚ethisches Vakuum’ in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten bewahrheitet sich somit entgegen ersten Erwartungen und Lektüren nicht. Der Text lässt sich zwar nicht direkt in den erstaunlich kohärenten raum-zeitlichen Komplex von Faserland und 1979 eingliedern, zeugt aber von einem Engagement mit neuen, über das frühere Romanwerk hinausweisenden Fragestellungen.

 


Endnoten
[i] Der Terminus ‚Ich-Erzähler’ – ist doch jeder Ich-Erzähler zugleich ein ‚Er-’ oder ‚Sie-Erzähler’, ganz zu schweigen vom gendering des Begriffs – wird hier durch James Phelans Begriff des „character narrator“ ersetzt (Phelan 210). Ein „character narrator“ ist laut Phelan ein (geschlechtlich nicht spezifizierter) homodiegetischer Erzähler, der sowohl sogenannte „character functions“ als auch „telling functions“ erfüllt (Phelan 210, Hervorhebung im Original). Character functions bezeichnen „the ways in which the ‚I’ functions as an actor in the events of the narrative“, während die telling functions „the ways in which the ‚I’ functions as a teller of the narrative“ näher bestimmen (Phelan 210). Die telling functions zerfallen ihrerseits in die „narrator functions“ und die „disclosure functions“ (Phelan 210). Erstere betreffen „the narrator’s communication to the narratee“, zweitere „the narrator’s unwitting but inevitable and crucial communication to the authorial audience“ (Phelan 210). Der Begriff der „authorial audience“ stammt von Peter J. Rabinowitz und meint ungefähr dasselbe wie ‚intendierter Leser’: „the […] concept of the […] authorial audience […] has substantially different implications. The intended reader [d. h. die ‚authorial audience’, Anm. v. J. R.] – the hypothetical person who the author hoped or expected would pick up the text – may not be marked by or ‚present in’ the text at all but may rather be silently presupposed by it. The intended reader, therefore, is not reducible to textual features but can be determined only by an examination of the interrelation between the text and the context in which the work was produced“ (Rabinowitz 85).

[ii] Das „Archivieren“ ist für Moritz Bassler das Hauptmerkmal der Popliteratur: „Die neuen Archivisten, besser bekannt als Pop-Literaten […][,] archivieren [in] ihre[n] Büchern in geradezu positivistischer Weise Gegenwartskultur […]“. (Bassler 184).

[iii] Vgl. das Interview mit Christian Kracht in der Welt vom 13.10.2008 (http://www.welt.de/kultur/article2559767/Christian-Kracht-und-die-nackte-Angst.html, Zugriff am 22.12.2012).

[iv] „Ich warf meinen schweren Soldatenmantel und Brazhinskys kranke Lektionen weg“; „Ich tauschte bei einem Reisbauern die Stiefel gegen einfache Schuhe aus Bast“ (SuS 138, 143).

[v] So verfasste Theodor Fontane mit Vor dem Sturm einen Zyklus historischer Romane, die bewusst die Erwartungen des Publikums enttäuschten, indem sie beispielsweise auf die Inszenierung von Geschichte als Teleologie im Sinne des deutschen Nationalismus verzichteten (die Proklamierung eines derartigen Geschichtsbilds mit den Mitteln des historischen Romans war gewiss mit ein Grund für die enorme Popularität eines anderen, fast zeitgleich entstandenen historischen Romanzyklus: Gustav Freytags Ahnen).

 

Verwendete Abkürzungen

1979: Kracht, Christian. 1979. München: dtv, 2008.

GB: Ders. Der gelbe Bleistift. Reisegeschichten aus Asien. München: dtv, 2008.

FL: Ders. Faserland. München: dtv, 2009.

SuS: Ders. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008.

 

Bibliographie

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Bronner, Stefan. „Das offene Buch – Zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit in Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten.“ Deutsche Bücher 39.2 (2009): 103-111.

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Langston, Richard. „Escape from Germany. Disappearing Bodies and Postmodern Space in Christian Kracht’s Prose.“ The German Quarterly 79.1 (2006): 50-70.

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Phelan, James. „Redundant Telling, Preserving the Mimetic, and the Functions of Character Narration“. Narrative 9.2 (2001): 210-216.

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