May 2021
IV. Essays und autobiografische Texte: Bury me in Australia
Bury me in Australia
Peter Arnds, Dublin
Meine Doppelseele, jene seltsame Verwirrung meiner anglo-germanischen Identität, entstand schon früh, wie alles Seelische überhaupt immer früh angelegt ist. Schuld daran war zum Teil die Schule, sie legte mir geschickt die Last der deutschen Vergangenheit auf meine Schultern, aber auch das allgemeine Unwohlsein in meiner heimlichtuerischen Heimatstadt Bad Norndorf, wo wir alle lebten, hielt mich jahrelang fest im Griff.
Und dann war da noch das Schlüsselerlebnis bei den Großeltern.
Festgeld-Ilse wurde sie genannt im ganzen Ort, meine Oma, weil sie, klein und drahtig, doch mit der Energie einer Lokomotive und in hohem Alter immer noch ohne Stock, jeden Tag zur Volksbank stiefelte, um ihren Kontostand zu prüfen. Als Kinder besuchten wir sie oft in ihrer Wohnung, wo die ekligen Gummibezüge an den Türgriffen klebten. Wie Bankräubermasken sahen die aus, doch die Oma behauptete, sie seien wichtig, weil messingschonend. Einwegglasbezüge, sagte sie, doch heute denke ich manchmal, es waren die Kondome von Opa Friederich.
Dort, in ihrer Wohnung, roch es immer nach seinen Zigarren, auch noch lang nach seinem Tod. Ich erinnere mich noch gut, habe den Geruch noch irgendwie in der Nase. Sehe sein Humpeln, höre noch sein Schweigen. Auch erinnere ich mich an seine Lebensphilosophien und sein Lieblingsgericht: Kartoffeln mit brauner Soße. Er manschte solange auf dem Teller herum, bis aus den Kartoffeln Kartoffelbrei entstand und bis die Soße vollständig im Brei verteilt war und dieser überall auf dem Teller dieselbe hellbraune Konsistenz aufwies. Erst dann machte er sich genüsslich daran, das Kleingemachte zu verspeisen. Immer wieder warnte er uns Kinder vor den zu großen Happen und den zu großen Schlucken vom kalten Apfelsaft: „Nehmt nicht so viel auf einmal in den Mund. Kleine Bisse, kleine Schlucke, damit ihr euch den Magen nicht verderbt.“
Oma Ilse hatte keine Spülmaschine, die brauchte sie auch nicht, denn der Opa aß seinen Teller immer blitzblank leer. Danach hielt er ihn dann dicht vors Gesicht und leckte kreuz und quer und immer wieder drüber, bis er wie ganz neu aussah. Oma Ilse wischte ihn dann einmal schnell mit dem Küchenhandtuch ab, bevor sie den Teller in den Küchenschrank stellte, wo er auf das nächste Kartoffel-mit-Soße-Gericht wartete. Zum Nachtisch gab es dann Zitronenpudding, auf den wir uns immer kindisch freuten, denn am Grunde der kleinen Porzellanschälchen verbarg sich eine Überraschung, ein buntfarbiges Blumenornament, das von Schälchen zu Schälchen leicht verschiedene Farbtöne annahm. Welches Blumenornament man erwischt hatte, wurde erst dann sichtbar, wenn man sich bis zu den letzten Löffeln Zitronenpudding durchgegessen hatte. Doch wohlgemerkt, mit kleinen Häppchen, und auch die Schälchen mussten dann völlig saubergeleckt werden.
„Da ist noch was drin“, höre ich Opa Friederich sagen. „Der Teller ist noch nicht blitzblank. Da musst du noch mal ran.“
Das Bild über ihrem Sofa ist immer noch da, eine Meereslandschaft, in der man außer der wildbewegten See und einem stürmischen Himmel noch einen schwarzen Fleck auf einer Wattewolke sieht. „Ein Bild von meiner Heimat“, sagte die Oma, das Meer vor Rostock. Bei genauerem Hinsehen wurde deutlich, dass der schwarze Fleck nicht gemalt, sondern aufgesteckt war. Es war ein kleiner Vogel aus Metall, eine Möwe vielleicht. Als Kinder wollten wir natürlich wissen, warum der Vogel dort hingesteckt worden war. „Ein Einschussloch“, so der Opa, ohne dass uns klar war, was er damit meinte.
Er saß den ganzen Tag auf der grünen Holztruhe in der Küche, rauchte Zigarre und las die Hannoversche Allgemeine. Immer schweigsam, nur wenn wir Kinder zu laut wurden, knurrte er zuweilen: „Jetzt aber Ruhe.“ Wenn es ihm zu viel wurde, stand er auf und stieß mit dem Kopf fast an die Decke. Dann griff er nach dem Bambusstock, der auf dem Küchenschrank lag, und, waren wir immer noch nicht still, schlug er damit kurz, aber heftig und dabei die Luft scharf durchschneidend auf den Tisch, an dem wir saßen, worauf wir vorübergehend verstummten.
Nur selten ging Opa Friederich aus dem Haus, höchstens einmal in den Garten hinunter, um sich an seinen Lieblingsplatz zu setzen, zwischen der Laube, in der es immer nach feuchter Erde roch, und dem Kirschbaum, der später abgesägt wurde, weil seine Äste so lang wurden, dass sie zum Nachbarn über den Zaun ragten. Kurz nach dem Krieg gab es hier neben dem Kirschbaum einen tiefen Bombentrichter, in dem unsere Mutter als Kind gern spielte. Davon zeugt noch ein Foto.
Einmal sprach er von den Franzmännern. Denen hatte er es nämlich zu verdanken, dass er seit seinem achtzehnten Lebensjahr nicht mehr richtig gehen konnte. Sein Leben lang musste er humpeln, weil die Franzmänner ihm seine Beine im ersten Weltkrieg zerfetzt hatten.
In wenigen Sätzen und etwas widerwillig erzählte er uns die Geschichte, wie er und seine Kumpane im Kreis standen und eine Handgranate in ihrer Mitte einschlug.
Außer Opa Friederich überlebte niemand.
Er kam mit von Schrappnellsplittern zerrissenen Beinen ins Krankenhaus, wo er sich in seine Krankenschwester verliebte. „Davon wollen wir mal nicht sprechen“, sagte er. „Das will die Oma nicht hören.“
Einmal, da fand ich auch sein Tagebuch. Es lag versteckt im Bücherschrank zwischen der Pappschachtel mit den Hakenkreuzorden und Hitlers Bestseller, den Opa Friederich am Ende des Zweiten Weltkriegs im Bombentrichter unter dem Kirschbaum vergraben hatte und erst in den fünfziger Jahren wieder ausgebuddelt hat. Des Opas Schrift war kaum zu entziffern, doch einige der Eintragungen sind mir in Erinnerung geblieben. Vor allem die vom 16. September 1916. Da stand:
Heute war ein guter Tag – eine Flasche Rotwein getrunken und zwei Franzmänner um die Ecke gebracht.
Der Satz wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, und ich fragte mich: Hatte Opa Friederich zuerst die Flasche Rotwein getrunken und dann die Franzmänner erledigt, oder war es umgekehrt gewesen? Hatte er den Rotwein etwa benutzt, um sich vor dem Töten Mut anzutrinken, um danach zu feiern oder um das Töten zu vergessen?
Das Tagebuch enthielt auch Eintragungen aus dem Zweiten Weltkrieg, obwohl der Opa da aufgrund seines Beinleidens nicht mehr an die Front gelassen wurde. Vor allem erinnere ich mich noch an seine Notizen aus den mittleren Kriegsjahren über das Schicksal der jüdischen Ärztin Alice Singer. Sie lebte damals in der Wohnung unter den Großeltern. Eines Tages verschwand sie, und keiner wusste wohin.
Gern soll Alice Singer unter dem Kirschbaum gesessen haben. Immer wieder erwähnt er ihn in seinem Tagebuch. So habe er sich eines Tages, so schreibt er, mit der Singer sogar gestritten, nachdem sie sich am Kirschbaum, an seinem Kirschbaum in seinem Garten, bereichert habe, ohne ihn zu fragen, ob er ihr dies auch genehmige. Der Opa, der im Alter kaum noch sprach, war allem Anschein nach als jüngerer Mensch ein rechthaberischer Pedant gewesen, doch war sein Kirschgeiz eine Folge der zwei Weltkriege?
Ich habe jedenfalls den Opa Friederich damals, als er noch lebte, nie nach seinem Tagebuch gefragt. Auch nach den Nazis und Alice Singer wollte ich ihn nicht fragen, denn es war mir klar, dass der Opa von der alten Zeit nicht sprechen wollte. Oft jedoch habe ich mir als Teenager versucht vorzustellen, was wohl mit Alice Singer in den letzten Kriegsjahren passiert war, ob sie schwer gelitten hat und ob sie am Ende überleben konnte. Ich hätte damals jedenfalls nie gedacht, dass ich eines Tages tatsächlich herausfinden sollte, was aus ihr geworden ist, doch musste ich erst ans Ende der Welt, nach Australien, reisen, um es zu erfahren.[1] Ist es nicht seltsam, dass wir zuweilen erst dann fündig werden, wenn wir damit aufhören, im eigenen Umfeld zu suchen. So offenbarte mir das, was sich Jahre später in Australien zutrug, Einblicke in die Vergangenheit meiner eigenen Familie, die sich, wäre ich daheim geblieben, niemals ergeben hätten.
Die Jahre bevor Opa Friederich starb, lag er die meiste Zeit im Bett und döste. Die Augen waren zu schwach geworden, um die Hannoversche Allgemeine zu lesen, außerdem war sein Grützbeutel jetzt so groß, dass er das rechte Auge fast ganz abdeckte, und die Füße taten ihm selbst beim Sitzen auf der Küchentruhe weh. Oma Ilse, vor der er sich stets in Acht nehmen musste, weil sie erpicht darauf war, ihm den Grützbeutel aufzuschneiden, sorgte sich wegen seiner nachlassenden Sehkraft und hegte außerdem den Verdacht, dass er sich wegen zunehmender Senilität an niemanden mehr erinnern konnte. Nicht einmal an die nächsten Verwandten. Sie stellte ihn deshalb gern auf die Probe.
„Friedel, hör zu. Wer ist das hier?“ fragte sie ihn, als mein Vater zur Tür hereinkam.
Der Opa öffnete seine müden Augen und blickte seinen Schwiegersohn verloren an.
„Adolf“, sagte er und schloss die Augen wieder. Es war das einzige Mal, dass ich ihn vom Führer habe sprechen hören.
Die Oma lief verzweifelt aus dem Schlafzimmer und rief:
„Um Gottes Willen. Jetzt wird er den Arsch bald zukneifen.“
Als sie verschwunden war, zwinkerte Opa Friederich unserem Vater aus seinem gesunden Auge zu und sagte: „Die spinnt doch. Ich weiß doch, dass du es bist, Ulli.“
Als ich anfing, die Klassiker der Weltliteratur zu lesen, erkannte ich, dass meine eigene Doppelseele eng mit der seinigen verbunden war. Ein wenig erinnerte mich unser stiller Opa, in dem sich ein Killer verbarg, an Jekyll und Hyde. Er trug sicherlich dazu bei, dass ich schon früh im Leben das Gefühl hatte, im falschen Land geboren worden zu sein.
Die Rettung kam jedoch zunächst mit der englischen Sprache. Es war gegen Ende der Siebziger, alle fingen sie an, von den Nazis zu reden und wie wir denen die Teilung und die Mauer zu verdanken hatten. Ich hatte sie bald voll, die Nase von den Nazis, und stürzte mich gierig, der Schule dankbar, auf die englische Sprache. Einsam im Dachzimmer, I was making love to her, jahrelang und jede freie Minute, abgetaucht im British Forces Broadcasting Service, damals, lange vor dem Internet, der einzige Zugang zur englischen Sprache. Und lernte das ganze Wörterbuch auswendig.
Kannst du mich Vokabeln abfragen? Doch der Papa wollte nicht mehr, da bot ich ihm für jedes Wort einen Pfennig an. Er schmunzelte nur, lehnte das Geld ab und griff gleich wieder nach dem Diktionär.
Nach einigen Jahren war es dann soweit:
Wie Gregor Samsa sich in ein ungeheueres Ungeziefer verwandelt hatte, so war aus mir ganz plötzlich über Nacht ein australischer Schmetterling geworden.
Als ich am nächsten Morgen meine merkwürdige Metamorphose bemerkte, kramte ich gleich das Schweizer Taschenmesser aus der Schublade und ritzte
BURY ME IN AUSTRALIA
in den Kopfteil des Bettes.
Für den Fall, dass ich nicht mehr lange leben würde. Das Gefühl kam mir manchmal während der Kindheit. Bald, so dachte ich zuweilen, wird es wohl aus sein mit dem Leben.
An Australien dachte ich viel in jenen frühen Jahren. Dort sprachen sie meine Lieblingssprache, und es war wunderbar weit weg.
Die Eltern verstanden die Welt nicht mehr. Warum hat er das schöne Bett ruiniert? Noch weniger verstanden sie mich, als ich ihnen auf Englisch antwortete.
Bury me down under. I ask for nothing else.
Das wird schon wieder vergehen, so der Papa. Aber da irrte er sich. Jahrelang träumte ich vom Ausbüchsen nach Australien. Irgendeine Fernsehserie mit Davyʼs on the Road again im Titelsong verstärkte die Idee, nach Australien auszuwandern. Bloß weg, dachte ich, aus diesem Kaff, meinem berüchtigten Heimatort, Bad Norndorf im ödflachen Niedersachsen, wo so viele Dinge, die im und auch noch nach dem Krieg passierten, verheimlicht wurden. Dabei lebten wir dort alle in der Straße, die benannt war nach einem der großen Klassiker, dem mit der Gedankenfreiheit, eine Reihe unter zehn, allesamt Hütten wie aus der Plätzchenform. Cookiecutter style. Die Gedankenfreiheit war es schließlich auch, die mich eines Morgens dazu bewog aufzubrechen.
Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus einem Roman, den Peter Arnds unter dem Titel „Aufbruch“ veröffentlichen wird. Wir danken für die Erlaubnis zum Vorabdruck.
[1] Nachdem der Protagonist Alex im australischen Outback den Mauerfall verpasst und ihn zwei Ingolstädter vorm Verdursten retten, beginnt eine romance on the road mit der Amerikanerin Jessica, während der sich peu à peu die Geschichte von Alice Singer enthüllt. Sie ist die Großmutter von Jessica und hat einst das Dritte Reich nur überlebt, weil sie als Tuberkulosespezialistin in Theresienstadt gebraucht wurde. Ihr Schicksal ist mit der Familiengeschichte des Protagonisten eng verbunden. Als Jessica erfährt, dass Grandma Alice schwer erkrankt ist, beschließt sie, nach Deutschland zu reisen, und bittet Alex, sie zu begleiten. Mit Bummelzügen durch China und der Transsib durch die Sowjetunion gelangen die beiden schließlich zurück ins gerade vereinigte Deutschland. Obwohl der persönliche Aufbruch jenen der Nation widerspiegelt, entpuppt sich Alexʼ Weltwandern schon bald als Illusion, und seine vermeintliche neu gewonnene Freiheit sowie die Liebe zu Jessica – die Poesie seines Herzens also, wie Hegel es über den Helden des Bildungsromans einst formulierte – zerbrechen an der Prosa der Verhältnisse sowie dem die beiden stets begleitenden Schatten der Vergangenheit.