Dec 2014
Alexander Kluge
“Glossen” veröffentlicht hier die schriftliche Fassung der Rede Alexander Kluges bei der Verleihung des Heine-Preises in Düsseldorf am 13. Dez. 2014. Die tatsächlich gehaltene Rede, von der eine schriftliche Fassung nicht existiert, stimmt damit weitgehend überein.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
lieber Anselm Kiefer,
liebe Anwesende!
Vor zwei Jahren habe ich für Jürgen Habermas hier die Laudatio gehalten. Jetzt bin ich selber der Preisträger. Die Entscheidung der Jury und auch Deine Rede, lieber Anselm, berühren mich tief. Meine Dankrede gilt Heinrich Heine und der Frage: Was heißt Moderne im 21. Jahrhundert? Wie können wir unsere Erfahrung an Heinrich Heine eichen?
Zunächst ein Wort zu unserem musikalischen Begleitprogramm. Für das Gespräch, das Anselm Kiefer und ich mit unseren beiden Reden hier vor Ihnen führen, ist es keine Nebensache. Ein großer Philosoph hat gesagt: „Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum“. In Anselm Kiefers Bild „Wege der Weltweisheit. Die Hermannsschlacht“ ist in der obersten Reihe Heinrich Heine zu sehen. Drei Plätze daneben Richard Wagner. Deshalb spielt Tobias Koch eines der seltenen Klavierstücke von Richard Wagner, „Ankunft bei den Schwarzen Schwänen“. Der Generalmusikdirektor im Theater meiner Heimatstadt Halberstadt, Johannes Rieger, hat mich auf das Stück aufmerksam gemacht. Dann Rudi Stephan! Bis zu dem Tag, an dem er im 1. Weltkrieg 1915 bei Tarnopol zusammengeschossen wurde, galt Rudi Stephan als eine der herausragenden Begabungen der deutschen Musik. Sein Tod mahnt uns an den Schlund, das Laboratorium bitterer Erfahrung, welches wir den Großen Krieg von 14-18 nennen. Wir können diese Erfahrung nicht genug memorieren, wenn wir an die neuen Konflikte in der Ukraine denken. Darauf bezieht sich das Lied der Maria aus Tschaikowskis “MAZEPPA”. Der Stoff zu dieser Oper stammt von Lord Byron und Alexander Puschkin. Heine und diese beiden Poeten bilden ein Dreigestirn. In “MAZEPPA” geht es um eine Tragödie der Unverträglichkeit in der Ukraine. Ein ukrainischer Herrschersohn, zu Gast am polnischen Hof, verführt dort Frauen. Von deren Ehemännern wird er auf ein Pferd genagelt, das mit dem nackten Prinzen, zum Wahnsinn gebracht durch Schmerz der Nägel, zum Dnjpr galoppiert und dort tot niedersinkt. Der Prinz aber wird Hetmann der Ukraine. Kaum an der Macht überwirft er sich mit allen Anderen und bringt einige um. Er verbündet sich mit dem Westen, mit der Armee des Schwedenkönigs Karl XII. In der Schlacht von Poltawa schlägt Zar Peter der Große beide aufs Haupt. Die einzige Frau, die Mazeppa wirklich liebte, verfällt dem Wahnsinn. Ihr Lied am Ende der Oper bleibt als einziger Trost.
„Jede Zeit ist eine Sphinx,
die sich in den Abgrund stürzt
sobald man ihr Rätsel gelöst hat.“
(Heinrich Heine)
Heinrich Heine ist luzide. Er ist Öffentlichkeitsmacher. Er ist publizistischer Architekt seiner Epoche. Er ist aber auch Dichter von Dunklen, verschlossenen Farben, verdichteter Erfahrung, die keine Marktgängigkeit besitzt und die notwendig zur Orientierung unserer Seelen gehört. Das entspricht dem Begriff des Kritischen und der Romantik, einer KRITISCHEN ROMANTIK. Heine ist angetan vom Fortschritt, von Revolution und Freiheit, von Industrie, Telegrafie und den Eisenbahnen. Das, was Walter Benjamin in seinem Passagenwerk an Phänomenen aufführt, von Paris als der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, über den Bürgerkönig Louis Philippe bis zur frühen Fotografie, zum Eisen, Salon, Mode, Weltausstellung und der Utopie der „Quatre Mouvements“ des Charles Fourier spiegelt auch die Lebenswelt Heinrich Heines. Stellen wir uns diesen Poeten vor. Er ist eine Art Messgerät, eine Sonde, er misst seine Zeit. Er ist auf unserem Planeten gelandet, wie jene filigrane Raumsonde, die kürzlich auf einem Planeten auf der Suche nach der Urzeit unseres Sonnensystems landete, in Schräglage, und Daten funkte bis die Batterie leer war. So etwas nenne ich Empfindsamkeit. Alfred Döblin beschreibt Heine so: „Er war kein Krokodil oder eine Schildkröte mit Panzer, sondern ein Mensch mit weicher, reizbarer, empfindender Haut. Die Epidermis trennt nicht nur, sondern verbindet.“
Heine hat in jeder Moderne seinen Sitz. Die Verbindung von Romantik und energiereicher Kritik schlägt die Brücke zwischen Caspar David Friedrich und der Frankfurter Kritischen Theorie, zu der ich mich bekenne. Zwischen den Zeiten: der Abgrund. Ich kenne keinen tieferen als den der 30er und 40er Jahre des 20. JH in unserem Lande. Wenn wir unsere Erfahrungen mit denen Heines eichen wollen, müssen wir in den Zeiten springen. Zu zweit, lieber Anselm, springt es sich deutlich entspannter und besser.
„Abgrund glänzt zu meinen Füßen —
nimm mich auf, uralte Nacht“
Als Karl Marx geboren wird, ist Heinrich Heine gerade volljährig. Als Richard Wagner geboren wird, ist er 16 Jahre alt. Als Heinrich von Kleist seine BERLINER ABENDBLÄTTER 1810 bis 1811 herausgibt — jeden Abend wird dieses journalistisch-poetische Produkt auf den Straßen in Berlin-Mitte verkauft — ist Heinrich Heine gerade einmal 13 Jahre alt (so alt wie ich 1945). Die BERLINER ABENDBLÄTTER sind mein Idol. Kleist verknüpft hier Nachrichten und Poetik auf dichteste Weise. Der Leitsatz dieses ungewöhnlichen Literaturformats heißt: „Erlöst die Nachrichten von der menschlichen Gleichgültigkeit“.
Als Napoleon nach St. Helena verschleppt wird, das jährt sich 2015 zum 100. Mal, beobachtet Heinrich Heine das als 18-jähriger Zeitgeist. Von 1821 bis 1829 dann der Aufstand der Griechen gegen die Osmanische Herrschaft. Von der europäischen Presse angeheizt, von Dichtern wie Lord Byron poetisch und hoch zu Ross auf dem Pelepones beflügelt (er stirbt daran), ähnlich wirr in den Zielen und Ergebnissen wie die Einsätze 2013 in Libyen für die Freiheit gegen Gaddafi. Man muss das mit Heines Augen betrachten.
Die Nachricht von der Revolution in Frankreich erreicht Heine auf Helgoland. Spätestens von diesem Zeitpunkt fühlt er sich als Patriot zweier Länder (immer kritisch ihnen gegenüber), nämlich Deutschland und Frankreich. Vor wenigen Wochen hielt der Heine-Preisträger Jürgen Habermas im Heinrich-Heine-Institut Paris eine aufsehenerregende Rede: Über die Zukunft Europas und die Notwendigkeit, sich an einer doppelten Souveränität, einer europäischen und einer nationalen, gleichzeitig zu orientieren. Wir sind als Europäer nicht weniger national, und das bloß Nationale war immer schon ein peinigendes und enges Korsett. Das ist der Blick Heines, wenn er sagt: „Ich bin der inkarnierte Kosmopolitanismus“. Er ist eingefleischter Weltbürger und Liebhaber zweier Länder, über den Rhein hinweg.
„Wo wird einst des Wandermüden
letzte Ruhestätte sein?
Unter Linden an dem Rhein.
Und als Totenlampen schweben
nachts die Sterne über mir.“
Diese Verse stellt sich Heine als seine Grabinschrift vor. In den drei Jahren vor seinem Tod, mit schwerer Krankheit, die ihn unbeweglich auf die Matratze bannt, tobt 1853-1856 der Krim-Krieg. Die Namen Sewastopol und Krim haben für uns eine zeitgenössische Konnotation. Es lohnt sich, mit Heines witzerfülltem Auge den Koalitionskrieg des damaligen Westens zu betrachten: England, das theatralische Weltausstellungs-Frankreich Napoleon III., Piemont-Sardinien, also das Embryo Italiens und das Osmanische Reich gegen das Russland des Zaren. Das ist der erste moderne Krieg. Anders noch als in den napoleonischen Kriegen ist eine Massenpresse Garant der Kriegsverlängerung. Neue Erfindungen wie die frühe Fotografie, es ist Kriegsfotografie, die Telegrafie (noch in der Schlacht von Waterloo befindet sich die Brieftaube Rothschilds an deren Stelle!). Karl Marx hat in einer New Yorker Zeitung Tag für Tag über diesen Krieg berichtet. Er beschreibt, wie zaristische Staatsanleihen über die Bankhäuser in Hamburg, Wien und London die Börse anfachen. Diese Anleihen gewährleisten die russische Rüstung. Der Boom, befeuert durch die hohen Zinsen der russischen Papiere, finanziert die Rüstungen der Alliierten gegen Russland. Diese ersten Schritte zur Globalisierung der Kriegskosten wird Heine in seiner Gruft genauso beurteilt haben wie Marx. Der ältere Heine und der junge Spund Marx stehen im Dialog. Heines Lied von den Schlesischen Webern, „Deutschland, wir weben Dein Leichentuch“, wird 1844 in Marxens VORWÄRTS publiziert. Die Präzision des politischen Blicks der beiden, mikroskopisch, teleskopisch, ist auf die Elementarteilchen der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet. Sie sind erste Teilchenbeschleuniger. Das macht sie zu Verwandten. Ich wünschte mir zweierlei: als „tools of orientation“, Werkzeuge adäquater Übersicht, dass auch Marx Dichtungen geschrieben hätte (neben der Analyse der Ware und des Kapitals auch eine Analyse der Arbeitskraft) und dass umgekehrt Heine, seine publizistischen und poetischen Beobachtungen der Zeit zu einer Gesellschaftstheorie ausgebaut hätte, so wie er es in „Die Romantische Schule“ für Deutschland begonnen hat. Dazu wären Formate nötig, die nicht bloß Bücher, aber auch nicht bloß Zeitungsartikel sind. Heine hätte DIE FACKEL von Karl Kraus ebenso vorausnehmen wie er Heinrich von Kleists BERLINER ABENDBLÄTTER hätte fortsetzen können.
„Die Utopie wird immer besser, während wir auf sie warten“
Sie beruht darauf, dass die Poeten, die geistigen Macher aller Zeiten, wechselseitig ihre Arbeit fortsetzen, Kontinuitäten schaffen. Als die Reformation vor im nächsten Jahr 500 Jahren die Kirchen von Bildern und zunächst auch von Musik leerfegte, suchte die Gegenreformation auf dem Konzil von Trient anschließend ihrerseits protestantisch zu werden. Es stand zur Entscheidung, ob die mächtige figurative Musik des Mittelalters verboten gehört. Ein einzelner Kardinal, Borromeo, machte diese Entscheidung abhängig davon, dass das Musterstück einer Messe neu komponiert würde, ein letzter Versuch, die Kunst zu erhalten. Palästrina wurde mit der Komposition beauftragt. Dies war das Nadelöhr, dem wir später die “Hohe Messe in H-Moll”, Mozarts “Requiem”, das ist Polyphonie, verdanken. In der Oper PALÄSTRINA, die Hans Pfitzner über dieses Ereignis schrieb, treten die alten Meister in der Nacht zu dem sich verzweifelt bemühenden Komponisten heran, geben ihm die Töne ein. Auch himmlische Geister, und ich meine auch Alchemisten und Sterndeuter gesehen zu haben, bewerkstelligen diese Bahnung, die den Reichtum der Musik gegen ihre Zerstörer verteidigt. Am Ende sagt Palästrina: „Gott, mach mich zum letzten Stein in Deiner langen Kette“. Auf dem Gebiet der Kunst bilden wir alle, ob wir nun eine geringere oder eine höhere Anmutung des Geistes haben, solche Ketten. Und diese Ketten zeigen — anders als der Pessimist Hans Pfitzner meint — kein Ende, sondern sie sind Anfänge.
Eigentlich wollten Anselm Kiefer und ich Ihnen das alles nicht in Form von Reden, sondern als ein Gespräch vorführen. Dann warst Du, Anselm, zu Deiner eigenen Verblüffung über Nacht mit einem langen Text fertig. Aber auch das, was wir in Form von Reden hier betreiben, bleibt Gespräch, Glied in einer langen Kette.
Solche Ketten sind nicht linear. Sie haben eine vertikale Struktur, wie Echolote. Nicht die Erdoberfläche, sondern das Grundwasser fließt. Man muss sich auch das Labyrinth nicht, behauptet Arno Schmidt, in Aufsicht, wie auf dem Fussboden mancher Kathedralen vorstellen (dann würde man sich im Labyrinth kaum verirren und es wäre kein Abgrund). Vielmehr besteht das Labyrinth aus Katakomben. In ihnen ist es tatsächlich Dunkel, es lebt dort ein Monstrum. Vielleicht ist es aber keines. Vielleicht sind wir, die Eindringlinge, das Monster, und der Minotaurus ist ein Lebewesen, auf dessen Rücken wir siedeln und mit dem wir uns verbünden sollten. Was ist in diesem Kontext der Faden der Ariadne? Ein aus Liebe geknüpftes Geflecht? Liebe macht blind, sagt man. Liebe macht hellsichtig, wäre Heinrich Heines Antwort.
Man kann auf jedes spirituelle Konzentrat, jeden poetischen Moment, auf ein Bild, eine starke Musik, einen Text, der Sogwirkung besitzt, die Moderne gründen. Gleich aus welcher Zeit der „kairos“, der geglückte Augenblick, stammt. Das ist der Begriff der Moderne. Sie ist keine Avantgarde, nur vorn, sie ist keine Nachhut, die gegenüber der Barbarei verteidigt, sondern in allen Zeiten präsent. Auf Caspar David Friedrich baut sie genauso wie auf einen einzelnen Satz von Elfriede Jelinek oder Friederike Mairöcker. Auf ein Bild von Anselm Kiefer oder Gerhard Richter, auf einen Einfall von John Cage genauso wie auf einen Vers von Heinrich Heine. Die Poetik hat eine Kugelgestalt. Die darauf gegründete Kunst ist kein Stil, sondern folgt einer elementaren Voraussetzung der Poetik. Montage, Zerreißung und zugleich Zusammenhang! Das zum Begriff der Realität, Anselm, von dem Du gesprochen hast. Das, was abgebildet wird, ist nie das Gleiche wie das Abgebildete. Deshalb nicht, weil die Realität selbst Kugelgestalt hat. Das, was wir Aktualität, Gegenwart oder umgangssprachlich als „wirklich“ bezeichnen, ist davon nicht einmal ein Abglanz, sondern eine Verkürzung. Der besten “Tagesschau”, der besten “Heute-Sendung” fehlt eben die Musik, die für den blinden Sänger Homer bei der Überbringung von Nachrichten eine Selbstverständlichkeit war.
„Viel tausend Sterne schauen
sehnsüchtig, glänzend, klug.“
Du hast vorhin einen Wissenschaftler im CERN zitiert, lieber Anselm, dass „wir Menschen älter sind als die Erde“. Das ist wahr, das gilt für unsere Augen, Glieder und Seelen. Dass wir so alt sind, das ist die Sichtweise der Poetik. Zugleich sind wir jung. Ich habe das empfunden, als Hermann Parzinger vor einigen Wochen sein Mammut-Werk DIE GESCHICHTE DES MENSCHEN VOR ERFINDUNG DER SCHRIFT öffentlich vorstellte. Diese Zeitmaße unserer Vorfahren sind kürzer als die Zeiten, in denen die Teilchenbeschleuniger des CERN im Kleinen forschen und die das Hubble-Teleskop im Großen beobachtet. Das wären etwas mehr als 14 Milliarden Jahre. Wir Menschen blicken auf die kurze Strecke von nur 5 Millionen Jahren zurück, wenn wir die Direkten Vorfahren suchen. Und die liebenswürdige, nur wenig über ein Meter große Lucy in Äthiopien, ist 2,5 Millionen Jahre alt. Und dann gibt es ein plötzliches Ereignis etwa 800.000 Jahre vor heute. „Plötzlich“ das heißt binnen 1000 Jahren, in der Alchemistenwerkstatt der Evolution ein kurzer Zeitraum, wird das Feuer gezähmt. Die Menschen haben das gleiche Gehirn wie wir. Die Welt ist nachts Dunkel. Wenn es nicht irgendwo brennt im Wald und man fliehen muss, gibt es nirgends Licht. Jetzt aber, in den Höhlen und überdachten Felsvorsprüngen, lässt sich abends das Feuer anfachen. Es ist nicht allein dafür da, Fleisch zu kochen oder Menschen zu wärmen. Es ist der Versammlungsort. Der Mensch wird nackt geboren. Er hat keine Beißwerkzeuge, die ihn auf natürliche Weise zum Raubtier machen, aber er hat die Fähigkeit zu kommunizieren und zu kooperieren. Diese Vorfahren von uns, um die Feuerstelle gruppiert, beginnen zu erzählen. Das ist der Beginn der Poetik, der Politik und der Gemeinwesen. Weil unser Selbstbewusstsein in diesem Zirkel ums Feuer entstand (und vielleicht außerdem am Tage, wie Rousseau sagt, um manchen Brunnen), gibt es den elementaren Unterschied zwischen nackter Information und Erzählen.
„Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat
ist die der Bücher die Gewaltigste.“
Du hast mir, lieber Anselm, einen Satz in der Tradition der Vorsokratiker zugeschrieben: „Je wahrscheinlicher einem etwas vorkommt, desto misstrauischer sollte man werden“. Das habe ich nie gesagt, aber es trifft den Kern dessen, was ich denke. Ich höre lautstark aus Lemberg und aus der Nähe von Charkow: Kriegsgeräusch, Reibung, Knirschen. Darüber wird berichtet. Von anderen Minenfeldern des Planeten höre ich nichts. Mir ist die Stille dort noch unheimlicher als der Lärm der offenkundigen Krisen. Das Unbeachtete marschiert getrennt und schlägt vereint zu. Wie es Heine sagt:
„Nichts ist stiller als eine geladene Kanone.“
Du stellst in Deiner Laudation die alte Frage aus dem UNIVERSALIENSTREIT der Scholastik. Was war zuerst, die Begriffe oder die Dinge? Das Selbstbewusstsein der Menschen oder ihre Ohnmacht? In dieser Frage, sagst Du, sei ich kein NOMINALIST, aber auch kein REALIST. Ich möchte Dir das bestätigen an dem Beispiel, dass Du anführst, von den BOMBENENTSCHÄRFERN IM LUFTSCHUTZKELLER. Das sind erfahrene Klempner, selbstbewusste Fachleute. Sie schrauben jede Bombe auseinander, wenn sie als Blindgänger am Boden liegt. Im Moment aber, sind sie dem Bombengeschwader oben ausgeliefert, dass seine Bombenschächte über der Stadt entleert. Hier weht kein Weltgeist, sondern die Dinge schlagen zu. Die Macht der Dinge (das Geschwader, die Bombe) und die Ohnmacht der Menschen (die Lage der Kellerinsassen) bilden eine ANTAGONISTISCHE REALITÄT. Alle diese Elemente sind keine Nomina und sie sind keine Realia. Sie sind ein Widerspruchszusammenhang. Wir Menschen sind deshalb nicht ohnmächtig. Der von Dir genannte SPINOZA warnt uns vor den melancholischen Gefühlen. Die „Affekte“ (wir würden heute sagen Motivationen) sind dann vertrauenswürdig, sagt Spinoza, wenn mein „Conatus“, nämlich die Intensität aller Wünsche und meine Sensibilität für den glücklichen Moment, die Hauptsache bilden. Bei Heine, der zu Spinoza eine starke Affinität empfand, heißt das so:
„Größer als die Pyramiden,
als alle Wälder und Meere,
ist das menschliche Herz.“
Ein Bombenkrieg von 1945 ist für Menschen kein unabänderliches Verhängnis. Du nennst in Deiner Laudation als Beispiel die 70.000 Lehrer, die sich im Jahre 1918 gegen den kommenden Hitler hätten zusammenschließen können, um ihn zu verhindern. Begriffe und Dinge sind gleichzeitig. Aber das, was wir Menschen im rechten Augenblick hinzufügen, macht sie änderbar und dynamisch, oder wie Du es in Deinen Bildern nennst, lieber Anselm: alchemistisch.
In einem Film der 70er Jahre steht der Großaffe KingKong auf den Twin Towers und verteidigt das, was er liebt, die weiße Frau, die in seiner Pranke Platz findet. Mit der anderen Hand greift er Regierungsflugzeuge und zerschmettert sie. Er will das Unheil vom Liebsten, was er hat, dieser Frau, abwehren. Ist das ein realistisches Bild? Ist es phantastisch? Ich glaube, und ich nehme an, dass Du, Anselm, mir zustimmst, es ist ein wahres Bild.
Ich sehe in unserem Dialog heute Vormittag Heinrich Heine hier anwesend als einen Mann der Gegenwart. Ich bin interessiert, wie er — und vom Elysium aus kann er das ja jederzeit tun — unsere Weltverhältnisse im Jahre 2014/2015 beurteilt. Ich glaube, er würde nicht diskursiv antworten. Er würde anfangen zu arbeiten, zu dichten. Inzwischen können wir selbst, indem wir uns in das Jahr 1856, sein Todesjahr, und in das Jahr 1797, sein Geburtsjahr hineinversetzen (wenn er nicht in der Silvesternacht von 1799 auf 1800 geboren wurde, wie er behauptet). Wir können mit seiner Schubkraft und stellvertretend für ihn, unsere Sinne schärfen und unsererseits poetisch, malerisch oder bildhauerisch seine Texte fortsetzen. Jedes Gramm, was die Poetik in die Waagschale legt, kann, so unser vermessener Glaube, Zentner von irre werdender Realität oder die Erde umkreisender Zufallswolken aufwiegen. In diesem Aberglauben, von dem wir aber leben, arbeitet die moderne Poetik. Dies entspricht der rebellischen Kraft in uns Menschen, dem Antirealismus des Gefühls. Die Wahrscheinlichkeiten des Herzens haben mehr Gravitation als die der Statistik. Hätten nicht unsere Vorfahren an den frühen Feuerplätzen diese Art des Denkens und Meinens erfunden, stünden Anselm Kiefer und ich nicht vor Ihnen, wären wir alle an diesem Vormittag hier nicht versammelt. Alles Denken und Fühlen ist alt und sehr jung. Es gehört zu den Engeln, die uns begleiten.
Ich danke für Ihre Geduld.
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