Sep 2020
VII. Laudatio, Hommage, In Memoriam: Laudatio für Herta Müller
Laudatio für Herta Müller –
Anlässlich der Verleihung
des Ovid-Preises des
PEN-Zentrums deutschsprachiger
Autoren im Ausland 2018
Guy Stern, West Bloomfield, Michigan
Präsident des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland
Meine Damen und Herren,
die mir heute vom Vorstand und den Mitgliedern unseres PEN-Zentrum Deutschsprachiger Autoren im Ausland vorgeschlagene Aufgabe, eine Laudatio für Herta Müller zu halten, ist für mich eine besondere Ehre. Die zentralen zeitgenössischen Themen und deren kreative erzählerische Umsetzung, die ich in meinen Ausführungen andeute, sind zurecht in mehreren Interpretationen Ihrer eindrucksvollen Werke, liebe Frau Müller, besonders betont worden. Für uns, die hier versammelten Mitglieder des PEN Zentrum Deutschsprachiger Autoren im Ausland, war es deshalb auch keine Überraschung, als Sie eine Reihe der wichtigsten Preise bis hin zu der Verleihung des Nobelpreises der Literatur erhalten haben.
Was können wir dem noch hinzufügen? Wohl in erster Linie, dass Sie für uns ganz besonders ein Leitbild und ein Ansporn bedeuten und bleiben werden. Bekanntlich ging unser Kapitel des internationalen PENs aus denselben Motiven hervor, die sich bei Ihnen ebenfalls in Ihrem Leben und Werk abzeichnen. Um diese Übereinstimmung zu belegen, genügt Ihr Einsatz für ein bisher nicht bestehendes Museum für Exil und Exilanten. Ich darf Sie zitieren: „Das Exil ab 1933, die Vertreibung von hunderttausenden Deutschen ins Ausland ist eine Leerstelle in der Museumslandschaft.“
Natürlich gibt es an mehreren Orten – ja gerade in der Bibliothek, in der wir uns befinden – eine Gedenkstätte in Form des vorbildlich geführten Archivs, das schließlich zur Schaffung der hiesigen Dauerausstellung führte. Aber ich entnehme Ihrem Werk, dass Sie damit auch noch ein anderes Ziel verfolgten. Ich gehe da zum Beispiel von Ihrer unverblümten Darstellung eines Dorfes in der Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan in der Welt aus, wo fast alle Bewohner einer Ortschaft das dringende Bedürfnis haben, ihren Wohnsitz zu verlassen.
Das Neue an Ihrer Erzählung aber ist, dass bei Ihnen, wie in so vielen Ihrer Prosawerke, sozusagen die ganze Bevölkerung zu Wort kommt, nicht nur die Prominenten, wie in so vielen früheren Auswanderergeschichten. Sie lauschen den Leuten auf der Straße ihre einfache Sprache ab. „Dort [im Gebirge] möchte ich nicht begraben sein“, äußert sich der Protagonist Windisch. An anderer Stelle hofft er, dass er mittels einer Bestechung für sich, seine Frau und Tochter eine Ausreisegenehmigung von der Behörde bekommt, ohne dass seine Tochter sich opfern muss. Er sagt nur wortkarg: „Was nützt der Dank des Beamten.“ Begleitet wird diese kurze Bemerkung von einem Zusatz: „Windisch lässt sich auf den Lippen seine Bestürzung anmerken… Seine Mundhöhle wächst ihm ins Gesicht.“ Diese Beobachtung, die einem Durchschnittsbürger gilt, bleibt ohne ausführliche Erklärung, aber die Besorgnis des Vaters wird offenkundig in der eindrucksvollen Wortwahl der Autorin.
Liebe Frau Müller, Sie erinnern uns an die Exilanten vieler Zeiten und verschiedener Herkunft. Thomas Mann nannte einmal sein Jahrhundert „Das Jahrhundert des Exils.“ Das trifft sicher zu, aber die Kette vertriebener Menschen ist nie abgerissen. Ihre Texte vermitteln beispielsweise diese Fortsetzung des Exils aus anderen Zeiten. Sie bemerkten dazu in einer Ausführung bei einem Treffen in Boston: „Ich möchte einen Satz sagen können, in dem ich das Schicksal aller Verfolgten bis zum heutigen Tag veranschaulichen kann.“
Die besondere Bedeutung dieses Wunsches wurde mir außerdem vor kurzem weiterhin veranschaulicht durch die Premiere eines Dramas LʼEneide von dem frankokanadischen Dichter Oliver Kemeid. Es handelt sich um eine Modernisierung des Dramas von Vergil – Ovids ungefährem Zeitgenossen. Aber in Kemeids Drama sind der klassische Aeneas und der heutige Aeneas Schicksalsgenossen. Bei Vergil versperren z.B. Bewaffnete Aeneas den Weg, heute genügt eine Gestalt mit einem Clipboard [dt. „Klemmbrett“].
Aber da Ihre Arbeiten, liebe Frau Müller, ausnahmslos Klartext reden, vermitteln Sie diese Exil-Erfahrungen auch in einem anderen, weniger direkten Kontext. In Ihren Untersuchungen von Termini und Begriffen, die meist durch eine Begebenheit veranschaulicht werden, setzen Sie sich z.B. mit dem Begriff „Grenze“ auseinander. Sie als Exilantin erfahren selbstverständlich die Widrigkeiten einer Grenzüberquerung auf andere Weise. Und so sehen Sie einen Ausflug von Saarbrücken ins französische Lothringische viel besorgter als ein einheimischer Bekannter. Oder aber, es steigt im Zusammenhang mit einer anderen Wortergründung, nämlich des „Mitbürgers“ auf. Es fällt bei einer Befragung durch einen Schergen der Diktatur. Unwillkürlich denkt der Leser an das Wort „Ausgrenzung“. Der Beamte spricht Ihnen die Staatszugehörigkeit ab, obwohl Ihre Familie seit Generationen in Rumänien ansässig war und Ihre Vorfahren zum Wohl des Landes beigetragen hatten. Ein einziges Wort kann in der Tat so viele Konnotationen auslösen.
Unser PEN – aus dem Exil hervorgegangen – und der heutige Preis – abgeleitet von Ovid – dem ersten Exildichter, ehrt Sie also nachdrücklich für Ihre Einfühlung in mannigfaltige Exilschicksale, und zwar aus eigener Perspektive und Erfahrung. Wir sind uns dabei bewusst, dass Sie solchen Schicksalen in einer dichterischen Sprache, vor allem durch eindrucksvolle Metaphern Ausdruck verleihen.
Ihre Bestrebungen, liebe Frau Müller, eine Definition für den Begriff „Heimat“ bei Vertriebenen zu finden, decken sich mit unseren Vorstellungen und Versuchen. Viele Exilanten und Wissenschaftler haben sich bereits mit diesem Thema befasst – oft unter Berufung auf ein Buch des deutsch-jüdischen Emigranten Jean Améry. Er und viele andere, unter ihnen die Exildichterin Hilde Domin, sind zu dem Schluss gekommen, dass die Muttersprache auch Heimat ist. Aufgrund dieser Überzeugung haben es sich auch viele Exilanten zur Aufgabe gemacht, die Sprache von Missbrauch freizuhalten – sei es von einem Aufguss der Nazisprache oder bestimmter Wörter aus der DDR-Zeit. Das war auch Ihr Ziel wie das unserer Organisation. Auf der anderen Seite verneinen Sie aber in ihrem Essay Heimat ist das, was gesprochen wird diesen Zusammenhang. Eine Identität von Heimat und Sprache entbehrt Ihrer Meinung nach der Logik. Die Frage, die Sie stellen, ist die, ob die Sprache nicht zu individuell für eine solche Identität ist. Nach der Lektüre Ihres Essays werde ich nunmehr vorschlagen, dass wir unsere Prämisse noch einmal überdenken.
Eine weitere Komponente unserer gemeinschaftlichen Bestrebungen könnte man mit einem Schillerwort signalisieren: „In tyrannos“. Sie haben einen mutigen Angriff auf eine Tyrannei dargestellt, die Sie selbst erlebt haben. Das ist für uns ein Vorbild, das uns anregt, es Ihnen gleichzutun. Ein Komitee unseres PEN-Kapitels unter der Leitung von Frau Dr. Freya Klier widmet sich den von diktatorischen Regimen eingesperrten Schriftstellern. Viele von uns beteiligen sich an den Protestbriefen, die wir an die verschiedenen Regierungen schicken. Diese Bestrebungen haben offensichtlich einer ganzen Reihe verhafteter Schriftsteller mit zur Freiheit verholfen.
Außerdem finden wir uns zweifelsohne nochmals zusammen in unserer Abwehr gegen jede Art von Tyrannei und Diktatur. Hier möchte ich mich in erster Linie auf Ihre Romane und Erzählungen berufen, was durchaus naheliegt. Sie haben Ihre Leser einmal darauf hingewiesen, dass Ihr Erzähltalent nicht zu trennen sei von der Entlarvung der gewissenlosen Machthaber, insbesondere von dem rumänischen Diktator Ceauşescu. Es fällt leicht, dieser Aufforderung Folge zu leisten, denn Ihre Jʼaccuse sind unmissverständlich und durchziehen Ihr Prosawerk. Noch während der Herrschaft von Ceauşescu, also Jahre vor dem Ende der Diktatur und vor Ihrer Auswanderung, haben Sie es als Ehrenpflicht verstanden, sich für Schriftsteller und Schriftstellerinnen einzusetzen, die gegen Missstände in den von Diktatoren regierten Ländern protestiert haben. Sie sind deshalb, wie alle Ihre Leser wissen, misshandelt und verhaftet worden. Auch Ihre Mutter wurde verhaftet.
Damit sind Sie nicht nur Vorbild als Streiter für die Person, sondern auch für Meinungs- und Redefreiheit. Über Ihre Satire Die Meinung in dem Sammelband Niederungen könnte man lachen, wenn das Anliegen nicht so ernst wäre. Da geht es um einen Frosch, der in einem Betrieb als Ingenieur arbeitet. Wir lesen: „Er war im Betrieb sowohl bei den Chefs als auch bei den Arbeitern nicht gut angesehen. Der Frosch hatte immer und überall eine Meinung. Und das Schlimmste an dieser Meinung war, dass es eine eigene Meinung war, die immer anders als die Meinung der anderen war“… , d.h., die anderen haben sich der Meinung der Vorgesetzten unterworfen. Der mutige Frosch wird vor den Direktor zitiert.
„Da sagte der Direktor, dass eigentlich jede eigene Meinung vertretbar sei, wenn man sie für sich behalte.“ … „Da sagte der Frosch, dass eine Meinung keine Meinung sei, wenn sie nicht gesagt sei.“ Sie können sich vorstellen, dass es mit dem Frosch kein gutes Ende nimmt. Das hier zitierte Buch ist ein Beispiel für Zensur und Schlimmeres in einer Diktatur. In der neuesten Ausgabe der Sammlung erscheint folgende Notiz: „Niederungen erschien zum ersten Mal im Jahre 1982 in dem deutschsprachigen Verlag Kriterion in Bukarest. 1984 folgte die Ausgabe im Rotbuch Verlag Berlin […]. Diese Ausgabe war um vier Kapitel gekürzt worden.“ Meine Damen und Herren, Sie können sich vorstellen, dass die oben zitierte Erzählung Die Meinung zu den Auslassungen gehörte. Ferner führte schließlich gerade dieses Buch zum Schreibverbot der Autorin Müller.
Ihre Satire oder Tierfabel ist unmissverständlich. In anderem Zusammenhang findet sich auch in Ihrem Essay „Einmal anfassen –zweimal loslassen“ ein ähnlich intendierter Satz: „Das Schreiben von Büchern war gefährlicher als eine Krankheit.“ Diese Feststellung wird ja auch in einer weiteren, Sie ehrenden Laudatio, zitiert. Der freiheitsliebende und eloquente Redner war ein Präsident, auf den alle Schreibenden – ich spreche als deutschschreibender, liberaler Amerikaner – stolz sein können. Ich meine nicht den amerikanischen Präsidenten. (Nein, dieser Präsident heißt Joachim Gauck).
Wir sind voller Bewunderung für Ihren Wagemut, mit dem Sie sich in Ihren Schriften gegen die Tyrannei in Ihrer rumänischen Heimat einsetzten. Sie haben sowohl in Ihren Essays als auch in Ihren Erzählungen und Romanen die Ungeheuerlichkeiten der Ceauşescu-Regierung gegeißelt. In Ihrer Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt hat zum Beispiel die Kindergärtnerin Amalia, die Tochter des Protagonisten, gerade von der intendierten Auswanderung der Familie einer ihrer Schülerinnen gehört, doch der Unterricht muss ordnungsgemäß weitergehen. Sie ist gezwungen, die Parteilinie zu vertreten. Aber es klingt in diesem Kontext, ja überhaupt, wie bitterer Hohn, wenn sie verkündet: „In unseren Häusern wohnen unser Vater und unsere Mutter. Sie sind unsere Eltern. Jedes Kind hat seine Eltern. So wie unser Vater im Haus, in dem wir wohnen, der Vater ist, ist Genosse Nicolae Ceauşescu der Vater unseres Landes. Und so wie unsere Mutter im Haus, in dem wir wohnen, unsere Mutter ist, ist Genossin Elena Ceauşescu die Mutter unseres Landes. Genosse Nicolae Ceauşescu ist der Vater aller Kinder. Und Genossin Nicolae Ceauşescu ist die Mutter aller Kinder. Alle Kinder lieben den Genossen und die Genossin, weil sie ihre Eltern sind.“
In Ihren späteren Werken, liebe Frau Müller, kommen Sie mehrfach auf den rumänischen Tyrannen und seine Verbündeten zurück. Ja, er wird ein Paradigma von allen Diktatoren. In Ihrem autobiographischen Essay Die rote Blume und der Stock in dem Band Der König verneigt sich und tötet weisen Sie auf die Austauschbarkeit aller Diktatoren hin: „Auf den Sitzungen, in denen die Leute in der Diktatur einen großen Teil ihrer Zeit verbrachten, zeigte sich das klarste Bild des Sprechens in der überwachten Gesellschaft Rumäniens.“ Wahrscheinlich aber nicht nur dieser Diktatur. Sie kommentieren: „Alles Halbauthentische, jeder persönliche Hauch, jedes individuelle Fingerzucken waren bei den Rednern aus der Welt geschafft. Ich sah und hörte austauschbaren Figuren zu, die sich vom einzelnen Menschen weg, in die glatte Mechanik einer politischen Position begeben hatten, um der Karriere zu entsprechen. In Rumänien wurde alle Ideologie des Regimes durch den Personenkult Ceauşescus gebündelt.“
Ferner kommen die berüchtigten Namen unserer Zeit – über die des rumänischen Diktators hinaus – immer wieder in Ihren Schriften vor, so da sind Hitler, Stalin, die Regierung der DDR und andere mehr. Wir wissen, welchen Preis an Unterdrückung und Angriffen Sie für Ihre aufrichtige Verurteilung der Tyrannei bezahlen mussten. Hervorheben möchte ich dabei die psychologischen Repressalien, von denen Ihre Werke ein beredtes Zeugnis ablegen. Ich habe zum Beispiel in Ihrem Roman Der Fuchs war damals schon der Jäger die psychischen Auswirkungen der Diktatur bei meiner Lektüre jenes Romans erkannt und erfahren, wie sehr die Angst dominiert, ja zum Leitmotiv und zur Symbolik Ihres Werkes wird. Dieses bedrückende Gefühl wird von Ihnen schon ganz zu Beginn des Romans thematisiert: „Die stillen Straßen der Nacht, wo der Wind, wenn er anstößt, Angst hat.“ Gegen Ende heißt es bezeichnenderweise: „Wenn man in Angst lebt, wachsen die Haare und die Nägel schneller.“ Die Angst können viele von uns ebenfalls nachempfinden. Darin, wie in so vielem, liebe Frau Dr. Müller, sprechen Sie uns – wie es in einer Ihrer Formulierungen heißt – „sowohl aus dem Kopf als auch aus dem Herzen“.