Jun 2011
Harri Engelmann
Rinderschädel und Priesterbärte
Ein Traktat über das Alphabet und das Verfassen von Texten
Im Autoradio plauderte ein Komponist über seine Arbeit. Die Musik, sagte er, sei die abstrakteste aller Künste. Eigentlich hätte ich das hinnehmen müssen. Stattdessen machte ich: „Mhm“. In mir regte sich der „Besserwisser“- eine Folge davon, dass ich mir durchs Bücherschreiben viel aneignen muss. Zugegeben: es ist ein oberflächliches Wissen. Trotzdem kam mir Prokofjew in den Sinn, wo zum Teufel ist da was abstrakt? In „Peter und der Wolf“ imitieren die Instrumente menschliche Stimmen. Und was ist gegenständlicher, als Filmmusik? Kaum einer, der es nicht schon mal vernommen hat: das Anschwellen der Töne bei Gefahr. Ihr hektisches Klingen, unterlegt von einem tiefen, mitunter grummelnden Bass. Oder wie in dem Film „Das Boot“: der Synthesizer gibt vor, ein Echolot zu sein, und der Rest der Instrumente verfällt ins Stakkato, erzeugt Klangbilder – ein nächtlicher Angriff, das Stampfen des Diesels. – Worauf will ich eigentlich hinaus? Darauf: Zählt man die Literatur mit ihren Sparten, Lyrik sowieso, zu den Künsten, kommt man nicht umhin, ihr diesen Superlativ einzuräumen. Was in aller Welt ist abstrakter als Sprache?
Das Alphabet wurde vor etwa 3500 Jahren erfunden, und zwar nur einmal in der Geschichte der Menschheit. Die Abweichungen resultieren aus tausendfachen Kopien. Die Null beispielsweise, die der Mathematik auf die Sprünge half, wurde zu verschieden Zeiten und an verschiedenen Orten mehrfach „entdeckt“ – wahrscheinlich ein Gebot der Logik. Schrift scheint sich ihr zu entziehen. Sprachforscher meinen, das Wort Kultur hätte ebenso auch Klutur oder Rutluk heißen können. Da die Buchstaben aus Piktogrammen entwickelt wurden, ist das Werden kaum noch nachvollziehbar. Oder vermutet jemand bei dem Buchstaben A, dass er sich aus der Alt-Ägyptischen Hieroglyphe, die einen Rinderkopf darstellt, entwickelt hat? Vermutlich erst, wenn man es weiß und den Buchstaben auf den Kopf stellt: da, zwei Hörner! Und, mit einiger Phantasie, ein dreieckiger Rinderschädel. Aus der Schlange wurde ein N. Da verwundert es kaum noch, dass unser schönes rundes O eigentlich mal ein Auge darstellte, eine aufgepumpte Pupille sozusagen. Ein stilisierter Priesterkopf mit abstehendem Bärtchen wurde im Feuer der Sinai-Schrift, der Moabitischen Stein- und Siegelschrift, des Früh-Phönizischen solange geschmiedet, bis er, längst erkaltet und starr, als unser R im Lateinischen ankam. Nunmehr das „Gesicht“ nach rechts gewendet und darunter das „Bärtchen“, es hatte überlebt. Und wenn einer „R“ainer heißt, hat der vermutlich mit einem Priester eben sowenig gemein wie ein Komponist mit einem U-Boot-Diesel. Als alle Buchstaben in Rom angekommen waren, musste jeder sein eigener Paläograph sein. Denn die frühen lateinischen Schriften sahen so aus: meinstduwirklichichsolldiesenmistlesen
Warum ereifere ich mich eigentlich? Musik hat mein Leben begleitet; es gibt Stücke, die, sobald sie erklingen, meine Erinnerungen wecken. Türen scheinen sich zu öffnen, Orte, sogar Landschaften werden „sichtbar“, Menschen nehmen durch sie Gestalt an. Trotzdem wird mein Leben durch ein anderes Wunder bestimmt: ich schreibe. Was lässt mich seit über dreißig Jahren, mehr oder weniger fortdauernd, am Schreibtisch ausharren? Ein starker Impuls ging vom Lesen aus: sowas kommt von sowas. Weitaus stärker aber war die Kraft äußerer Turbulenzen, die in mir den Wunsch weckten, mich zurückzuziehen, mich auf mein Inneres zu bescheiden. Die ersten Texte ähnelten Resümees; als müsste ich zusammenfassen, was in meinem bisherigen Leben geschehen war, die Wirbel sozusagen bannen. Wörter und Sätze waren lediglich Mittel, die ich nach Instinkt verwendete. Aber wie ein Tischler, der irgendwann in seinem Berufsleben damit beginnt, liebevoll über ein Brett zu streichen und sich dessen Maserung schärfer betrachtet, schaute ich mir die Wörter genauer an. Bemerkte, dass es deren so viele gibt, um einen einzelnen Gegenstand oder eine Sache zu bezeichnen. Und dass es an mir lag, die Auswahl so zu treffen, dass mein Anliegen deutlicher wurde. Und dass es mit der Deutlichkeit weiß Gott nicht sein Bewenden hat. Reichtum und Schönheit erschlossen sich mir. Wie Jemandem, der sich auf einer Wiese niederlässt, womöglich ein Vergrößerungsglas benutzt und zwischen den Gräsern eine verborgene Welt entdeckt: Käfer, Spinnen, Ameisen, Milben sogar. Die in der Vergrößerung ahnen lassen, was für ein Mirakel Leben sein kann. Denn Wörter leben und verändern sich und sind noch in ihrem Widerspruch beeindruckend: rasten und rasten – Stillstand und Raserei. Untiefe: bezeichnet die Tiefe und das Flache gleichermaßen. Setzt man Wörter kalkuliert zusammen, auf Wirkung bedacht, geschieht ein weiteres Wunder: Landschaften, Orte und Räume „entstehen“, imaginär zwar, jedoch irgendwie verfügbar. Wie einem Schöpfer. Er kann den Kiosk gegenüber vom Bahnhof „löschen“ und ihn in die Schlossallee setzen. Er kann aufbauen, einreißen, Streit entfachen, Kriege anzetteln und lustige Grillabende veranstalten. Keine Macht außer der eigenen Sterblichkeit vermag ihn zu stoppen. Selbst der Leser nicht, der pikiert die Stirn runzelt: Eine Würstchenbude in der Schlossallee?
Rom ging unter, neue Reiche entstanden, versanken ebenfalls, um anderen Platz zu machen – Schriften und Sprachen blieben. Erst als der Buchdruck aufkam, war es dem Ehrgeiz der Drucker zu verdanken, den Text rasch und leserlich zu gestalten: sie gebrauchten Satzzeichen. Noch sporadisch und ohne Übereinkunft. Bis Luther die Bibel übersetzte und nicht nur Epigonen aufstachelte – die Zahl der Leser erhöhte sich. Und die der Dichter und Schriftsteller. Aber wie dem auch sei: wir landen wieder bei unserem Komponisten. Was ist abstrakter, als mit Abstraktionen, die wiederum aus Abstraktionen entstanden, aus Codes also, irgendwie vergleichbar mit Binärzahlen, Welten zu erschaffen? Eine 1 ist ein Strich mit einem „Bärtchen“, die 0 ähnelt der Pupille. Und doch gelang es mit Hilfe dieser beiden Zahlen Bilder zu fabrizieren – sogar farbige. Auf Fernsehbildschirmen flimmern wahrhaftige Bäume vorbei, und der Mond taucht hinter Wolken auf, verströmt sein fahles Licht. Millionen Menschen können es bekräftigen: Ja, so sieht unsere Welt aus. Hielte man ihnen jedoch ein Schild vor die Nase, auf dem das Wort Mond stünde, wäre die Wirkung weniger spektakulär, aber weitaus beeindruckender. Denn in jedem dieser Gehirne würde wahrscheinlich sein Bild aufflammen. In millionenfachen Varianten: als Scheibe, groß und gelb wie ein Käse, als Sichel: links oder rechts offen, oben oder unten, hinter einem Berg abtauchend, kraftlos hinter Wolken schimmernd, bläulich, weißlich grau … Nehmen wir mal an, die Musik ist aus dem uns innewohnendem Gefühl für Rhythmus entstanden, dirigiert von unserem Pulsschlag und dem Bestreben, uns in Harmonien mit anderen zu verbinden. Dann kann man auch sagen, die Fähigkeit Laute auszustoßen und sie nach und nach verständlicher zu machen, entsprang einer unermesslichen Angst. Übersetzt könnten die ersten Wörter diese gewesen sein: Lauf! Komm! Dort! Schau! Jetzt! – Wir waren Jäger und Gejagte.
Jetzt sind wir Zahnärzte, Mechaniker, Computerspezialisten, Stahlarbeiter und dergleichen mehr. Und wir haben den wundersamen „Apparat“, den wir Sprache nennen, übernommen, ohne uns groß darum zu scheren, wie er geworden ist. Wir reden, kritzeln schnell was auf einen Zettel, schreiben Tagebücher, verfassen Bewerbungen, Kündigungsschreiben, verschicken Briefe, E-Mails und Postkarten. Auf einer solchen könnte stehen: Zum Geburtstag wünsche ich dir alles erdenklich Gute. Viel Kraft für deinen weiteren Lebensweg, und vor allen Dingen Gesundheit! Dein dich liebender usw. Denn es erfordert Konzentration, um unsere wahrhaftigen Gedanken auszudrücken. Auch deshalb gibt es die Floskel: sie signalisiert mitunter unsere Wertschätzung mithilfe von „Bausteinen“, die unser Denken nicht strapazieren. Die Dichter unter den Kartenschreibern drücken sich so aus: Ja, mein Lieber, und wieder ist ein Jahr vergangen. Ich sehe dich noch vor mir: in kurzen Hosen und eine Eistüte in der Rechten – erinnerst du dich? Wir standen in Saßnitz vor der Eisbude und du verzogst das Gesicht. Und unser Vater schimpfte: früher hätte er nicht mal gewusst, was Speiseeis ist. Und jetzt habe er einen Sohn, der meine, das Eis schmecke nach Wasser … Weißt du was, lass dir an deinem Geburtstag ein Eis servieren und denke an unseren toten Vater …
Meine Behauptung: Niemand zieht sich einfach so in ein Loch zurück und macht sich auf den langen Weg, literarische Texte zu verfassen. Der Grund dafür ist, neben der Lesewut, der-hoffentlich- überbordenden Beobachtungsgabe, der möglichen Fähigkeit zu deuten, meistens eine seelische Erschütterung: eine mehr oder weniger große Katastrophe, ein Zwiespalt im Wesen, Unbehagen mit der Gesellschaft oder mit sich selbst. Grass erlebte den Zusammenbruch und litt am Heimatverlust. Thomas Mann vermutlich darunter, dass seine sexuelle Ausrichtung mit seiner Bürgerlichkeit kollidierte. Kafka scheiterte an seinem Vater und an der eigenen Umständlichkeit, Hans Fallada an fast allem gleichzeitig. Die Sucht, die ihn befähigte, in wenigen Wochen einen Roman zu vollenden, trieb ihn auch dazu, sich danach wochenlang zu betrinken. Toll, könnte da einer weinerlich dazwischenrufen, letztens ist mir die Frau durchgebrannt und betrinken kann ich mich allemal – reicht das für ein Gedicht? Es gibt diesen Spruch: Geschichten erlebt nur der, der sie erzählen kann. Und erzählen kann nur jemand, der nicht gleichzeitig weint. Denn wenn hier einer weint oder lacht, dann unbedingt der Leser. Der Vorgang des Niederschreibens hat in der Regel weniger mit Dramatik zu tun; sieht man von der Schreibweise Balzacs ab, dessen Manuskripte heute noch in Paris zu bewundern sind: voller verwischter Kaffeeflecke. Es ist das Kalkül, dass über den Fortgang wacht, dass Formgefühl, dass über allem schwebt; und ist das Tempo auch noch so rasant: die Zügel haben fest in der Hand zu liegen. Oder die Hände bleiben am Lenkrad, wie jeder Dorfpolizist weiß. Schopenhauer verglich das Schreiben mit einer Treibjagd, bei der das Wild zuvor eingefangen und eingepfercht worden ist, um es nachher in Haufen herausströmen zu lassen, in einen anderen umzäunten Raum, wo es dem Jäger nicht entgehen kann. So dass er jetzt bloß mit dem Zielen und Schießen, der Darstellung, zu tun hat.
Heißt das Fazit, Schriftsteller sind lebensuntüchtig? Ein kurzer Seitenblick auf Goethe belehrt uns eines Besseren. Obgleich: was für ein kindlicher Zug, sich als Greis in ein blutjunges Ding zu verlieben. Tolstoi, dieser gestandene Mann? Dennoch wurde er im Alter noch wunderlicher, als seine Ideen. Und als es dem Ende entgegenging, riss er aus. Wie ein Heranwachsender, der seinem Elternhaus entflieht. Aber endlich: Wladimir Nabokov – ein durchtrainierter, großer Bursche, der einem alten russischen Adelsgeschlecht angehörte. Der in Cambridge russische und französische Literatur studierte, um dann später in den USA als Professor für Slawistik Vorlesungen zu halten. Die Revolution hatte ihn wie eine Springflut erwischt, aus seiner Bedeutung geschwemmt, aus seinem Land gespült. In den Taschen nichts weiter als eine Packung Zigaretten und ein besticktes Taschentuch. Ein Pragmatiker hätte in dieser Situation mit seinen Anlagen gepokert. Hochbegabung in Verbindung mit Beziehungen: eine Gelddruckmaschine. Was macht Nabokov? Er kauft sich Zigaretten, schmeißt sich auf sein dürftiges Berliner Lager und liest und schreibt, liest und schreibt. Hin und wieder rafft er sich auf, um sich als Tennislehrer oder Dolmetscher ein dünnes Süppchen zu verdienen. Viel später gab er den in Scharen herbei strömenden Studenten den seltsamen Rat: Sie sollen Bücher nicht nur mit dem Verstand begreifen wollen, sondern auch mit dem Rückenmark lesen. Sich an der Geschichte erfreuen und gleichzeitig verstehen und begreifen, wie sie gemacht wurde. Diese Art zu lesen, so Nabokov sinngemäß, sei ein Genuss, der alle anderen Genüsse übertreffe. Er hatte also beides im Sinn: das Rationale und das Sinnliche. Die „Rinderschädel“, „Priesterbärte“ (deren Artverwandte sich auch im Kyrillischen wiederfinden lassen), aber auch deren „Aufleuchten“, wenn es gelingt, nach Übereinkunft, sie zu trefflichen Wörtern und Sätzen zusammenzufügen. Es gibt nur eine Möglichkeit, die Welt, ihre Zustände und was sie in den Angeln hält zu beschreiben: mit Hilfe dieser winzigen Zeichen (Abstraktionen von Abstraktionen, die wiederum auf Teufel komm raus von etwas abstrahiert wurden), die zusammengesetzt ein Wort ergeben, das, unter Berücksichtigung kultureller Übereinkunft und entsprechender Phoneme, „Mond“ heißen kann. Und kaum ist das Wort ausgesprochen oder steht auf dem Papier, sehen wir „Licht“ fließen: über eine Waldlichtung vielleicht? Bäume werfen lange, gezackte Schatten, im Unterholz knackt es und große Vögel schwingen sich auf, streichen schwerfällig über die Wipfel. Und für Sekunden sieht es so aus, als würden sie die strahlende Himmelscheibe durchmessen. Deren Krater, Täler und „Canyons“ ein Gesicht zu bilden scheinen, von dem Kinder mitunter behaupten, es sei das Antlitz des Mannes, der dort oben wohne.
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