May 2021

V. Buchbesprechungen: Irmgard Hunt. hüben drüben hin her

Irmgard Hunt.

 

hüben drüben hin her.

 

Gedichte und Kurzprosa.

 

Leipzig: Engelsdorfer Verlag, 2019. 142 Seiten. ISBN 978-3-96145-795-3

 

Edith Borchardt, Kingston, New York

 

 

Wir danken Helmut Troendle, dem Witwer der verstorbenen Burga Endhardt und Copyright-Inhaber, für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck dieses Covers von Burga Endhardt.

 

 

Das enigmatische Titelbild von Burga Endhardt auf dem Umschlag von hüben drüben hin her deutet auf das Rätsel des menschlichen Lebens in seiner universalen Symbolik, die individuelles Erleben umhüllt. Es führt zu ekphrastischen Fragen und Überlegungen:

 

Dunkelverschleierte Menschenfigur

Magische Maske: persona

Schmetterling? “hin her”

Transformationen:

Verhüllung, Enthüllung, Entwicklung

Verwandlung

Selbstverwirklichung:

Teleologische Zentroversion

Extrovertiert introvertiert

Reifeprozeß in Todesnähe

Flatternder Trauerflor

 

Wie die Autorin von hüben drüben hin her auf der Rückseite des Umschlags erklärt, geht es in ihrem Buch um „Leben und Lieben auf zwei Kontinenten“, um die „Existenz zwischen den Sprachen, Heimat und Fremde“. Gespaltene Existenz bedeutet gespaltene Identität, die in diesen Gedichten und Geschichten Ausdruck findet. Spaltung heißt aber auch Verdoppelung des Daseins, Bereicherung der Erfahrung. Gegenwart und Erinnerung im Pendeln zwischen hier und dort, zwischen jetzt und damals ist die Totalsumme ihrer menschlichen Existenz, ihre Identität die Integrierung aller Erfahrungen im Zwischenbereich von hüben und drüben.

Dieser Sammelband ist der Entwurf einer kreativen Persönlichkeit, deren Belesenheit (assoziativ für die Leser) in ihre Kurzprosa einfließt, als Muster für eine Geschichte wie „Nachrichten aus dem Kanalland“, als Zuflucht am Ende von „Bank, Benzin, Blut, Brot“ oder als Ausklang in „Wir“. Die Erzählerin im „Kanalland“ von Ft. Collins, Colorado, gebraucht einen bekannten Kinderstreich aus Max und Moritz von Wilhelm Busch als Vorbild für ihre Geschichte, worauf das leicht umgewandelte Zitat am Anfang mit seinem Rhythmus sofort aufmerksam macht. Leider ist in ihrer eigenen Welt dieser Lausbubenstreich – das Absägen der Brücke über dem Gewässer – für sie nicht nachvollziehbar, weil es meilenweit an ihrem Kanal keine Brücken gibt. Die Eheprobleme sind nicht mehr zu überbrücken, und somit gibt es keine Brücke zu zersägen, sich selbst abzuspalten, um ihre Identität in einem Fantasiebereich zu bewahren. Mark Twain steht Pate für den imaginären Fluchtversuch auf dem Kanal, der von dem Fluss Cache la Poudre abgeleitet durch Ft. Collins fließt: „Man könnte Huck Finn spielen“, meint die Erzählerin, „und von hier aus auf einem Floß zum Mississippi gelangen“ (21). Auch in „Sträub- und Störstücke aus den Memoiren“ geht es um die Flucht aus der beklemmenden Wirklichkeit: „Dann gehen Schweben und Schwingen ins Schwimmen über Fließen im Wasser dahin gleiten eine rettende Art der Fortbewegung. Fort. Eintauchen. Untertauchen und im Ohr… die Undinenworte Bin unter Wasser. Bin weg. Vergesst mich“ (93). Mit dem Wasser als Zufluchtsort, als Ausschaltung der Welt, verbindet sich auch das Motiv des Todes: „Als alte Schwimmerin denkt sie über das Eintauchen, das Ertrinken als die schönste Art des Sterbens… nach“ (97). Das führt zu Gedanken über die entkörperte Seele, die für sie „Etwas Fließendes wie Wasser und Schleier“ sein muß (94).

Am Ende von „Bank, Benzin, Blut, Brot“ bemerkt die Erzählerin, dass sie wieder einmal pane e vino lesen müsste, einen Band von Ignazio Silone (Pseudonym für Secondino Tranquilli), dessen Roman unter dem deutschen Titel Brot und Wein 1936 zuerst in der Schweiz erschien. Darin geht es um das falsche Dasein eines Menschen, um ein Rollenspiel hinter der Maske der Religion. Vielleicht hätte sie aber auch Giovanni Papini interessiert, weil er seinem Band religiöser Gedichte „Brot und Wein“ von 1926 einen Monolog über die Poesie hinzufügte. Poesie: die Dichtkunst als Verzauberung der Welt, wo sie als Prinzessin auf ihrer Burg hinter dem Kanal als Festungsgraben ungestört allein leben könnte. Im „Kanalland“ äußert sie sich über die Kreativität: „Kreatives Schaffen fordert ungeheuer große Zeitspannen. Es arbeitet im Kopf, ohne dass etwas für andere Sichtbares geschieht. Zeit, Ruhe, Raum, Platz, Freiheit – absolut. Sich Freiraum schaffen, sagen die Künstler. Es tut sich nichts, sagen die anderen. Die Frau kann seit neuestem nicht mehr schreiben; es geht nur noch, wenn sie allein ist“ (20). Allein ist sie aber nicht in „Bank, Benzin, Blut, Brot“ wegen des unliebsamen Gastes, der gegen die Rituale des alltäglichen Lebens verstößt, den Tagesrhythmus seiner Gastgeber stört und deren gewohnte Lebensweise unterminiert. Persona, die Maske: gute Miene zum bösen Spiel, Unterdrückung von Zorn und Ärger. Als humorvolles musikalisches Leitmotiv durchzieht „O du lieber Augustin“ aus Boris Tschaikowskis Begleitmusik für eine Radioproduktion des „Schweinehirten“ diese Geschichte.

Die Rollen der Erzählerin sind vielfältig, in „Advent“ aufgezählt: Ehefrau, Mutter, Köchin, Wirtin, Aufwarteperson (39) im Alltag und Familienleben; im Beruf vermehren sie sich: Akademikerin, Kritikerin, Übersetzerin von Gedichten, Herausgeberin eines literarischen Journals, Schatzmeisterin für SCALG (Society for Contemporary American Literature in German), worauf in „Wir“ angespielt wird. Wie findet man da Zeit und Ruhe, Freiraum für die Kreativität, für das eigene Dichten, das ein „vertrocknetes Blümchen geworden ist“, ein „verschreckter Hase“, der sich vielleicht nicht wieder blicken lässt (19)? Wie passt das gesellschaftliche Rollenspiel in ihr Konzept von Identität und schöpferischem Dasein? Dazu äußert sie sich in ihrer Erzählung „So viel bedroht die zarten Pflänzchen“ in einem Gespräch mit Imogen, ihrer jugendlichen Besucherin, mit der sie die Initiale ihres Vornamens teilt:

„I,“ sagte ich zu Imogen … steht auch für „I“ in Englisch und „ich“ in Deutsch.

Das Selbst. Das Ich-sein. Oder das Ich-werden. Es steht sogar auch für

Identität. Weißt du, wer du bist? Suche nach hinter deinem Initial, beginne

jetzt, denn es braucht sehr lange, bis man es findet. Was man sucht, hat die

Neigung, sich immer mehr zu verbergen. Und, glaubt man, es erfaßt zu haben,

ändert es sich gleich wieder (60).

Die uralte Frage: „Wer bin ich?“ als Ausgangspunkt zur Entwicklung und Transformation des individuellen Potenzials im Leben gehört zum Prozess der Selbstverwirklichung. Nicht immer kann das wahre „Ich“ beim Rollenspiel zum Ausdruck kommen. Es versteckt sich hinter der gesellschaftlichen Maske, der Pflichterfüllung und den Problemen des Alltags.

In „Wir“ ist die Mutterrolle zentral. Beim Ausklang sprengt die Erzählerin den Rahmen des Geschehens mit dem letzten Satz, der an das Ende von Kafkas Kurzgeschichte „Das Urteil“ erinnert. Dort heißt es beim Selbstmord Georgs, den der Vater in den Tod trieb: „In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.“ Statt um das Verhältnis vom Vater zum Sohn geht es in Irmgard Hunts Geschichte um die Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn, aber der Wahnsinn ist auch in „Wir“ thematisch, denn der nun siebzigjährige Sohn musste schon als Fünfzehnjähriger wiederholt in die Psychiatrie. Im Gegensatz zu dem strafenden alten Vater in Kafkas Erzählung ist die neunzigjährige Mutter hier aber um den Sohn besorgt, und sie helfen einander aus. Im hohen Alter fährt sie noch Auto und nimmt ihn mit zum Einkaufen, damit er Lebensmittel zu Hause hat. Er selbst hat kein Auto mehr, weil er „mehrere Autos zu Schrott gemacht“ hat. Trotzdem „paßt er haarscharf auf“, dass die Mutter beim Fahren keine Fehler macht. Die Mutter denkt, dass sie an ihrem Lebensende dem Sohn ihr Auto hinterlassen wird und hofft, dass er überleben wird, falls er einen Unfall damit hat. Wenn er auch „Paranoia in dem Wahnsinnsverkehr heutzutage“ hat, dirigiert er sie doch sicher aus dem Parkplatz hinaus auf die Fahrstraße, und die Mutter stellt fest: „Der Verkehr flutet ungeheuer“ (11).

Akustische madeleine: momentane Verdoppelung von Zeit und Raum in der Überlagerung von Gegenwart und Vergangenheit in „Katholisches Geschichtchen“. Als die Erzählerin in Colorado zufällig am Sonntag nach den Novemberwahlen 2016 Schuberts Deutsche Messe im Radio hört, ruft dies unerwartet Erinnerungen an die Kindheit in Deutschland hervor, wo sie diese Messe in der Schule sang. Die Worte, ihr von damals noch tief eingeprägt, sind ein Echo ihrer eigenen Gedanken zu dem aktuellen politischen Geschehen in Amerika: „Wohin soll ich mich wenden, wenn Scham und Schmerz mich drücken?“ Mehrere Gedichte in diesem Band befassen sich mit den Konsequenzen der damaligen Wahl: „Wehret den Anfängen / der Wahrheits-wäsche / der Fortdauer / des Lügengewäschs / den Folgen“ (79). Die Nachbarin in „WEH“ schüttelt nur mit dem Kopf, „Daß es so etwas sogar / in Amerika geben könnte“ (79). In „Kleine Gedichte“ wird der 8. 11. 16 als „Unsternstunde“ bezeichnet (81), der Hitlerzeit ähnlich, in der die Dichterin geboren wurde, nur um im Alter schicksalshaft „im Trumpamerika / zu enden? / Verenden“ (83). In dem Gedicht „2016“ bezeichnet sie die Novemberwahl als „Sturz in die Katastrophe“ und sieht fast hellseherisch voraus: „Die Notaufnahme überlastet“ (84).

Positive Erinnerungen an die deutsche Heimat tauchen hin und wieder in den Bildern von Blumen auf, wie dem Strauß auf einem geborgten Cotton T-Shirt in „Die falsche Sprache“, bei dem sie denkt: „Solche Blumen heißen im Deutschen Feldblumen, Bergblumen, Wiesenblumen“ (34), nicht „wildflowers“, wie im Englischen. Bei einem Besuch im New Yorker Riverside Park stößt sie auf Veilchen und Butterblumen, die sie seit 50 Jahren nicht mehr gesehen hat. Als stärkeres Motiv tritt der Heimatgedanke in „Pelikanreise“ hervor, bei der Rückkehr nach Deutschland, um ihre Schwester Burga Endhardt noch einmal zu sehen und von der Sterbenden Abschied zu nehmen.

In seiner Bedeutung als Psychopomp, als Seelenführer der Verstorbenen in die Nachwelt, ist der Pelikan in den altägyptischen Pyramidentexten zu finden. Zu diesem Aspekt äußert sich die Erzählerin in ihren Memoiren: „Man sagt, der Pelikan gebe den Verstorbenen sicheres Geleit ins Nachleben“ (93) und ruft ihm die Namen zu früh Verstorbener zu. „Vielleicht trägt er ihre Seelen auf seinen Schwingen ins Unbegreifliche“, meint sie da. In mittelalterlichen Bestiarien erscheint der Pelikan aber auch als Symbol für mütterliche Aufopferung und Selbsthingabe. So sieht sie ihn in dem Gedicht „Pelikan“, als Ikone und Mythe, sich in seiner selbstauferlegten Pflicht für andere opfernd (115). Als solcher wäre er das Totemtier der Erzählerin, die Leitfigur durch ihr Leben, mit dem sie eine seelische Verbindung hat. Es ist gleichzeitig, wie in der Alchemie, ein Transformationssymbol, das sie auf die Deutschlandreise begleitet. Zu dieser Rückkehr in die Heimat muss sie ihr Pflichtbewusstsein und ihre Selbstaufgabe in der Pflege des neunzigjährigen Gatten überwinden, um wieder zu sich selbst zu kommen. In ihrer Zerrissenheit bei der Planung der Reise kommt ihr der hölzerne Pelikan, ein Geschenk, zu Hilfe: „… und wie Imke ihn anschaut, wird der holzgeschnitzte Vogel plötzlich lebendig, hebt machtvoll seine Flügel und breitet sie über Imke aus. Sie spürt allen Stress der letzten Wochen plötzlich von sich abfallen“ (118) und weiß nun, dass der Vogel sie auf dieser Reise in die Vergangenheit schützt. Sie wird sich auch der christlich-sakralen Ikonographie des Pelikans bewusst, obwohl sie sie nicht mit ihrer eigenen liebevollen Aufopferung verbindet, sondern mit dem Wegweiser der Seele ins Unendliche. Die Flügel des Vogels breiten sich in ihrer Vorstellung „über ihr nunmehr beruhigtes Leben“ aus (119), und sie staunt über die „spirituelle Erfahrung, die erste, ein Wunder“.

Aus der Vogelperspektive im Flugzeug vor der Landung in der Heimat glaubt Imke „zu schweben wie die beflügelten Wesen“ (120), breitet ihre Flügel aus über der bekannten Landschaft und „erlebt den Höhenflug bewußt und voll von Gefühl und Genuss und Trauer“ (121). Die Pelikanmythe in all ihren Formen hat mit dem Tod zu tun, dem Weg, „den alle einmal gehen und den Burga die Ihren weist“ (123). Heimat: Erinnerungen, Zugehörigkeit, Verwandtschaft, Freundschaft, Liebe und die Erkenntnis, dass „die Liebe in ihr wohnt und nicht vergeht“ (122), dass Liebe – wie alles Vergängliche – in ihr weiterlebt, verinnerlicht und in ihr selbst verewigt. Mit der Pelikanreise in ihre Heimat erfüllt sich für die Erzählerin die Überbrückung der inneren Gespaltenheit, der Reifeprozess der Zentroversion, der in Burga Endhardts rätselhaftem Titelbild abstrakt verhüllt angedeutet ist.

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