Dec 2011
Wolfgang Müller
Thea Dorn und Richard Wagner, Die deutsche Seele. München: Knaus Verlag, 2011. 560 Seiten
Nach der totalitären Barbarei des Nationalsozialismus ist die Frage nach einer tieferen deutschen Identität in Geschichte und Kultur jahrzehntelang entweder verdrängt oder in der Dimension verkürzt worden. (Richard Wagner in Thea Dorn und Richard Wagner in einem Interview mit dem Tagesspiegel am 9. 11. 2011)
Gesellschaften brauchen als Halt eine untergründige Verbundenheit, die wir einfach mal Seele nennen. (Thea Dorn: Thea Dorn und Richard Wagner in einem Interview mit dem Tagesspiegel am 9. 11. 2011)
Es ist einem merkwürdigen Seelenhaushalt geschuldet, daß man oft wenig beachtet, geschweige denn achtet, was man wie selbstverständlich besitzt, daß einem aber teuer wird, worüber man nicht verfügen kann oder was im Verschwinden begriffen ist. Und so steht es wohl mit den Deutschen, die sich gerade wieder einmal, auf das besinnen, was ihre Identität ausmachen könnte, da sie sich anschicken, nun endgültig zu Europäern und Weltbürgern zu werden, ein Prozeß, der, von den 5-10% Supernationalisten in den braun eingefärbten Gruppierungen und kleinen Parteien einmal abgesehen, nicht nur Hoffnung sondern auch ein wenig Melancholie wenn nicht gar eine Portion “deutscher Angst” hervorruft. Es ist daher nur verständlich, daß das Interesse an der Gesamtgeschichte deutscher Kultur über die 12 Jahre nazistischer Barbarei hinaus, die berechtigterweise in der Literatur nach dem 2. Weltkrieg einen vorderen Platz eingenommen haben und seit Mitte der sechziger Jahre im Geschichtsunterricht an Schulen dominierten, stark zunimmt. Wer waren, wer sind wir, wohin bewegen wir Deutschen uns, das sind Fragen, die nicht mehr nur Intellektuelle bewegt. Kein Wunder dann, daß in den vergangenen 10 – 15 Jahren die Zahl der Ausstellungen, wie etwa die große Ausstellung des Deutschen Historischen Museums im Jahre 1997 “bilder und zeugnisse der deutschen geschichte” oder die zahlreichen Preußenausstellungen sowie Publikationen, deren Spektrum von Tageszeitungen bis zu Büchern reicht, und verschiedenen Fernseh- und Radioendungen zur Integration in den letzten gestiegen ist und Menschen aller Schichten anspricht. Trotzdem läßt sich gerade bei der jüngeren Generation noch immer ein großer Mangel an Kenntnissen über die eigene Geschichte feststellen, vor allem ein Mangel an offenen und versteckten Zusammenhängen von Fakten, die man, wenn man wollte, in “on- und off-line”Lexika nachlesen könnte.
In ihrem Buch Die deutsche Seele geht es Thea Dorn und Richard Wagner in 64 sehr verschiedenen Einzelbeiträgen zu von ihnen alphabetisch geordneten Stichwörtern gerade um diese Zusammenhänge, z. B. die zwischen Abendbrot, Abgrund, Angst, deutscher Musik, Mutterkreuz, Weibern, Wurst und Zerrissenheit, die sie kenntnisreich und teils ironisch gebrochen zum “Klingen” bringen. Dabei sehen sie diese Zusammenhänge, die sie auch als “Seele” begreifen, als ein spezifisch deutsches Lebensgefühl, das in vielen Jahrhunderten durch äußere Gegebenheiten und Leistungen ihrer Könige, Politiker, Generäle, “Dichter und Denker”, Handwerker, Arbeiter und Bauern zu dem geworden ist, was es heute ist. Fast wie nebenbei entstand mit ihrem Buch so eine gut zu lesende Kulturgeschichte deutschen Denkens und Fühlens.
Sehr sympathisch ist, daß die Autoren das Adjektiv “deutsch” in Die deutsche Seele nicht etwa eingeengt politisch und eingezäunt in die jeweiligen deutschen Grenzen sehen. Es geht in Die deutsche Seele nicht um ein geographisch begrenztes oder staatspolitisch eingegrenztes Gebiet etwa die äußeren Grenzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, des Deutschen Bundes oder des vereinten Deutschlands in den Grenzen von 1914, sondern es geht um den Anteil an gemeinsamen Erfahrungen, die bis in andere Teile der Welt hineinreichten, wie auch diese in Hinterpommern, Mecklenburg, Bayern, Kärnten, Pommern usw, ihren Niederschlag fanden. Und es geht in ihem Buch um die relativ neuen Erfahrungen nach dem zweiten Weltkrieg.
Man merkt es den Texten an, es ist viel Nachdenken, Diskussion und Arbeit in sie eingegangen. Die Autoren schürfen und graben tief, um der “deutschen Seele” auf den Grund zu gehen. Kein Wunder, daß einige der längsten Beiträge den Stichwörtern Bergwerk, Bergfilm, Abgrund und Musik, der reinsten Kunstform, gewidmet sind.
Bei diesem gelungenen ambitionierten Unterfangen entsteht so etwas wie ein anregender, unterhaltsamer, intelligenter, ja sogar heiter-ironischer feuilletonistischer Spaziergang durch das Erbe der Kultur-, Politik- und Geistesgeschichte deutschsprachiger Lande, ein Spaziergang auf den die Autoren wohl vor allem jene mitzunehmen hoffen, die oft nur noch den Satz “Das ist mal wieder typisch deutsch” in seiner negativen Konnotation im Ohr haben. Doch ist es weit gefehlt anzunehmen, das es sich bei “Die deutsche Seele” um ein deutschtümelndes Buch handelt. In die Texte Dorns und Wagners ist viel Liebe eingegangen, aber auch einige Ironie und Skepsis, so daß als Fazit bleibt, was Thea Dorn als das Bekenntnis einer Deutschen im letzten Stichwort des Buches, “Zerrissenheit”, schreibt:
Gemütlich ist meine Heimat, trotzdem kan ich es nicht lassen: es zieht mich hinaus in die Ferne. Die Kompaßnadel kreist. Osten, Westen, Norden, Süden, ich bin nach allen Seiten offen. […] In meinen Paß ist mit unsichtbarem Stempel gedruckt: Weltbürger. Wohnhaft in Hinterzarten. […] Laßt mir meine Zerrissenheit. Sie ist das Beste, was ich habe.
Es ist eine Zerrissenheit, in der man sehr wohl seine Heimat zu finden vermag.
Wolfgang Müller
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