Sep 2020
VI. Buchbesprechungen: Caspar Battegay, Naomi Lubrich. Jüdische Schweiz
Caspar Battegay, Naomi Lubrich.
Jüdische Schweiz:
50 Objekte erzählen Geschichte.
Jewish Switzerland:
50 Objects Tell Their Stories.
Basel: Christian Merian Verlag, 2018, 232 Seiten.
Frederick A. Lubich, Norfolk, Virginia
Der deutschsprachige Text dieses Bandes wurde von dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Caspar Battegay und der Kunsthistorikerin und Literaturwissenschaftlerin Naomi Lubrich verfasst und von Rebecca Schuman (St. Louis, USA) ins Englische übertragen. In ihrer Eigenschaft als Direktorin des Jüdischen Museums der Schweiz in Basel stellte Naomi Lubrich auch einen Großteil der in diesem Band abgebildeten Gegenstände zur Verfügung.
Die Herkunft dieser Objekte reicht von seltenen, zum Teil wertvollen Ritualobjekten aus der Antike bis zu Gegenständen aus dem Alltagsleben der Gegenwart. Sie werden jeweils unter stichwortartigen Überschriften zweispaltig in deutscher und englischer Sprache auf insgesamt durchschnittlich zweieinhalb Seiten vorgestellt und in ihren sozialgeschichtlichen und kulturhistorischen Zusammenhängen weiter ausgedeutet.
Um hier nur einige der bemerkenswertesten Gegenstände zu nennen, die aus den letzten 2000 Jahren jüdischer Kulturgeschichte ausgewählt wurden: Eine römische Münze (ca. 70 unserer Zeitrechnung), eine römische Öllampe aus Jerusalem (1. Jh.), ein Menora-Ring (4. Jh.) ein Grabstein aus Basel (1222), eine Seite der berühmten Schedel‘schen Weltchronik (1493) mit der wohl bekanntesten Darstellung einer mittelalterlichen Judenverbrennung, eine sogenannte Miserikordie (Judensau) aus dem Basler Münster (1375), eine Thorarolle aus Kairo (13. oder 14. Jh.), eine Beschneidungsbank (18. Jh.), eine Taschenuhr (1901), eine Postkarte von Albert Einstein aus Bern (1902), eine Gitarre aus dem Konzentrationslager Buchenwald (1937-1945), ein Flüchtlingskoffer (1938), die Schreibmaschine von Anne Franks Vater Otto Frank (ca. 1960) und last but not least zwei Kippot mit Insignien der Basler Fußballklubs FCB und FCZ (2016). Stand der erste Text unter dem ersten Bild unter der bezeichnenden Überschrift „Das Exil beginnt“, so steht der letzte Text unter diesem letztgenannten Bild unter der sprechenden Überschrift „Dazugehören“, welches das endgültige Ende des Exils und die reale Integration des jüdischen Volkes in die Schweizer Gesellschaft auf sinnfällige Weise unterstreicht.
Bereits der erste Gegenstand, eine römische Münze, die ca. 70 unserer Zeitrechnung geprägt wurde und unter der Überschrift „das Exil beginnt“ vorgestellt wird, veranschaulicht das Konzept dieses Bildbandes auf beispielhafte Weise. Es ist eine Gedenkmünze aus Lyon, die auf der einen Seite das Haupt des römischen Kaisers Vespasian darstellt, der im Jahr 70 unserer Zeitrechnung mit der Zerstörung des jüdischen Tempels in Jerusalem das jüdische Volk in die weltweite Zerstreuung getrieben hatte.
Dieses Ereignis von so großer geschichtlicher Tragweite findet denn auch auf der Rückseite der Münze seine weitere sinnbildliche Veranschaulichung. Auf der rechten Seite sitzt eine Frauenfigur unter einer Palme. Die Palme symbolisiert den Autoren zufolge Judäa und die Frauenfigur personifiziert das trauernde Volk der Juden. Auf der linken Seite steht Kaiser Vespasian in Siegerpose. In der rechten Hand hält er einen Speer und in der linken einen Dolch, die emblematische Waffe der römischen Legionäre. Der beschreibende Text summiert diese facettenreiche Symbolik: „Rom versus Jerusalem; Mann versus Frau; Sieg versus Trauer. Die Kontraste werden im Schriftzug auf der Münze zusammengefasst: IVDAEA CAPTA (=Judäa ist erobert)“ (18).
Ein weiteres bedeutungs- und unheilschwangeres Beispiel stellt die sogenannte Miserikordie aus dem Basler Münster (1375) dar. Es handelt sich dabei in anderen Worten – und in schrecklichem Deutsch – um die als „Judensau“ bekannt gewordene antijüdische Allegorie auf mittelalterlichen Kirchenfassaden, die hier unter dem Titel „Moral und Schande“ (46) in ihrem weiteren historischen Kontext interpretiert wird. Derartige Skulpturen spielten in der christlichen Gesellschaft jener Zeit in der Tat eine mehrfache Rolle. So besaßen sie unter anderem auch eine soziale Sündenbockfunktion, auf die sich die Übel und Missstände jener Zeit leicht projizieren ließen. Entsprechend war das Resultat für Juden auch immer wieder fatal-katastrophal. So heißt es etwa im begleitenden Text faktisch-lapidar: „Der Herstellungszeitpunkt war für die jüdisch-christlichen Beziehungen in Basel ein besonders sensibler. Basel hatte im Zusammenhang mit der Pestepidemie von 1348/49 die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die nicht bereits geflohen waren, auf der Rheininsel verbrannt.“ (49)
Nur wenige Monate nach Erscheinen dieses Bandes sollte die Diskussion um diese schmachvolle „Judensau“ erneute Brisanz und Aktualität gewinnen, als sich in Deutschland die Stimmen zu mehren begannen, derartige Schandbilder aus dem Mittelalter endlich von deutschen Kirchenbauten zu entfernen. Dieser öffentliche, zeitgenössische Meinungsstreit findet im heutigen Süden der Vereinigten Staaten in der reihenweisen Demontage von Standbildern konföderativer Generäle sein fernes Spiegelbild und seine letztendlich folgerichtige Schlichtung und endgültige Lösung.
Das dritte und letzte Beispiel, das hier etwas ausführlicher zur Sprache kommen soll, ist die Gitarre aus dem Konzentrationslager Buchenwald (1937-1945), die hier unter der Überschrift „Das Lied vom Leben“ (162) vorgestellt und – zumindest sinnbildlich gesprochen – erneut zum denkwürdigen Klingen gebracht wird. Es handelt sich bei dieser Gitarre um ein Instrument, das von Häftlingen in Buchenwald aus einer Zigarrenkiste mit Nägeln, Schrauben und Draht zusammengebaut worden war. Die Autoren erinnern in diesem Zusammenhang noch einmal an die verschiedenen Rollen, welche die Musik in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches zu spielen hatte, angefangen vom erzwungenen Singen der Zwangsarbeiter über Konzerte am Appellplatz bis zum heimlich gemeinsamen Singen jiddischer Widerstandslieder osteuropäischer Juden, die oft unter besonders schlimmen Bedingungen arbeiten mussten.
Die Autoren gedenken an dieser Stelle auch der in Buchenwald inhaftierten Kabarettisten Fritz Löhner-Beda und Hermann Leopoldi, die dort gezwungen wurden, das „Buchenwaldlied“ zu komponieren, das dann als Marschlied von Arbeiterkolonnen gesungen werden musste. Des Weiteren findet auch der Berliner Jazz-Gittarist Coco Schumann Erwähnung, der in Auschwitz-Birkenau aufspielen musste und dort durch seine Kunst das berüchtigte Todeslager überlebte. Dieser Zauberkraft der Musik verdankte auch die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch ihr Überleben in Auschwitz. Am 17. Juli 2020 konnte sie in London ihren 95. Geburtstag feiern. Sie ist sicherlich die letzte Zeitzeugin und bekannte Vertreterin dieser musikalischen Überlebenskunst. (Siehe in dieser Ausgabe Michael Eskins Hommage an die Künstlerin.)
Im weiteren, sinnbildliche Sinne dieser musikalischen Erbauungs- und Unterhaltungskunst lässt sich auch für diesen vorliegenden Band abschließend schlussfolgern: Was für ein gelungenes Kunststück, zweitausend Jahre jüdischer Lebens- und Überlebensgeschichte so spielerisch an Hand von 50 Gegenständen in konzisen Prosaminiaturen auf informative und illustrative Art und Weise vor Augen zu führen. Gegen Ende des Bandes gewinnt zudem die Vorstellung und Ausdeutung der Anschauungsobjekte zunehmend an Humor und Ironie. Grad so, als könnte das „trauernde Volk der Juden“, als das es eingangs auf der Rückseite der römischen Münze dargestellt war, nach zweitausend Jahren systematischer Diskriminierung und Drangsalierung endlich aufatmen und sich mehr und mehr am Leben erfreuen.
Am anschaulichsten kommt dies sicherlich in dem Bild mit dem dazugehörigen Text zum Ausdruck: „Die Schöpfung bestaunen. Benyamin Reich fotografiert seinen Vater auf Skiern“ (198) aus dem Jahre 2016. Das Foto zeigt den Vater des Fotografen als weißbärtigen Mann im Schtreimel und Tallit, also im Pelzhut und Gebetsmantel der orthodoxen Juden, wie er vergnügt auf Skiern den Berghang hinabfährt, während im Hintergrund das Schweizer Hochgebirge majestätisch in den blauen, wolkenlosen Himmel ragt. Diese Szenerie hoch über dem Walliser Ferienort Saas-Fee ist für die Autoren der gegebene Anlass, die große Bedeutung der Schweiz für den jüdischen Fremdenverkehr darzustellen, der am Ende des 19. Jahrhunderts begann: „Religiöse Jüdinnen und Juden sind bis heute eine umworbene Touristengruppe in der Schweiz. Allein in St. Moritz verbringen jeden Sommer rund dreitausend religiöse jüdische Feriengäste aus aller Welt ihren Urlaub.“ (200)
Und so gipfelt denn auch diese heitere Vignette in einer bezeichnend humorvollen Anekdote, die Samson Raphael Hirsch, dem Begründer der jüdischen Neo-Orthodoxie zugeschrieben wird, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland wirkte und von dem es heißt, dass er gesagt haben soll: „Werde er einmal vor Gott dem Schöpfer stehen, so werde er ihm Rechenschaft ablegen müssen auf die Frage: ‚Hast du meine Alpen gesehen?‘“ (198) Im Rückblick gibt sich diese göttliche Frage in der Tat als erhebender Höhepunkt dieser so leichtfüßig daherkommenden, so weitbewanderten und letztlich so lebensweise beflügelten tour d’horizon zu erkennen. Und vielleicht ist die so göttlich bodenständige Frage des Höchsten auch die beste Antwort auf all die irdischen Wahrheitssucher, die seit Menschengedenken Gott im Himmel zu finden hoffen.
Traduttore, traditore – der Übersetzer ist ein Verräter, so gibt das italienische Sprichwort allen Lesern übersetzter Texte zu bedenken. Obgleich recht übertrieben, ist diese berufliche Unterstellung im Grunde genommen durchaus berechtigt in Anbetracht der Tatsache, dass sprachliche Nuancen oft wirklich nicht vollständig in ein anderes Idiom übertragbar sind. Mit dieser Herausforderung sieht sich Rebecca Schuman, die Übersetzerin dieser zweisprachigen Ausgabe, bereits im Untertitel des Buches konfrontiert. „50 Objekte erzählen Geschichte“ ist nicht ganz deckungsgleich mit der englischen Übertragung “50 Objects Tell Their Stories“. Während sich in der deutschen Version die erzählten Geschichten zur erlebten Geschichte verdichten, wird im Englischen aus den einzelnen „stories“ keine zusammenhängende „history“. Dieser wortspielerische Bedeutungsverslust ist freilich unvermeidlich auf Grund der deutschen Doppelbedeutung von „Geschichte“, ein Wort, das ja sowohl „story“ wie auch „history“ bezeichnen kann.
Es wäre an dieser Stelle eventuell zu überlegen gewesen, ob nicht hier eine erklärende Fußnote angebracht gewesen wäre. Des Weiteren wäre vielleicht auch eine Übersetzung von deutschen Buchtiteln und Eigennamen ratsam gewesen, wie etwa zu „Weltchronik“, „Babylonische Wandrung“ oder „Bodensee“, denn nicht jedem englischsprachigen Leser dürften die genauen Bedeutungen der deutschen Namen oder wie im Fall des Bodensees die englische Entsprechung „Lake Constance“ geläufig sein.
Eine weitere übersetzerische Hürde stellen die diversen geschlechterdifferenzierenden Gepflogenheiten und Sprachregelungen in den verschiedenen Sprachen dar. Während etwa der deutsche Titel “Der Mensch ist frei geschaffen“ (94) geschlechtsneutral ist, schrumpft er in der englischen Übersetzung “Man is Created Free“ (94) automatisch auf das männliche Geschlecht zusammen. Hier hätte vielleicht im englischen Text eine erklärende Fußnote auf dieses linguistische Dilemma aufmerksam machen können, zumal sich die wachsende Beliebtheit und Verbreitung des aus dem Deutschen und Jiddischen entlehnten Wortes „Mensch“ in der amerikanischen Sprache als erklärende Brücke geradezu angeboten hätte.
Komplex und intrikat ist auch die Problematik der korrekten Übersetzung von geschlechterdifferenzierenden Sammelbegriffen wie „Arbeiterinnen und Arbeiter“ oder in der in diesem Band wiederholten Wendung „Jüdinnen und Juden“, wofür die englische Umschreibung „Jews and Jewesses“ oder „male and female workers“ nicht nur umständlich, sondern zudem in den meisten Fällen zudem unnötig ist.
Als abschließende Ergänzung der Übersetzungsproblematik von „Geschichte“ zu Beginn des Bandes mag die Übersetzung von „Dazugehören“ als „Belonging“ (214) am Ende dieses Bandes dienen. Auch diese Übersetzung ist nicht vollkommen deckungsgleich, denn „belong“ bezeichnet lediglich „gehören“, während es für die deutsche Nuance des Dazugehörens im Sinne von „to be a part of something“, „to be socially integrated“ in der englischen Sprache kein entsprechendes Äquivalent gibt.
Für Kenner und Liebhaber beider Sprachen bietet diese zweisprachige Ausgabe jedenfalls immer wieder aufschlussreiche Beispiele, an denen sich die verschiedenen Herausforderungen und mehr oder weniger gelungenen Lösungen einer Übersetzungen unmittelbar auf derselben Seite nachlesen und überprüfen lassen. Zu letzteren gehören auch kreative Umschreibungen wie etwa die Übersetzung von „Ein Buch, ein Politikum“ als „One Book, One Political Minefield“ (54). Im Fall von „Aufstieg und Niedergang“ (114) einer jüdischen Gemeinde wäre allerdings „Rise and Demise“ zutreffender gewesen als „Rise and Fall“, ein Ausdruck, der freilich in der englischen Sprache eine stehende Redewendung ist, selbst wenn von einem buchstäblichen Fall – der ja wortwörtlich im Handumdrehen und vor allem plötzlich passiert – in all den Fällen, die Aufstiege und Niedergänge größerer Gruppierungen bezeichnen, überhaupt keine Rede sein kann.
Andrerseits stellt die freie Übersetzung des Titels „Wer liebt, hat recht, Salatschüssel von Familie Sauter“ (186) als „Love is in the Bowl“ in seiner dichterischen Freiheit geradezu eine inhaltliche, wenn nicht gar klangliche Bereicherung dar, da für hellhörige, englischsprachige Leser in diesem Satz auch noch die romantische Redewendung „love is in the air“ mehr oder weniger unterschwellig mitschwingt.
Sieht man einmal von so offenkundigen Fehlübersetzungen wie zum Beispiel „Handel und Händel“ als „Trade and Commerce“ (70) ab, dann erweist sich die englischsprachige Version dieses Bandes – auch nach zahlreichen Stichproben – insgesamt betrachtet immer wieder als einfühlsame, eloquent-elegante Übertragung des deutschsprachigen Originals. Eine Bibliografie, sowie ein Bild- und Objektnachweis beschließen diesen so bild- und bildungsreichen Sammelband, dem man in seiner ansprechenden, zweisprachigen Gelehrsamkeit und Unterhaltsamkeit viele Leser und Betrachter diesseits und jenseits des Atlantiks wünscht.