Sep 2020
II. Kulturgeschichtliche Analysen: Der Kalte Krieg der Kulturen
Der Kalte Krieg der Kulturen:
Wie die DDR den Kampf gegen
die Rockmusik verlor
Janine Ludwig, Dickinson College, Carlisle, Pennsylvania, Universität Bremen
„My only deep sorrow,“ he said, „is the unrelenting insistence of recording and motion picture companies upon purveying the most brutal, ugly, degenerate, vicious form of expression it has been my displeasure to hear – naturally I refer to the bulk of rock ‘n’ roll. […] It fosters almost totally negative and destructive reactions in young people. It smells phony and false. It is sung, played and written for the most part by cretinous goons and by means of its almost imbecilic reiterations and sly, lewd – in plain fact dirty – lyrics, and as I said before, it manages to be the martial music of every sideburned delinquent on the face of the earth.“[1]
Dieses Zitat aus dem Jahr 1957 stammt nicht etwa von einer der Führungsfiguren des Ostblocks, wie etwa Walter Ulbricht oder Nikita Chruschtschow, sondern von der amerikanischen Legende Frank Sinatra. Es verdeutlicht, dass der Aufstieg des Rock ‘n’ Roll zunächst auf gehörigen Widerstand auch in seinem Herkunftsland und der westlichen Welt allgemein stieß und Teil eines Generationenkonfliktes war. Seine besondere Wirkung speiste sich vor allem aus zwei Faktoren: Erstens setzte diese neue Art von Musik sexuelle Energien frei – nicht umsonst wurde Elvis Presley mit seinem berühmten Hüftschwung „Elvis the pelvis“ genannt – was im prüden Amerika der 1950er-Jahre schieres Entsetzen auslöste. Zweitens standen Rock ‘n’ Roll und die später sich daraus entwickelnden Formen von Rockmusik (von Hard Rock bis Heavy Metal) für eine Form von Freiheit und Rebellion: Das Freisetzen von Energie, Aggression, Lautstärke, Exzess, Chaos, mithin ein Aufbegehren gegen die bürgerlichen Konventionen der beschaulich-braven Nachkriegszeit. Später verband sich dieser rebellische Impetus auch mit sozialkritischen Tönen und Anklagen gegen das System als solches (woran die Tatsache, dass die Rockmusiker selbst innerhalb dieses Systems steinreich werden konnten, nichts änderte).
Auch in der alten Bundesrepublik verbreitete sich die amerikanische Popkultur im Allgemeinen und ihre Musik im Besonderen im Zuge der alliierten Besatzung Westdeutschlands ab den 1950er-Jahren in einem Ausmaße, dass Manche heute von einem „Sonderfall der Amerikanisierung in Europa“ sprechen.[2] Dabei wurde dieser Siegeszug noch durch zwei weitere Aspekte verkompliziert: Zum einen traf die neuartige Populärkultur hier auf ein Land, dessen ältere, traditionsbewusste oder bildungsbürgerliche Schichten noch an einem sehr spezifischen Ideal von deutscher Hochkultur festhielten (neben dem vielleicht gerade noch die heimelige Volksmusik geduldet wurde), der gegenüber sie für amerikanische (Massen-)Kultur allgemein (und das hatte eine beinahe 100 Jahre lange Tradition) nur Verachtung übrig hatten. Dem versuchten die Amerikaner im Zuge ihrer „Reeducation“-Bemühungen entgegenzukommen, indem sie laut ihrem „Operational Plan for Germany“ den „battle for the minds“ mit Hilfe amerikanischer Hochkultur zu gewinnen suchten: In sogenannten Amerika-Häusern konnten Westdeutsche Bücher amerikanischer Schriftsteller wie Ernest Hemingway, Mark Twain, William Falkner, Norman Mailer, Irwin Shaw lesen oder Theaterstücke von Thornton Wilder und Filme von Billy Wilder sehen.[3]
Während diese „Amerikanisierung von oben“ mehr schlecht als recht funktionierte, setzte sich beinahe ohne Zutun der Besatzer die „Amerikanisierung von unten“[4], das heißt die Selbstamerikanisierung der westdeutschen Jugend durch. Den Anfang machte in den 1950er-Jahren die Arbeiterjugend, die sogenannten Halbstarken, die mit Moped, Jeans und Lederjacke sowie gegeltem Haar ihrem Idol James Dean nacheiferten. Bald sprang die Amerikabegeisterung auch auf die Mittelschicht über; die Mädels trugen Petticoat und Pferdeschwanz, tranken Milchshakes und Coca Cola; man tanzte Rock ‘n’ Roll und sah Hollywood-Filme.[5] In den 60er-Jahren wurde Beat-Musik populär, und bald teilten die Jungs sich im Kampf um die ultimative Coolness in zwei beinahe verfeindete Lager: Beatles- und Stones-Fans. (Dass beide britische, nicht amerikanische Bands waren, spielte dabei keine Rolle.)
Selbst die 68er in Westdeutschland, die – wiederum in einer Generationenrevolte – ihre Vätergeneration aburteilten und die USA wegen ihrer Außenpolitik (Vietnamkrieg) heftig kritisierten, übernahmen doch deren Protestkultur mit Teach-ins, Sit-Ins, Happenings und Singer-Songwriter-Musik. Auch in den Siebzigern und folgenden Jahrzehnten dominierte anglo-amerikanische Musik, und allen Trends von Disco bis Hardrock, Punk oder Heavy Metal, Rap, Techno oder R ‘n’ B folgten die Deutschen bis zur heutigen Zeit. Dies alles wurde von Anfang an von älteren Generationen kritisch beäugt, auch weil sie – dies der zweite wichtige Aspekt – in jenem Aneignungsprozess, der allgemein als „Amerikanisierung“ – heute alternativ eher als „Westernisierung“, „Modernisierung“ oder „Globalisierung“ – bezeichnet wird,[6] eine kulturelle Überfremdung oder eine Gefahr des Verschwindens deutscher Kulturtraditionen als Mittel der Unterwerfung durch die Besatzer sahen.
Die Musik des „Klassenfeinds“ in der DDR
All die bisher genannten Aspekte hatten auch in den sozialistischen Ländern Gültigkeit, nur kam hier noch ein entscheidender und die Angelegenheit um einiges verschärfender politischer Faktor hinzu: die Tatsache nämlich, dass die sozialistischen Regierungen den Kampf der Systeme auch als Kulturkampf zwischen zwei Lebensarten und Rockmusik als eine scharfe Waffe in diesem Kampf verstanden. Die DDR-Nomenklatura wütete besonders geifernd, denn sie konnte auf Versatzstücke aus einer 100 Jahre lang gewachsenen deutschen Verachtung für die so genannte amerikanische ‚Unkultur‘ zurückgreifen,[7] die schon die Nazis kultiviert hatten – deren Sprache wiederum sie sich nicht schämten nachzuahmen, wie Thomas Haury zusammenfasst:
Durch die Aufzwingung der „kulturlosen sogenannten amerikanischen Lebensweise“ wolle der „amerikanische Weltherrschaftstrust“ weltweit „die Seele der Völker […] töten, um die Menschen in den Schmelztiegel eines neuen Völkermordens werfen zu können.“ Auch das „jahrhundertealte, hochentwickelte deutsche Kulturerbe“ wollten die „Wallstreet-Kosmopolitiker“ mittels der „kulturlosen Erzeugnisse“ der amerikanischen „Pseudokultur“ „in den Schmutz treten“, um so „dem deutschen Volk moralisch das Rückgrat zu brechen, indem er unser Nationalbewußtsein abtötet und unseren Nationalcharakter vernichtet“.[8]
Klaus Gysi, ehemaliger Kulturminister der DDR und Vater von Gregor Gysi, formulierte es 1967 nur wenig moderater:
Das Vordringen amerikanischer Kulturbarbarei hat gemeinsam mit der traditionellen und sich ständig steigernden Kulturfeindlichkeit des westdeutschen Imperialismus in einem ungeheuerlichen, hochorganisierten System der Manipulation mit geistigen – besser ungeistigen – und antikulturellen Mitteln in einem Frontalangriff auf humanistisches Denken, auf Kultur und humanistische Tradition einen Höhepunkt erreicht, der Goebbels’ Versuche weit hinter sich läßt. Diese Manipulation dient einem militanten Antikommunismus und zieht alle Register systematischer Verdummung und Verhetzung, mißbraucht Gefühle, unterdrückt das Denken. Sie ist wesentlichster ideologischer Ausdruck der wachsenden Aggressivität des westdeutschen Imperialismus. […] Die Manipulation gegenstandsloser Gefühle – rohe Brutalisierung, Lust am Exzeß, unnennbares Grauen, aber auch die schöne Euphorie des Rauschzustandes – ist ein Hauptmittel imperialistischer Manipulation. Musik ist eines ihrer Hauptinstrumente.[9]
Wie die Musik ganz konkret zur Gefahr werden könne, beschrieb der führende DDR-Musikwissenschaftler und Gründer sowie Rektor der Deutschen Hochschule für Musik Berlin (heute: Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin), Georg Knepler, schon 1951 in Bezug auf den Jazz/Bebop: „Das ist eine Musik, die das Chaos darstellt, die das Chaos ist, die nicht nur Kriegsvorbereitung, sondern der Krieg ist. Das ist ein Versuch, den Krieg in die Hirne der Menschen einzuschmuggeln.“[10] Ähnlich martialisch argumentierte der angesehene Komponist, Musikwissenschaftler und -soziologe Ernst H. Meyer, der zwar den ursprünglichen Jazz eigentlich schätzte, jedoch bevor dieser durch den Kapitalismus verdorben worden sei:
Der heutige „Boogie Woogie“ ist ein Kanal, durch den das barbarisierende Gift des Amerikanismus eindringt und die Gehirne der Werktätigen zu betäuben droht. Diese Bedrohung ist ebenso gefährlich wie ein militärischer Angriff mit Giftgasen – wer wollte sich nicht gegen eine Lewisitattacke schützen?[11]
Ein Jahrzehnt später, 1961, wurde in einer internen Parteimitteilung dieses Verdikt auf die neueste Musik ‚upgedated‘ und auf den deutlich näheren und somit konkret gefährlicheren Klassenfeind, die BRD, bezogen:
Wir grenzen uns entschieden von der sogenannten westlichen Lebensweise ab, die die Jugendlichen moralisch verseucht und das Ziel verfolgt, die menschlichen Gefühle in ihnen abzutöten und willfährige Werkzeuge der Kriegspolitik aus ihnen zu machen. […] Bei der Propagierung dieser […] Lebensweise spielt die Schlagermusik im Bonner Staat neben Schund- und Schmutzliteratur und entsprechenden Filmen eine wesentliche Rolle. […] Durch die Verfassung der DDR, die Chauvinismus und Kriegspropaganda untersagt, ist die Grundlage für das Verbot der Verbreitung revanchistischer und antihumanistischer Ideologie durch westliche Tanzmusik bereits gegeben.[12]
Dennoch war beispielsweise Rock ‘n’ Roll in der DDR nie offiziell verboten[13] – genauso wie es laut Verfassung angeblich keine Zensur gab.
Umgang der DDR mit Rock ‘n’ Roll und späterer Rockmusik
So absurd die eben geäußerten Verlautbarungen aus heutiger Sicht erscheinen, so enthielten sie doch einen wahren Kern. Denn das SED-Regime erkannte durchaus korrekt, welche Gefahr von der westlichen Musik aufgrund der eben beschriebenen Elemente des Freiheitsdrangs und der Rebellion gegen das herrschende System ausging. Doug Yeager, einer der Produzenten des Films Free to Rock: How Rock & Roll Helped End the Cold War[14], berichtete in einem Gespräch[15], dass ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter ihm einmal mitgeteilt habe, man habe vermutet, dass die CIA den Rock ‘n’ Roll erfunden habe. Das kann getrost als unrealistisch abgetan werden.
Realistisch hingegen ist die Annahme, dass die amerikanische (Kultur-)Politik durchaus das Potential des im eigenen Land zunächst umstrittenen Rock ‘n’ Roll erkannte, auf die ostdeutsche und auf die sozialistische Jugend insgesamt einzuwirken und sie mittels Musik für den westlichen Lebensstil zu gewinnen. Schließlich hatten die Alliierten in Westberlin und anderswo die Radiosender RIAS (Radio in the American Sector) und AFN (American Forces Network) installiert, in dem Wissen, dass sie in Ostdeutschland empfangen werden konnten. Und sie erkannten auch bald, dass neben politischen Informationen auch das Abspielen neuester Musik einen für sie günstigen Einfluss auf die sozialistische Jugend haben konnte, da dies den westlichen Lebensstil und die amerikanische Kultur für diese jungen Menschen attraktiv machte, wie eine NATO-Publikation 1958 verriet:
Musik ist ein allen Menschen verständliches Mittel, und die sowjetische Jugend versteht mehr als jede andere diese Art des Sich-Entziehens. Diese Ablenkung kann mühelos von einigen in der Nähe der Grenze zu den kommunistischen Ländern gelegenen Radiostationen übernommen werden […]. Mehr noch, eine gewisse ideologische Entgiftung könnte sich durchsetzen, wenn sie mit musikalischer Faszination einherginge. Die sowjetischen Führer haben diese Gefahr so gut erkannt, dass sie alle Formen barbarischer Musik auf ihrem Territorium verbieten […]. JedesmaI, wenn sich ein Rock and Roll oder ein Calypso in ein kommunistisches Bewußtsein prägt, dient er dazu, etwas Anderes auszulöschen, und dieses Andere wird immer etwas Ideologisches sein.[16]
Ähnlich hatte schon der NATO-Feldmarschalls Montgomery sinngemäß prophezeit: „Wenn wir den kommunistischen Osten nicht mit der Waffe erobern können, dann mit der Jazztrompete.“[17] 1950 wurde der Sender Radio Free Europe gegründet, der den ganzen Ostblock mit westlicher Musik versorgte und der insgeheim von der CIA finanziert und gesteuert wurde.
Doug Yeager vermutet auch[18], dass es kein Zufall war, dass Elvis Presley, der damals berühmteste Sänger der Welt, nicht nur in den USA zur Armee eingezogen wurde, sondern auch am 1. Oktober 1958 ausgerechnet in Westdeutschland stationiert wurde, genauer gesagt in der Nähe von Frankfurt, nahe der Grenze zur DDR (von der er als „Public Enemy No. One“ bezeichnet worden sein soll). Er löste Begeisterung unter der Jugend aus, auch in Ostdeutschland, was diese jedoch teuer zu stehen kam: Bereits im Mai 1958 hatten ca. 100 Mitglieder eines illegalen „Rock and Roll-Klubs“ aus dem sächsischen Schmölln demonstriert und den Spruch „Elvis Presley – das Idol! / Wir wollen nur noch Rock and Roll!“ auf ein Transparent geschrieben: Acht von ihnen wurden wegen Landfriedensbruchs zu Gefängnisstrafen von acht Monaten bis zu zwei Jahren verurteilt. Im April 1959, als eine Jugendclique namens „Wahrener Meute“ in einem „Aufklärungsmarsch“ durch Leipzig zog, skandierten sie: „Es lebe Elvis Presley“ oder: „Wir wollen keinen Lipsi und keinen Alo Koll, / wir wollen Elvis Presley mit seinem Rock ‘n’ Roll!“ Dass die Westmedien über die Leipziger „Presley-Demo“ berichtete, dürfte sich zum Nachteil der 25 der Jugendlichen ausgewirkt haben, die schließlich wegen Staatsverleumdung, Landfriedensbruchs, Sachbeschädigung, aber auch wegen sexuellen Missbrauchs und Einbruchs zu Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu viereinhalb Jahren verurteilt wurden.
Auch sonst gab es damals Ähnlichkeiten zwischen der Jugend in Ost und West, zu einer Zeit, als die Mauer noch nicht gebaut und die Grenze noch nicht abgeriegelt war: Der berühmte DEFA-Film Berlin – Ecke Schönhauser (Regie: Gerhard Klein, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase), entstanden im Sommer 1956, reagierte auf westdeutsche Filme wie Die Halbstarken (1955; Regie: Georg Tressler), mit dem Horst Buchholz zum sogenannten „deutschen James Dean“ avancierte. Die Hauptrolle in dem DDR-Film spielte Ekkehard Schall in einem Outfit, das dem von Buchholz sehr nahekam. Der Film kam trotz Kritik 1957 in die DDR-Kinos[19], wurde jedoch in der Bundesrepublik verboten, weil er „in seiner kommunistischen Tendenz Institutionen der Bundesrepublik (z.B. die Notaufnahmelager) verächtlich macht und die Verhältnisse nicht wahrheitsgetreu schildert“[20].
Trotz aller Maßnahmen und trotz des Mauerbaus 1961 konnte sich die DDR-Führung dem kulturellen Wettbewerb um die Gunst der Jugend nicht entziehen und die, wenn auch eingeschränkt, weitergehende Rezeption westlicher Popkultur und Musik nicht unterbinden. Geradezu verzweifelt klingt aus heutiger Sicht die Rede des damaligen Regierungschefs der DDR, Walter Ulbricht, auf dem berühmt-berüchtigten Kahlschlag-Plenum (11. Plenum des Zentralkomitees der SED) im Dezember 1965, in der er die Genossen ermahnte, sich doch auf eigene musikalische Traditionen zu besinnen, anstatt den Beatles nachzueifern:
Liebe Freunde! Sind wir denn wirklich nur angewiesen auf die monotonen westlichen Tänze? Haben wir in den sozialistischen Ländern nicht genügend herrliche und temperamentvolle Tänze, die vollständig ausreichen, daß sich die Jugend dabei genügend austoben könnte. Haben wir nicht genug? [allgemeine Zustimmung] Wir haben interessante und künstlerisch wertvolle Tänze. Aber statt dessen blicken einige Kunstschaffende nur nach dem Westen und sind der Meinung, daß die Deutsche Demokratische Republik in kultureller Beziehung vor allem von Texas lernen kann. Ich bin der Meinung, Genossen, mit der Monotonie des Jay, Jeh, yeh [sic!], und wie das alles heißt, sollte man doch Schluß machen… […] Es geht darum, daß der Einfluß der amerikanischen Lebensweise, der amerikanischen Unkultur, des Lebensstils aus Texas, den man versucht zu importieren, und daß die Beat-Gruppen das Mittel waren, diese Texas-Kultur einzuführen.[21]
Thomas Kolitsch beschreibt in einem instruktiven Artikel[22] vier sukzessive Phasen mit verschiedenen Strategien der DDR im Umgang mit amerikanisch geprägter Rock- und Popkultur: „prohibition“ (Unterbindung), „redefinition“ (Neudefinition/Umdeutung), „substitution“ (Ersetzung) und „integration“ (Einbindung).
Anfangs versuchte die DDR-Führung noch das Unmögliche, nämlich die Ausbreitung westlicher Populärkultur in ihrem Land zu unterbinden. Die Verbreitung von Tonträgern (damals hauptsächlich Schallplatten) konnte ab 1961 relativ leicht reguliert werden, da es nur eine staatliche Plattenfirma (Amiga) gab. Jedoch entwickelte sich ein Schwarzmarkt, auf dem westliche Schmuggelware zu astronomischen Preisen gehandelt wurde.[23] Die Musikszene wurde reguliert, indem nur Bands auftreten durften, die eine sogenannte „Spielerlaubnis“ erlangt hatten, welche unter dem Deckmantel fachlicher Qualitätskontrolle selbstverständlich eine ideologische Kontrolle beinhaltete. Was in den Kinos lief, konnte man steuern, und für das DDR-Radio wurde 1958 eine Quote von 60:40 zugunsten sozialistischer vs. westlicher Musik eingerichtet. Machtlos war man letztlich jedoch gegen die grenzüberschreitenden Medien Fernsehen und Radio, obwohl wirklich alles versucht wurde: Die Staatsmacht installierte Störsender und schickte im September 1961 in der großangelegten „Aktion Ochsenkopf“[24] sogar Truppen ihrer Jugendorganisation Freie deutsche Jugend (FDJ) um die Häuser, damit sie Antennen, die in Richtung Westen ausgerichtet waren, abmontierten – was sich die Bevölkerung jedoch nicht bieten ließ. In den späten 70er-Jahren hat man das Unterfangen schließlich aufgegeben, und die Arbeiter des staatlichen Wohnungsbaukombinats WBK richteten die Antennen beim Bau der Häuser schon von selbst in die ‚richtige‘ Richtung aus. Westdeutsches Fernsehen und Radio waren in der DDR nie offiziell verboten (nur für Staatsorgane), aber dennoch war es für Kinder in der Schule nicht opportun, vom Westfernsehen zu reden, das sie eigentlich nicht geschaut haben sollten; doch die diesbezüglichen Maßnahmen wurden spätestens in den 80ern immer lascher.
„Neudefinition“ meint, dass die Staatsideologen versuchten, die westliche Musik und Kultur dahingehend umzudeuten, dass sie das „andere Amerika“ repräsentiere, also die sozialkritische Gegenkultur des Westens. Ausgewählte Vertreter (des Standpunkts) der Arbeiterklasse oder der schwarzen Minderheit wurden goutiert oder gar hofiert, wie etwa die Black-Panther-Aktivistin Angela Davis, die anlässlich der „X. Weltfestspiele der Jugend“ im September 1973 Ostberlin besuchte, oder Jane Fonda, deren Filme erlaubt waren, seit sie gegen den Vietnamkrieg protestiert hatte. Ein Verschwörungstheorie-Film wie The Parallax View (deutsch: „Zeuge einer Verschwörung“, 1974, Regie: Alan J. Pakula) wurde erlaubt, da er politische Tötungen, Betrug und Korruption als Teil des Kapitalismus darstellte. Als „Substitution“ bezeichnet Kolitsch den Versuch der DDR, westliche Produkte durch ostdeutsche zu ersetzen, wofür der Tanz „Lipsi“ (nach Lipsiae, dem lateinischen Namen der Stadt Leipzig) als Alternative zum Rock ‘n’ Roll das grotesk-rührendste Beispiel ist. Man hatte ihn extra patentieren lassen, doch er war zu kompliziert und ‚uncool‘, um zu reüssieren.
So blieb der DDR-Führung schlussendlich nichts weiter übrig, als mit Anbruch der 80er-Jahre die kontrollierte Integration der westlichen Popkultur in den sozialistischen Lebensstil zuzulassen. 1978 gab es die ersten Blue Jeans, wenn auch immer zu wenige; ein begehrtes Produkt, für das die Bürger Schlange standen. Man fand sich auch mit dem westlichen Musikgeschmack der jeweiligen Jugend ab und versuchte sogar, ihn zu befriedigen. Neben dem Tauschen und Kopieren von (geschmuggelten) Kassetten war die meistverbreitete Methode, sich westliche Musik zu beschaffen, das Aufnehmen vom West-Radio-Sender: Man musste also, wenn der Moderator ein Lied ansagte, im rechten Moment auf „Record“ drücken und im rechten Moment wieder loslassen – und fluchte jedes Mal wie der Teufel, wenn der wirklich unwissende Moderator in den Anfang oder in das Ende des Songs hineinquatschte. Einzelne amerikanische Platten wurden von der Amiga in Lizenz vertrieben, wofür jedoch der Mangel an harter Währung für die Tantiemen ein echtes Hindernis darstellte. Die Tatsache, dass für Michael Jacksons Album Thriller 1983 beim amerikanischen Medienkonzern CBS die Matrize einer Aufnahme von Beethovens 5. Sinfonie, dirigiert vom weltberühmten Kurt Masur, eingetauscht wurde, darf wohl als Sinnbild der Kapitulation deutscher Hochkultur vor der siegreichen amerikanischen Massenkultur angesehen werden.
Ein weiterer Durchbruch ereignete sich 1983 im innerdeutschen musikalischen Austausch: Udo Lindenberg, der viele Fans in der DDR hatte, wollte schon lange dort auftreten, und da es ihm stets verweigert wurde, entschloss er sich zum rockigen Frontalangriff: Er veröffentlichte in diesem Jahr den provokanten Song „Sonderzug nach Pankow“, der auf der Melodie des amerikanischen Klassikers „Chattanooga Choo Choo“ basierte. Der Titel bezieht sich auf den Berliner Bezirk Pankow, in dem zunächst der Staatsrat der DDR residiert und viele Regierungsmitglieder gewohnt hatten, weshalb der Westen anfangs oft vom „Pankower Regime“ gesprochen hatte. Am Ende des Liedes ertönt eine Durchsage auf Russisch, die behauptet, der Oberste Sowjet erteile seine Erlaubnis für das Gastspiel. In dem Song bezeichnet Lindenberg den Staatschef Erich Honecker als „Oberindianer“, redet ihn direkt mit „ey, Honni“ an und bittet ihn, in der DDR spielen zu dürfen:
Ich hab ‘n Fläschchen Cognac mit und das schmeckt sehr lecker,
Das schlürf’ ich dann ganz locker mit dem Erich Honecker,
Und ich sach, ey, Honni, ich sing’ für wenig Money
Im Republik-Palast, wenn ihr mich lasst.
All die ganzen Schlageraffen dürfen da singen,
Dürfen ihren ganzen Schrott zum Vortrage bringen,
Nur der kleine Udo, nur der kleine Udo,
Der darf das nich, und das verstehen wir nich.
Honni, ich glaub’, du bist doch eig’ntlich auch ganz locker.
Ich weiß, tief in dir drin, bist du doch eig’ntlich auch’n Rocker.
Du ziehst dir doch heimlich auch gern einmal die Lederjacke an
Und schließt dich ein auf’m Klo und hörst West-Radio.
Erstaunlicherweise hatte die rotzfreche Masche Erfolg, nicht nur kommerziell (es wurde Lindenbergs bis dahin beste Chartplatzierung), sondern auch politisch: Obwohl Honecker empört gewesen sein soll, durfte der Rockmusiker am 25. Oktober desselben Jahres auf Einladung von FDJ-Chef Egon Krenz tatsächlich einmalig vor ausgewähltem Publikum im Palast der Republik spielen – die geplante Tournee im darauffolgenden Jahr wurde jedoch wiederum abgesagt.
Kalter Krieg der Konzerte[25] im Sommer 1988
So fehlte der Jugend in den sozialistischen Ländern doch noch eines zur wirklichen Teilhabe an der internationalen Jugendkultur: nämlich ihre Idole einmal live bei einem Konzert erleben zu können. Dass dies in der Endphase der DDR plötzlich möglich wurde, verdankte sich wieder einer geschickten Provokation aus Westdeutschland: Zu Pfingsten 1987 war dort jemand auf die Idee gekommen, im Rahmen der 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin Konzerte der Superstars David Bowie, Eurythmics und Genesis vor dem Reichstag, also auf der Westseite des Brandenburger Tors, zu veranstalten, in einer Lautstärke, dass die Ostberliner Jugend auf dem Pariser Platz es mithören konnte – und wollte. Dies führte zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Mithörern und den ostdeutschen Ordnungskräften. Die FDJ, die schon lange gemerkt hatte, dass ihnen die rebellierende Jugend entglitt, reagierte darauf, indem sie selbst als Konzertveranstalter auftrat und westliche Musiker einlud: im Juli 1987 Barclay James Harvest und im September 1987 Bob Dylan im Treptower Park (100.000 Besucher), der sich leider reichlich lustlos präsentierte.
Im Sommer 1988 spitzte sich der Wettkampf dann auf nie dagewesene Weise zu: Während am 16.6. Pink Floyd und am 19.6. Michael Jackson (der damals größte Popstar der Welt) vor dem Reichstag in Westberlin spielten (und diesmal die ostdeutsche Polizei bei den Tausenden Ostzuhörern nur moderat eingriff, obwohl die Stasi das Schlimmste, nämlich einen Sturm auf die Mauer, befürchtete), bot die FDJ ebenfalls Großes auf: die in der DDR überaus beliebte Band Depeche Mode (7.3.) in der Werner-Seelenbinder-Halle, wofür manche Fans Mopeds und Autos im Tausch für Tickets anboten, am 1.6. Joe Cocker in der Radrennbahn Weißensee (100.000 Besucher), und vom 16.-19. Juni im Rahmen des größten Rockfestivals der DDR unter dem Namen „Friedenswoche der Berliner Jugend“ u.a. James Brown, Bryan Adams, Marillion und die Rainbirds.
Der unbestrittene Höhepunkt war jedoch das vierstündige Konzert von Bruce Springsteen and the E Street Band im Velodrom Weißensee (Ostberlin) im Rahmen seiner Tunnel-of-Love-Tour am 19.7.1988, Springsteens größter Live-Auftritt, der zugleich als größtes Rockkonzert der DDR in die Geschichte einging. 160.000 Tickets wurden verkauft, aber da Viele ohne Karten hinzukamen, geht man von geschätzt bis zu 250.000 oder gar 300.000 Menschen aus – eine beeindruckende Zahl, die beinahe einem Viertel der Bevölkerung der Stadt (und 1,5% des gesamten Landes) entsprach.
Bruce Springsteen war ohnehin als „Working Class Hero“ aus New Jersey für die Ideologen akzeptabel, aber in der Tradition der „Neudefinition“ entschloss man sich zur Sicherheit noch, das Ganze als Solidaritätskonzert für die Sandinisten in Nicaragua (es war der Tag der sandinistischen Revolution) zu annoncieren, was mit dem „Boss“ nicht abgesprochen war. Er ließ sein Team die entsprechenden Transparente an der Bühne abnehmen und versicherte dem Publikum (ausgerechnet als Intro zu dem Song „Chimes of Freedom“) auf Deutsch: „Es ist schön, in Ostberlin zu sein. Ich möchte euch sagen: Ich bin nicht hier für oder gegen irgendeine Regierung. Ich bin gekommen, um Rock ‘n’ Roll zu spielen, für euch Ostberliner, in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren abgerissen werden.“ Ursprünglich hatte der letzte Teilsatz lauten sollen: „…dass eines Tages alle Mauern abgerissen werden“, aber sein Mitarbeiter Marcel Avram geriet berechtigterweise in Panik, da das Tabuwort „Mauer“ in der DDR nicht ausgesprochen werden dufte, und so wurde es in letzter Minute durch das umständliche „Barrieren“ ersetzt. Hunderttausende Besucher verstanden es trotzdem und brachen in Jubel aus.
Gleichwohl zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnte, was 16 Monate später passieren würde, kann dieses Konzert rückblickend doch als eine Art Vorbote der friedlichen Revolution gedeutet werden. Denn zum einen nahmen viel mehr Besucher teil, als Eintrittskarten zur Verfügung gestanden hatten, und die Ordnungskräfte sahen sich außerstande, die Menge davon abzuhalten, die Sicherheitsbarrieren zu überwinden und ungehindert auf das weiträumige Wiesengelände zu strömen. Dies darf schon als ein außergewöhnliches Ereignis in einem ansonsten recht kontrollierten Land gelten und nahm in gewisser Weise vorweg, was sich am 9. November 1989 an den Grenzübergängen der Berliner Mauer wiederholen sollte: Überforderte Ordnungskräfte kapitulierten vor der schieren Masse der Menschen.
Zum anderen waren die FDJ-Ordner nicht bereit oder in der Lage, das gelegentliche ostentative Zurschaustellen amerikanischer Symbole zu unterbinden: Einige DDR-Bürger hatten sich amerikanische Flaggen selbst zusammengenäht, und der Moment, in dem aus hunderttausenden Kehlen der Refrain des Songs „Born in the USA“ mitgeschmettert wurde, musste den anwesenden Stasileute äußerst unangenehm sein. (Dass Springsteen in diesem Lied sein Heimatland durchaus kritisierte, dürfte den Besuchern nicht bewusst gewesen sein.) So zeigte sich, dass die jahrzehntelange Propaganda, die USA als den „Klassenfeind“, als das wesensmäßige Böse darzustellen, nicht verfangen hatte und dass die Chiffre „Amerika“, die stets für Freiheit gestanden hatte, unter den Ostdeutschen noch oder gerade eine besondere Bedeutung als Sehnsuchtsort bewahrt hatte.
Rockmusik im Ostblock
Der Film Free to Rock: How Rock & Roll Helped End the Cold War zeichnet die Geschichte der Rockmusik in der Sowjetunion nach und präsentiert Rock-Pioniere aus diversen Sowjetstaaten wie Andrej V. Makarewitsch, (mit der Band Maschina Wremeni/Zeitmaschine), den lettischen Nationalhelden Pete Anderson, Boris Grebenschtschikow, Juri Schewtschuk u.a. Der Film berichtet von brutaler Unterdrückung der Rockmusik(er), inklusive Prügelattacken und Verbannung nach Sibirien, aber auch von dem unbändigen Drang der Jugend, an diesem westlichen Kulturphänomen teilzuhaben. So unterlief Valery „Seisky“ Saifudinov, Gründer der ersten sowjetischen Rockband, The Revengers, welche typisch amerikanische Rockmusik auf Englisch sang, den Versuch, elektrische Gitarren zu verbieten, indem er nach Vorlagen, die ein Seemann eingeschmuggelt hatte, eine Fender Stratocaster nachbaute. Etliche junge Russen taten es ihm gleich, und weil ein bestimmter Magnet aus öffentlichen Telefonzellen dafür verwendet werden konnte, sollen binnen Kurzem die meisten Telefonzellen Moskaus unbrauchbar gewesen sein, so die Legende.
Sodann gab es auch in der Sowjetunion Versuche der „Substitution“, indem nur den sogenannten Vokal- und Instrumentalensembles (Vocal Instrumental Ensembles, VIEs) der Gebrauch elektrischer Gitarren gestattet wurde, die dann staatlich kontrollierte Rockmusik auf Russisch vortrugen. Die sowjetische Regierung rekrutierte sogar den amerikanischen Sozialisten Dean Reed, genannt der „rote Elvis“, um als offizieller Vertreter US-amerikanischer Rockmusik und Unterstützer des Sozialismus in der Sowjetunion zu leben und zu spielen. Sechs Wochen, nachdem er in der amerikanischen CBS-Fernsehsendung „60 Minutes“ angekündigt hatte, in die Vereinigten Staaten zurückkehren zu wollen, wurde er tot in einem See gefunden; die offizielle Auskunft lautete: Selbstmord.
Als ‚echte‘ russische Rocker wie Stas Namin mit seiner Band Flowers, die mit ihrem Softrock zunächst ungefährlich schienen und sogar über das einzige staatliche Plattenlabel „Melodia“ vertrieben wurden, zu erfolgreich wurden (5 Millionen verkaufte Platten des ersten Albums, 7 Millionen des zweiten Albums), wurden sie 1974 kurzerhand verboten und als Propagandisten für das verachtete Hippietum diffamiert. Im Folgenden wurden sogenannte „inoffizielle Bands“ zwar geduldet, aber lediglich in speziellen „Untergrund-Locations“ wie dem Leningrad Rock Club, wo sie unter Kontrolle und Überwachung durch den KGB standen.
Der Film gibt auch ungewöhnliche Einblicke in einige weitere Ostblockstaaten, etwa Lettland, wo die russischen Besatzer 2.500 Störsender aufstellten, um die Radiowellen aus Finnland und Schweden zu blocken. Als 1966 in Riga die Melody Makers das erste offizielle Rockkonzert geben sollten und es abgesagt wurde, demonstrierten 2.000 Jugendliche mit dem Slogan „Free the guitar“. Oder in die ČSSR, wo die Beach Boys 1969 als erste amerikanische Band eine Tour machen durften und ihren Song „Break away“ Alexander Dubček, der Leitfigur des Prager Frühlings, widmeten. Im selben Land wurde 1976 die Band Plastic People of the Universe ins Gefängnis verbracht, was von dem jungen Dramatiker Václav Havel publik gemacht wurde, der eine internationale Protestaktion initiierte. Nachdem derselbe Havel am 29. Dezember 1989 zum Präsidenten der ČSSR gewählt worden war, lud er persönlich kurz darauf die Rolling Stones ein, im Sommer 1990 in Prag zu spielen, unter dem Motto: „Panzer rollen hinaus, die Stones rollen herein“.
Auch gegenüber der Sowjetunion war der Westen durchaus politisch aktiv: Mit Unterstützung Jimmy Carters fragte das Auswärtige Amt der USA (State Department) die Country-Musiker der Nitty Gritty Dirt Band an, ob sie in der UdSSR spielen wollten und argumentierte gegenüber der russischen Kulturpolitik, dass es sich schließlich um (unpolitische) Volksmusik/Folk Music handele. So wurden sie 1977 die erste amerikanische Band, die durch Russland und seine Satellitenstaaten tourte, mit 28 ausverkauften Konzerten in Sowjetrepubliken wie Georgien, Armenien oder Lettland, schließlich mit einem Fernsehkonzert in Moskau, das von 140 Millionen Zuschauern gesehen wurde. Andere westliche Musiker folgten, etwa 1979 der Brite Elton John. E-Gitarren blieben verboten, bis Michail Gorbatschow 1985 an die Macht kam und sie erstmals erlaubte sowie allgemein die Regeln gegenüber Rockmusik abschaffte. Als dann Billy Joel 1987 vor 20.000 Besuchern in Moskau mit E-Gitarre spielte, durften die Fans endlich, wie in einem ‚richtigen‘ Konzert, stehen, tanzen und hüpfen. In einer sowjetischen Fernsehshow sang Joel ausgerechnet und mit voller Absicht den Dylan-Song „The Times They Are A Changing“. Und das taten sie.
Als Gorbatschow klarstellte, dass alles erlaubt sei, was nicht gesetzlich verboten war, (und Rock ‘n’ Roll war nicht offiziell verboten), reagierte Stas Namin sofort und gründete ein Aufnahmestudio, das Stas Namin Center im Grünen Theater im Gorki-Park in Moskau, eine Plattenfirma, sowie die erste freie Radiostation und Fernsehstation des Landes. Er organisierte am 12./13. August 1989 im Olympia-Stadion das Moscow Peace and Music Festival, das erste Rock-‘n’-Roll-Festival Russlands, auf dem vor einer Viertelmillion Zuschauer einige der größten Hardrock- und Heavy-Metal-Bands der Welt spielten (Bon Jovi, Mötley Crüe, Scorpions, Skid Row, Ozzy Ozbourne). Dieses Konzert und die Begegnung mit Stas Namin inspirierten Klaus Meine, den Sänger der Scorpions, zu dem Song „Wind of Change“, der später so etwas wie die Hymne der friedlichen Revolution wurde und mit Zeilen beginnt: „I follow the Moskva / Down to Gorky Park / Listening to the wind of change / An August summer night“.
Kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion fand am 28. September 1991 eines der größten Rockkonzerte der Welt, das „Monsters-of-Rock“-Konzert, auf dem Flugplatz Tuschino vor Moskau statt, mit Bands wie Pantera, Black Crows, Metallica und AC/DC. Offiziell hatte es 500.000 Zuschauer; inoffiziellen Schätzungen zufolge durchaus das Dreifache. Noch weit in die 1990er- und 2000er-Jahre hinein konnten westliche Bands der Achtziger, die mittlerweile im Westen an Strahlkraft eingebüßt hatten, in den Ländern des ehemaligen Ostblocks riesige Konzerte abhalten und Erfolge feiern, in Erinnerung an die Jugend und die Sehnsucht, die sie einst für die Menschen dieser Länder verkörperten. Doug Yeager, der 14 Jahre lang an dem Film Free to Rock gearbeitet hat, zeigt sich überzeugt, dass im heutigen historischen Rückblick auf den Kalten Krieg und in der Analyse der Ursachen, warum das Sowjetimperium diesen letztlich verlor, die kulturellen Aspekte und der Einfluss der Rockmusik noch immer unterbewertet sind und weiterer Analyse harren.
Footnotes:
[1] Associated Press: Dateline Paris. „Sinatra Blasts At Rock ‘n’ Roll.“ Abgedruckt u.a. in: Trenton Evening Times. Oct 28, 1957, Page 6, Column 1 and 2, Trenton, New Jersey.
[2] Stephan, Alexander. „Culture Clash? Die Amerikanisierung in der Bundesrepublik Deutschland.“ In: America on my mind. Zur Amerikanisierung der deutschen Kultur seit 1945. Hg. von Alexander Stephan, Jochen Vogt, München: Wilhelm Fink Verlag, 2006, S. 29-50, hier S. 29.
[3] Ebd., S. 31-37.
[4] Schildt, Axel. „Zur sogenannten Amerikanisierung in der frühen Bundesrepublik – einige Differenzierungen.“ In: Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945-1960. Hg. von Lars Koch, Bielefeld: transcript 2007, S. 23-44, hier S. 37.
[5] Siehe auch die Fernsehfilmtrilogie: Ku’damm 56 (Regie Sven Bohse. ZDF 2016, mit Sonja Gerhardt, Claudia Michelsen und Sabin Tambrea), Ku’damm 59 (ZDF 2018) und Ku’damm 63 (ZDF, tbd.).
[6] Becker, Frank. „Wirklichkeit oder Phantasma? Die ‚Amerikanisierung‘ von Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik.“ In: America on my mind. Zur Amerikanisierung der deutschen Kultur seit 1945. Hg. von Alexander Stephan, Jochen Vogt. München: Fink, 2006, S. 51-73, hier S. 63-67.
[7] Vgl.: Ludwig, Janine. „Bericht vom Klassenfeind USA – Günter Kunerts Der andere Planet. Ansichten von Amerika.“ In: Reiseliteratur der DDR – Bestandsaufnahmen und Modellanalysen. Hg. von Bernd Blaschke, Axel Dunker, Michael Hofmann. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, S. 75-96.
[8] Heinz Kamnitzer 1952 und Wilhelm Girnus 1951, zitiert nach: Haury, Thomas. „Die ‚Dollarkönige.‘ Der Antiamerikanismus der DDR.“ In: Amerika und Europa. Mars und Venus? Das Bild Amerikas in Europa. Hg. von Rudolf von Thadden, Alexandre Escudier. Göttingen: Wallstein Verlag, 2004, S. 65-85, hier S 76f.
[9] Zitiert nach: Wicke, Peter. „Rock ‘n’ Roll im Stadtpark. The German Dimension of American History. Von einer unerlaubten Vision in den Grenzen des Erlaubten.“ In: Jeans, Rock & Vietnam. Amerikanische Kultur in der DDR. Hg. von Therese Hörnigk, Alexander Stephan, Berlin: Theater der Zeit, 2002, S. 61-79, hier S. 73.
[10] Knepler, Georg. „Musik, ein Instrument der Kriegsvorbereitung.“ In: Musik und Gesellschaft 2 (1951), S. 25.
[11] Meyer, Ernst H. Musik im Zeitgeschehen. Berlin: Verlag Bruno Henschel und Sohn, 1952, S. 162.
[12] Zitiert nach: Rauhut, Michael. Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964-1972 – Politik und Alltag. Berlin: BasisDruck, 1993, S. 23.
[13] Wicke, S. 63.
[14] Free to Rock: How Rock & Roll Helped End the Cold War. Dokumentarfilm. Regie: Jim Brown, Produzenten: Nick Binkley, Stas Namin, Jim Brown, Doug Yeager. PSB Records Inc., 2017. Original Story by Nick Binkley, Valery Saifudinov, Doug Yeager. https://www.freetorockmovie.com/
[15] Yeager, Doug und Ludwig, Janine. „Gespräch nach der Vorführung des Films Free to Rock“ am 13.11.2019 an der Universität Bremen. Eine Veranstaltung des William G. and Elke Durden Dickinson Bremen Program in Kooperation mit dem U.S. Consulate General Hamburg, dem Carl Schurz Deutsch-Amerikanischen Club, der Universität Bremen, Studiengang English Speaking Cultures, und dem Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien (ifkud). http://blogs.dickinson.edu/bremen/2019/11/ Eine Aufzeichnung des Gesprächs befindet sich im Besitz von Janine Ludwig.
[16] Montirian, Charles. „La paix révolutionnaire. Tension psychologique.“ In: Allgemeine Militärrundschau/ Revue Militaire Générale 8 (1958), S. 387-405, hier 404, 405 und 400. Zitiert nach: Rauhut, Michael. „Schwarz-weiße Netze: Afroamerikanische Musik als politisches Medium in der DDR.“ In: Globaler Gesang vom Garten der Freiheit. Anglo-amerikanische Populärmusik und ihre Bedeutung für die US-Außenpolitik. Hg. von Werner Kremp, David Sirakov. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2008, S. 231-249. https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwjj4d6bj9_qAhVKQEEAHRTsCssQFjAAegQIBxAB&url=https%3A%2F%2Fcore.ac.uk%2Fdownload%2Fpdf%2F225894717.pdf&usg=AOvVaw19BzByX35TpKAN12xdZHp_, S. 3.
[17] Ebd. Zum Einfluss der CIA im Kulturkampf vgl. auch: Stonor Saunders, Frances. Who Paid the Piper?: The CIA and the Cultural Cold War. London: Granta Books, 1999 und New York: New Press, 2000. Sowie spezieller: Hochgeschwender, Michael. Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München: R. Oldenbourg Verlag, 1998.
[18] …in dem o.g. Gespräch mit Janine Ludwig.
[19] Für alle Infos und Zitate vgl.: Lindner, Bernd. „Jugendkultur in der DDR zwischen Staatsgründung und Mauerbau.“ In: bpb Deutschlandarchiv vom 12. Mai 2011, https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/53890/jugendkultur-in-der-ddr?p=all (eingesehen am 21. Jul. 2020).
[20] Kötzing, Andreas. „Zensur von DEFA-Filmen in der Bundesrepublik. ‚Berlin – Ecke Schönhauser.‘“ In: bpb Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 1-2/2009). Politische Kultur im Kalten Krieg. 18. Dez. 2008, https://www.bpb.de/apuz/32270/zensur-von-defa-filmen-in-der-bundesrepublik?p=3 (eingesehen am 7. Aug. 2020).
[21] Hier zitiert nach: Rauhut, S. 162.
[22] Kolitsch, Thomas. „The Monotony of the Yeah, Yeah, Yeah – Official Ways of Dealing with Western Popular Music in the GDR.“ In: Ambivalent Americanizations: Popular and Consumer Culture in Central and Eastern Europe. Ed. Sebastian M. Herrmann et al, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2008, pp. 51-62.
[23] Dies wird anschaulich dargestellt in der Komödie Sonnenallee. Regie: Leander Haußmann, Boje Buck Produktion, 1999, die das Lebensgefühl der Ostberliner Jugend in den 1970er-Jahren einfängt.
[24] „Aktion Ochsenkopf.“ In: Der Spiegel, Nr. 37, 1961, S. 23.
[25] Der Zwischentitel ist folgender Doku entnommen: Kalter Krieg der Konzerte: Wie Bruce Springsteen den Osten rockte. Regie: Carsten Fiebeler, Dokumentation, arte, 2013. (https://www.youtube.com/watch?v=nRJc-bcv4es, eingesehen am 21. Jul. 2020). Vgl.: „Mein Sommer ’88 – Wie die Stars die DDR rockten.“ Ein Film von Carsten Fiebeler und Daniel Remsperger. Spielfilm, DOKfilm Fernsehproduktion GmbH, 2013. (https://www.youtube.com/watch?v=GCcAK2MZFeA, eingesehen am 21. Jul. 2020).