Dec 2014

Gabriele Eckart

Im deutschen Fadenkreuz der jüdischen Selbstfindung — Vorwort zu Gabriele Eckarts Interview mit der Schriftstellerin Irina Liebmann

 Die deutsch-jüdische Wahlverwandtschaft, von der Heinrich Heine einst in seinem Pariser Exil geträumt hatte, war im Dritten Reich zu einer deutsch-jüdischen Qualverwandtschaft geworden und hatte sich zum real-surrealen Alptraum Europas ausgewachsen, dessen post-traumatische Symptome auch heute noch so manche Lebensgeschichte auf nachhaltige Weise prägen. Jüngstes Beispiel dafür ist ein Interview, das Gabriele Eckart mit Irina Liebmann führte. Beide sind sie in der Deutschen Demokratischen Republik aufgewachsen und haben sich bereits früh als Schriftstellerinnen profiliert. Während Eckart 1987 in die Bundesrepublik überwechselte und schon ein Jahr später in die Vereinigten Staaten auswanderte, ist Liebmann in Deutschland geblieben und lebt heute in Berlin.

Gabriele Eckart befragt in ihrem Interview mehrfach Irina Liebmann nach ihrer jüdischen Identität, wobei letztere wiederholt zwiespältig antwortet. Einerseits assoziiert Liebmann in einem ihrer Bücher ihr kritisches Bewusstsein mit ihrem „jüdische[n] Widerspruchsgeist“, und auf die Frage nach ihrer Haltung in gewissen Dingen antwortet sie: “Da bin ich dann durchaus die Tochter einer deutschen Familie preußischer Juden aus Oberschlesien und einer russischen Intellektuellenfamilie aus der Sowjetunion – aufgewachsen in der DDR.“ Andererseits reagiert sie mehrfach ungehalten auf Fragen nach ihrer jüdischen Identität. So meint sie zum Beispiel an einer Stelle: „Diese Fokussierung auf das ‚Jüdische“ empfinde ich als ideologisch. Nein, ich verzichte auf Völkerpsychologie.“ Am bezeichnendsten ist wohl ihre folgende Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft: „Halbrussin – Halbjüdin, darf man mal wissen, bis wohin die Hälften reichen? Natürlich beeinflusst meine Herkunft meinen Blick, da lege ich auch großen Wert darauf, aber für die konkrete Situation mitten in Deutschland, Europa, Berlin sensibel zu sein, hat wenig mit Blut- und Identitätsgewurstel zu tun.“

Für diese explizite, wenn nicht gar sarkastische Abwehr gibt es zweifellos historische und mentalitätsgeschichtliche Gründe. Der mehr oder weniger unterschwellige Antisemitismus der DDR war ein dumpfer, abgründiger Nachhall des stalinistischen und vor allem nationalsozialistischen Antisemitismus. Irina Liebmanns zwiespältiges Verhältnis zu ihrer halbjüdischen Herkunft hat sicherlich viel mit der Gewaltherrschaft dieser beiden totalitären Staatssysteme zu tun und dem langen, geschichtlichen Schatten, den sie auf die Nachgeborenen werfen. Einerseits fühlte sie sich vor dem Fall der Berliner Mauer wohl eher zur Vertuschung ihrer jüdischen Herkunft genötigt, andrerseits fand sie sich nach dem Fall der Mauer in einer Lage, die eine Wiederentdeckung ihrer jüdischen Herkunft geradezu ermutigte. Der Philosemitismus der sogenannten Gutmenschen jener deutschen Wendejahre war ein nicht unwesentlicher Teil ihres Zeitgeistes. Und nicht zuletzt war es vor allem die damalige, kontinuierliche Einwanderung russischer Juden ins wiedervereinigte Deutschland, welche die jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik auf erstaunliche Weise neu belebte und ein neues Bewusstsein für die jüdische Kultur mit sich brachte. Von dem erstaunlichen Boom der deutschen Klezmermusik, die Berlin für Jahre zur internationalen Hauptstadt der jiddischen Volksmusik machte, hier einmal ganz zu schweigen. Wie man es auch drehen und wenden mag, das gelebte, jahrtausendealte Judentum mit seinen reichen, mannigfaltigen Kulturtraditionen ist weitaus mehr als ein biologisch-ideologisches Konstrukt der totalitären Moderne.

„Sie muss den Faden finden“, so bezeichnet Liebmann die Aufgabe ihrer Protagonistin in ihrem Roman Freie Frauen und meint damit die Suche ihrer Heldin nach ihrem verlorenen Sohn. Auch Liebmann identifiziert sich mit dieser Suche nach menschlichen Beziehungen und verwandtschaftlichen Zusammenhängen, wenn sie sagt: „Wir müssen den Faden finden … Alles ist zerschnitten, verworren, verdreht, und meine Aufgabe ist es, den Faden wieder zu finden. Lebensfaden. Aufwickeln.“ Das Gespinst der Lebensfäden, die Gespenster der verfolgten und verlorenen Verwandten, all dies erinnert Eckart an die schwarzromantische Spukliteratur in der Tradition E.T.A. Hoffmanns. Dieselbe Gespensterwelt beschwört auch die Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger in ihrer Bestseller -Autobiografie Weiterleben. Eine Jugend herauf, und auch Irina Liebmann assoziiert das zerrissene Netzwerk ihrer Lebens- und Familiengeschichte mit dieser dunklen Spukwelt des heimatlich Unheimlichen.

Im Gegensatz zur deutsch-jüdischen Schauergeschichte der Alten Welt zeigt sich die jüdisch-amerikanische Lebenserfahrung in der Neuen Welt in einem ganz anderen Licht. Die uralten stereotypischen Vorstellungen von jüdischem Witz und jüdischer Weisheit finden sich in Amerikas zahlreichen jüdischen Wissenschaftlern und Nobelpreisträgern sowie in den vielen Erfolgsgeschichten jüdischer Unterhalter und Schauspieler vom Broadway bis nach Hollywood immer wieder von neuem bestätigt. Diese Tatsache wird von der breiten amerikanischen Öffentlichkeit weder biologisch noch ideologisch kommentiert, sondern mehr oder weniger als selbstverständlich zur Kenntnis genommen. Schon seit langem feiert dieses Land seine Berühmtheiten, angefangen von Groucho Marx bis Albert Einstein, um nur zwei ikonische Beispiele zu nennen, für ihre jüdische Komik und Genialität.

Was die ethnische Identität betrifft, so ist in der Neuen Welt das Modell des Schmelztiegels längst dem Vorbild der Salatschüssel gewichen, die in ihrem bunten Mischmasch die multikulturelle Vielfalt ihrer Bevölkerung anschaulich versinnbildlicht. Seit dem nachhaltigen gesellschaftlichen Wandlungsprozess der siebziger Jahre stehen Parolen wie „Gay Pride“ und „Black is Beautiful“ für die fortschreitende Emanzipation von Minderheiten, die jahrhundertelang verachtet, unterdrückt und verfolgt worden waren. Ein Paradebeispiel dafür ist die flamboyante Sängerin und Schauspielerin Cher, die sich selbstbewusst als „part Armenian, part Cherokee“ identifiziert. Anders gewendet, das einstige amerikanische Ideal des WASP (White Anglo-Saxon Protestant) hat längst seine Allgemeingültigkeit verloren. Mel Brooks, einer der bekanntesten jüdischen Schauspieler und Filmregisseure, hat dieses neue Selbstbewusstsein von gesellschaftlichen Minderheiten, diese cross-cultural montage diverser Traditionen und Konventionen, wohl am treffendsten auf den Nenner gebracht, wenn er einmal sinngemäß meinte, dass es ohne Juden und Schwule keinen Broadway und kein Show Business gäbe.

Die deutsche Kulturgeschichte kann auf eine noch weitaus längere, kreative Symbiose deutsch-jüdischer Dichter, Denker und Künstler zurückblicken, angefangen von Heine über Kafka und Freud bis zu Kurt Weill, den Comedian Harmonists sowie zahlreichen anderen deutsch-jüdischen Künstlern der Weimarer Republik und nicht zuletzt den kritischen Vordenkern der Frankfurter Schule. Am Ende der Weimarer Republik war ein ganzes Drittel der deutschen Nobelpreisträger jüdischer Abstammung. Es ist fürwahr eine illustre Galerie von Geistesköpfen, ehe diese Vorbilder der deutschen Kultur im Dritten Reich zu Zielscheiben des Spottes wurden und das jüdische Volk insgesamt einer Ächtung, Verfolgung und grenzenlosen Vernichtung ausgesetzt war, deren abgründiges Ausmaß jeglicher Beschreibung spottet.

Lebensfaden“ und „Völkerpsychologie“: Das unzweideutige Bekenntnis zur eigenen Herkunft, den berechtigten Stolz auf die einzigartigen Leistungen seines eigenen Volkes – jahrtausendelanger Verfolgung zum Trotz – mit dem faschistischen Rassenwahn in Verbindung zu bringen und als Altlast seiner mörderischen Ideologie abzutun – wäre das nicht der endgültige Sieg des Dritten Reiches über die letzten Überlebenden seiner „Endlösung“?!

Frederick A. Lubich

 

“Wir müssen den Faden finden”: Ein Gespräch mit Irina Liebmann

1. Ich mag dein Buch Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt, für den du 2008 den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen hast. Deiner Lesart nach war Herrnstadt der kommunistische Phantast im Kampf gegen Ulbricht und seine Hausmacht, die eiskalte Machtpolitiker waren, Paranoiker. Ich musste beim Lesen an Cervantes’ Don Quichotte denken, mein Lieblingsheld in der Literatur: dein Vater ein Ritter, der gegen Windmühlenflügel kämpft und zerschmettert wird, so siehst du ihn. War Dir die Ähnlichkeit Deines Vaters mit Don Quichotte beim Schreiben bewusst?

I.L: Der Kampf gegen den deutschen Faschismus war zu keiner Zeit eine Donquichotterie. Auch wenn viele Menschen dabei oft so herzzerreißend schlecht ausgestattet waren wie der spanische Junker. Und es waren eben Krieg und deutscher Faschismus, die das Handeln meines Vaters bestimmt haben. Der Erste Weltkrieg beherrschte seine Jugend, der Aufstieg des Faschismus und der Zweite Weltkrieg beherrschten seine späteren Lebensjahre.
Auch die heute als absurd empfundene Absicht, auf den Trümmern des verlorenen Krieges ein ganz neues und besseres Deutschland aufzubauen, ist nur aus dieser Vorgeschichte zu verstehen.
Dass dieses vermeintlich bessere Deutschland von einem Unterdrückungssystem aus der Wiege gehoben wurde und bald auch nach seinem Bilde geformt, liegt daran, daß es eben vor allem die von Kommunisten geführte Sowjetunion war, die das Hitlerregime zerstört hatte, was die Kommunisten weltweit in ihrem Geschichtsbild erst einmal bestätigte. Ohne die Sowjetunion hätten die deutschen Kommunisten sich über ein neues, linkes Deutschland gar keine Gedanken zu machen brauchen.
Als einen Don Quichotte sehe ich meinen Vater eher in seinen letzten Jahren im Apparat der SED, das sind acht Jahre. Nur die idealistische Verklärung des wirklichen Zustands der Sowjetunion und eine völlige Unterschätzung dessen, wie Apparate funktionieren, konnte ihn, einen individualistischen Intellektuellen, dazu verführen, sich da zum Ratgeber und Weltverbesserer aufzuschwingen.

 

2. Die ersten sowjetischen Kulturoffiziere, die 1945 nach Berlin kamen, waren in deinen Augen ähnliche Phantasten; sie wurden dann rasch abgelöst von den Apparatschiks; du benutzt den Ausdruck “Ritter aus Absurdistan” für diese Kulturoffiziere – glaubst du, der Ausdruck würde auch auf deinen Vater passen?

IL: Ich betrachte die sowjetischen Kulturoffiziere für die erste Zeit ihres Wirkens gar nicht als Phantasten. Da waren sie noch für eine kurze Zeit getragen von der Hoffnung, nach den Opfern des Krieges würde es in der Sowjetunion eine gesellschaftliche Erneuerung geben. Das wurde damals dort allgemein erwartet. Die „Begegnung an der Elbe“ zwischen sowjetischen und amerikanischen Soldaten schien außerdem ein neues Zeitalter der Freundschaft und Verbrüderung zu eröffnen. Sie lebten in einer ganz neuen, zerbrechlichen Realität: Hitler kaputt – Alliierte verbrüdert – dem deutschen Volk wird jetzt geholfen mit humanistischen Werten. Zumal sie hier in Deutschland Freiheiten bekamen, die sie in der Sowjetunion nicht gehabt hatten. Nicht deswegen nenne ich sie „Ritter aus Absurdistan“, sondern, weil ihre Botschaft in ihrem Hinterland auch in der neuen Situation nach Kriegsende nicht Realität wurde. So ergibt sich der Eindruck imaginärer Ritter. Und doch ist ja auch Don Quichottes Botschaft unsterblich geblieben. Und er hat das gewusst.

Übrigens wird es uns vielleicht schon bald ähnlich ergehen. Denn wie damals, im Jahr 1947, fällt auch jetzt gerade zwischen Ost und West wieder ein Vorhang, und hier wie dort könnte es sein, dass man Menschen wie uns, die 1989 an ein neues und besseres Kapitel der Ost-West- Beziehungen glaubten, für Phantasten hält.

 

3. Was mir gefällt, ist, du schreibst an gegen beides: gegen die Verurteilung deines Vaters in der DDR zu einem Parteifeind und gegen seine Reduktion im Westfernsehen auf einen Parteijournalisten – du führst einen Zweifrontenkrieg und forderst ein differenziertes Bild, das deinem Vater als Mensch gerecht wird. War das dir so von Anfang an beim Schreiben des Buchs bewusst oder ergab es sich erst beim Recherchieren?

I.L: Dieser „Zweifrontenkrieg“ war mir von Anfang an bewusst. Aber ich bin nicht die Einzige, die inzwischen feststellen muss, dass das Bemühen um eine differenzierte Sicht auf unsere Geschichte bisher vollkommen erfolglos war. Der Kalte Krieg hat in Wirklichkeit nie aufgehört. Neuerdings denke ich so. Nur so gesehen wird verständlich, warum unsere Zeitgeschichtsschreibung aus der Schwarz-Weiß-Malerei nicht herauskommt.

 

4. Du betonst, dass dein Vater ein gläubiger Mann war, gläubig an die sogenannte “Sache” – das erinnerte mich beim Lesen an die Geschichte der katholischen Kirche, die Parteireinigungen mit all den Toten erinnerten mich an die Inquisition. Stalin war der neue große Inquisitor, viele seiner Opfer, wie du zeigst, waren Juden – wie damals in Spanien ja auch. Siehst du auch den Kommunismus aus dem Abstand der Jahre als eine Religion?

I.L: Ja. Der Kommunismus als Instrument der Machtergreifung und Machterhaltung in patriarchalen Gesellschaften hat Züge einer Religion entwickelt. Das ist inzwischen vielfach untersucht. Als Idealvorstellung eines friedlichen Zusammenlebens von Menschen auf der Grundlage von gemeinschaftlich verwaltetem Eigentum gehört er zu den alten Menschheitsträumen.
In matriarchalen Gesellschaften waren und sind Lebensvorstellungen, die wir als kommunistisch bezeichnen, selbstverständlich. Da fehlen dann natürlich alle Verwaltungs- und Wissenschaftsaspekte der Moderne.

 

5. Ich mag an allen deinen Büchern, dass du so interkulturell bist: manche deiner Texte spielen in Transiträumen, in Polen, in Russland. Du sprichst Russisch, bist als Deutsche Halbrussin und auch Halbjüdin; obwohl dein Hauptthema in mehreren Büchern die Stadt Berlin ist, siehst du dieses Territorium mit einem fremden Blick, dem der Maria aus Kasan zum Beispiel, und siehst damit viel mehr, als wenn du nur “auf Deutsch” gucken würdest. In der DDR musstest du diesen Drang in die Weite und zum Perspektivenwechsel unterdrücken, aber er stak schon in dir drin. Hattest du deshalb nach dem Abitur Chinesisch studiert?

IL: Es stimmt, ich bemühe mich um Weite, um das Verbindende, wo so viel getrennt wurde, in unserem Leben. So würde ich das nennen. Und da bin ich nicht die Einzige. Menschen, gerade eingesperrte Menschen haben immer die Weite gesucht, den Geist, dafür müssen sie durchaus nicht halb dies und halb das sein. Halbrussin – Halbjüdin, darf man mal wissen, bis wohin die Hälften reichen?

Natürlich beeinflusst meine Herkunft meinen Blick, da lege ich auch großen Wert drauf, aber für die konkrete Situation mitten in Deutschland, Europa, Berlin sensibel zu sein, hat wenig mit Blut- und Identitätsgewurstel zu tun. Andere Autoren haben da auch Gefühle und reisen auch in Transiträumen umher. Auch muss mir jemand dann mal erklären, wie man „auf Deutsch“ guckt, und was für ein Deutsch das dann wird.

 

6. Warum hattest du nach dem Studium mit Chinesisch nicht weitergemacht?

IL: Ich glaubte, nach dem Sprachstudium würde ich nach China fahren können, und nach Asien überhaupt. Aber im zweiten Studienjahr verschlechterten sich die Beziehungen der DDR zur Volksrepublik China. Wir bekamen alle keine Arbeit als Sinologen und ich verlor die Sache aus den Augen. Ich wollte ja auch schreiben.

 

7. In deinem Text Die freien Frauen geht es um einen Transitraum zwischen verschiedenen Kulturen, polnisch, jüdisch, deutsch, ein Bahnhofscafé in Kattowice, und dabei passiert es, dass auch die Zeiten durcheinander geraten. Die Jahre vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in denen du tragischen Aspekten der Familiengeschichte nachforschst, vermischen sich mit der DDR-Zeit und mit heute. So wie in diesem Text ist ein bestimmter Raum oft die Achse, um die sich deine Erinnerungen, Nachforschungen und Reflexionen drehen. Außer in dem Herrnstadt-Buch, in dem du um ein differenziertes Bild deines Vaters ringst, ist es immer ein bestimmter Raum (ein Café, ein Wohnhaus, eine Straßenecke, ein Bahnhof), der deine Schreiblust auslöst; sehe ich das richtig?

IL: Ja, das hast du gut bemerkt. Ich brauche einen poetischen Ort für meine Phantasie. Und in der Gegend um den Hackeschen Markt habe ich ihn sehr früh gefunden. Diese Gegend ist für mich nach wie vor magisch und ich werde weiter darüber schreiben.

8. Ein Raum, der dich stark anzieht, scheint auch das Archiv zu sein. Als ich in Stille Mitte von Berlin las, wie du in der Bibliothek sitzt und feststellst, wieviel von der jüdischen Geschichte Berlins unter den Teppich gekehrt worden ist, kommst du mir wie eine Archäologin vor, die über Scherben sitzt und sich fragt, warum so viele fehlen. Sogar in Grundstückbauplänen suchst du. Es erinnert mich an Sebalds Vorgehensweise; hast du etwas von ihm gelesen und magst du ihn?

IL: Sebalds Bücher kenne ich nicht. Die genaue Recherche – egal wo – gehört für mich zu einer ordentlichen Arbeit. Sie ist produktiv und bewahrt einen vor Klischees.

 

9. Zurück zu deinem Herrnstadt-Buch: Es ist zum einen eine Liebeserklärung an deinen Vater, der Chefredakteur des Neuen Deutschland war und 1953 von Ulbricht und seiner Clique gestürzt wurde, weil er mehr Demokratie verlangte. Und es ist zugleich eine ziemlich scharfe Kritik an ihm. Zum Beispiel erinnerst du ihn daran, dass er 1952, anlässlich der Slansky-Prozesse in Prag, im Neuen Deutschland die Darstellung der Prozesse durch die Partei gerechtfertigt hatte, nämlich, dass Lansky und seine Genossen “Verräter” gewesen wären. Du schreibst: “Ein Quadratmeter Lügen, und die hat er drucken lassen, er! Wird es ihm langsam klar?” Einer der 1952 in Prag Hingerichteten, Ludvik Freijka, war sogar sein Jugendfreund gewesen. Was verhinderte, dass dein Vater in diesem Moment für immer ein Apparatschik wurde, so einer wie die anderen? Er war ja in diesem Moment ganz nahe dran. Warum kehrte er zu seiner journalistischen Anständigkeit zurück? War es das Jüdische in ihm oder was war es?

IL: Ich glaube, das eine folgt aus dem anderen. Zuerst kommt die brave und parteikonforme Wiedergabe der „Dokumente“ des „Verrates“ der Prager Kommunisten. Da muß auch Angst dabei gewesen sein, daß er selbst in Gefahr sein könnte (was tatsächlich so war, heute wissen wir es). Und gerade der Ekel, den das erzeugt haben muß, wird dann wieder ein Motor dafür gewesen sein zu rebellieren. Ob es „das Jüdische in ihm war“? Was soll denn „das Jüdische“ sein?

 

10. Du beschreibst eindrucksvoll die Kälte, mit der die KPD-Führung schon in der Emigration in Moskau Rudolf Herrnstadt behandelte und vermutest, das hänge mit seiner Herkunft aus dem Bürgertum zusammen, die ja sichtbar war an seinen Manieren, Anzügen, Hüten und seiner Weltläufigkeit. Die anderen, Ulbricht und Co., schreibst du, waren Kleinbürger, beschränkt; sie hatten es nicht einmal geschafft, Russisch zu lernen in all den Jahren der Emigration. Du vermutest, der Sozialneid ist ein Grund für diese Kälte, damit der Neid auf Herrnstadts Bildung. Ich vermutete beim Lesen etwas ganz anderes. Es war Antisemitismus. Die KPD-Mitglieder kamen aus Deutschland, sind dort antisemitisch sozialisiert worden, vielleicht war ihnen das nicht bewusst, aber es war so, und Herrnstadt war Jude! Sie interpretierten sein Anderssein rassistisch und reagierten entsprechen distanziert. Ist es möglich, dass das stimmt?

IL: Du meinst, es war Antisemitismus, der die Kälte gegen Herrnstadt in Moskau entstehen ließ. In meinen Augen war er ein Mann, den die sowjetischen Funktionäre den deutschen kommunistischen Emigranten vor die Nase setzten. Ein Mann, von dem sie noch nie etwas gehört hatten, und der nicht aus ihrem Apparat kam. Dort misstraute einer dem anderen und sie waren alle zerstritten. Nein, ich glaube nicht, dass du Recht hast.

 

11. Du benutzt an einer Stelle in deinem Russlandbuch den Ausdruck “mein jüdischer Widerspruchsgeist.” Ich habe das Gefühl, erst nach der Wende, während deiner Forschungen über deine Familiengeschichte, entstand dieser Geist. Der Widerspruchsgeist war vorher da, aber wurde er nicht erst jüdisch nach der Wende?

I.L: Warum sollte denn mein Widerspruchsgeist, der immer schon da war, nach der Wende jüdisch geworden sein? Weil ich da endlich mein Judentum frei entfalten konnte und alle meine (selbstverständlich guten) Eigenschaften endlich als „jüdisch“ erkennen?
Ich habe nicht versucht, mich nach dem Mauerfall über Volk, Blut oder Religion neu zu definieren. Identität ist für mich die Übereinstimmung dessen, was ich zu sein vorgebe und anstrebe mit dem, was ich als Person bin, und das verantworte ich selber. Haltung.

Da bin ich dann durchaus die Tochter einer deutschen Familie preußischer Juden aus Oberschlesien und einer russischen Intellektuellenfamilie aus der Sowjetunion – aufgewachsen in der DDR.

Das gerade, das Leben dort, die Widersprüche unserer Zeit, unseres Landes, aber auch unsere Bildung, unsere Erziehung zum Denken in Widersprüchen – erinnere Dich bitte! – sie war auch produktiv. Gerade, weil diese Bildung uns zum Denken, auch zum politischen Denken führte und dieses Denken gleichzeitig wiederum reglementieren wollte. Das unterscheidet ehemalige Bürger der DDR bis heute von Bürgern der alten Bundesrepublik – der Widerspruchsgeist. Und das sollte dann plötzlich vom Blute bestimmt gewesen sein? Unverrückbar, gottgegeben?! Welch geistige Enge!

Denk an deine Geschichte, du warst doch selbst der personengewordene Widerspruch. War dieser Widerspruchsgeist dann „deutsch“? „Arisch“?

Was ich über meinen „jüdischen Widerspruchsgeist“ in dem Rußland-Buch schreibe, ist   ironisch gemeint, da meine Zimmerwirtin in Moskau ja so viel Angst vor den Juden hatte.

 

12. Dieses unterschwellig Antisemitische unter den Kommunisten in Moskau setzte sich, wie du zeigst, bis später fort. Die in den Slansky-Prozessen in der ČSSR Verurteilten waren auch zumeist Juden. Du schreibst: “Juden waren gut genug, die Kastanien für Moskau aus dem Feuer zu holen, nun waren sie gut genug, Blitzableiter zu sein.” Wie jeder weiß, gab es nach den Ärzteprozessen in Moskau einen starken politischen Druck auf die jüdischen Gemeinden der DDR. Dieser Druck löste 1953 eine jüdische Fluchtwelle in den Westen aus, Julius Meier zum Beispiel und 500 andere Juden, aus der ganzen DDR. Wann war in deinem Leben etwa der Punkt, an dem dir die Augen aufgingen für das Antisemitische in der kommunistischen Bewegung? Wie alt warst du?

IL: Die Kommunistische Bewegung hat mich erst interessiert, als sie gescheitert war, das war ziemlich spät.

Als Kind und Jugendliche lebte ich in der ostdeutschen Provinz. Von den Nöten der jüdischen Gemeinden erfuhr ich dort gar nichts. Antisemitismus habe ich in dieser Zeit nur in Äußerungen meiner Mitschüler erlebt. Nicht gegen mich, sondern es waren die alltäglichen Gehässigkeiten der deutschen Bevölkerung gegen Juden, Polen, Russen und Kommunisten. Volksmund der Nazizeit sozusagen. Übrigens immer nur halblaut und mit dem Zusatz: „Man darf ja nichts sagen“. Kommunistenkinder waren in meiner Kindheit und Jugend ab dem Alter von zehn Jahren nicht mehr dabei. Es war ja die deutsche Provinz, in der ich aufwuchs, seit wir aus Berlin fort mussten.

 

13. In deinem Band Die schönste Wohnung hab ich schon, was soll denn jetzt noch werden beschreibst du den Antisemitismus heute, in der Nachwende-Zeit. Es gibt ein Gedicht mit dem Titel “Es saßen drei Leute mit mir am Tisch.” Darin beschreibst du ein Gespräch von drei Männern auf einem Schiff über die Frage in Berlin leben oder nicht. Einer, ein Berliner aus der Hamburger Straße, also aus dem Ostteil der Stadt, sagt, er könnte hier nur noch bleiben, wenn er alle “Arschgesichter” vertreiben dürfte und meint damit vor allem Juden. Vor der Wende wurde das nicht so direkt gesagt, aber der Antisemistismus war da. Man spürte ihn. Ich spürte ihn deutlich, als ich den DEFA- Film Hotel Polan und seine Gäste sah, der Anfang der achtiger Jahre im DDR-Fernsehen lief. Das war purer Antisemitismus, zwischen den Zeilen, versteckt, aber deutlich spürbar. In Stille Mitte von Berlin erwähnst du das “Gefühl von Peinlichkeit und Beklommenheit”, das das Wort jüdisch zu DDR-Zeiten in Dir auslöste. Ist es möglich, dieses Gefühl genauer zu erklären?

IL: „Arschgesichter“! Warum beziehst Du das auf Juden? Nach der Grenzöffnung strömten Massen von Menschen nach Berlin – Mitte, Tag und Nacht, die bisherigen Bewohner der Straße hatten die Nase voll von allen, die da kamen, sie waren überfordert, sie konnten nicht mehr – sie waren mit ihren Kräften am Ende, da war jeder ein „Arschgesicht“. Und der Ausruf am Ende ist nicht feindlich, er ist überrascht. Er entspannt eigentlich eine Situation, weil da einer sagt, was er denkt:“ Mensch, du siehst ja wie ein Jude aus!“ Die Antwort könnte sein: “Na und?“ Das wäre vielleicht Normalität.

Der unterschwellige Antisemitismus in der DDR war wie gesagt durchaus spürbar. Es war manchmal unheimlich, in einer Kleinstadt z.B. zu recherchieren und abends allein in einem Wirtshaus zu sitzen. Da konnte man es mit Händen fassen, dass es das alte Reich war, wo ich saß, eben dieses Nazideutschland, wo ungeheure Verbrechen beinahe widerspruchslos geschehen waren.

Ich empfinde es bis heute sehr stark, dass ich mich in dem einzigen Land Europas befinde, das den Sieg der Alliierten 1945 nicht als Befreiung empfand, nicht als Freude, sondern als Unglück, als Tiefpunkt der eigenen Geschichte. Das haben auch die aus den Konzentrationslagern und der Emigration zurückgekehrten Antifaschisten von Anfang an schmerzlich empfunden, die ja einen neuen Staat aufbauen sollten. Sie waren eine winzige Minderheit. Ohne die Besatzungsmächte wären sie ein Nichts gewesen, und sie mussten sich oft selber zwingen, mit Menschen zu arbeiten, von denen sie einige Jahre zuvor noch ins Zuchthaus gebracht worden wären oder ins Lager. Daher auch wurde so hart mit gleicher Münze zurückgezahlt. Brechts Vorschlag 1953 an die Parteiführung, sich ein anderes Volk zu wählen, hat diesen makabren Hintergrund.

Ja, in einem abgeschlossenen, dumpfen Land zu leben, auf einer sehr dünnen Decke von Aufklärung, ohne die so bitter nötige Offenheit über das alles – das wurde mir gerade in der deutschen Provinz oft mit Schrecken klar. Dort bin ich ja aufgewachsen, das kann ich beurteilen, dieses Dunkle unter unseren Füßen. Und als ich dann durch die Bundesrepublik reisen konnte, da sah ich in den gleichen alten Wirtshäusern an den Wänden häufig auch noch Fotos der alten Vereine, mit Orden und Ehrenzeichen – die hatten in den Ostkneipen gefehlt, weil sie verboten waren. Wenn ich dann höre, wie unbefangen Du mich als Halbjüdin bezeichnest, kommt diese Erinnerung wieder hoch.

 

14. Gut gefällt mir auch an deinem Herrnstadt-Buch, wie du hin-und herschwingst zwischen “Herrnstadt” und “mein Vater” oder “Rudi” oder sogar ironisch “Towarisch Gernstadt”, wenn du über ihn in der 3. Person berichtest; und auf der anderen Seite steht die Anrede: “Papa”. Der Ton ist einerseits dokumentarisch und andererseits ganz persönlich. Die tollste Stelle ist für mich, wenn du ihm in direkter Rede deine Entrüstung mitteilst darüber, dass im Gründungsdokument des Nationalkommittees Freies Deutschland sein Name fehlt: “Angeschissen wieder mal. Sie haben dich angeschissen, Papa.” Es überrascht dich sehr, aber du fragst nicht nach dem Grund, warum sein Name weggelassen worden war. Mich hat es beim Lesen nicht überrascht, denn die KPD Führung in Moskau hatte ja ein Auge zugedrückt gegenüber Kriegsverbrechen der deutschen Kriegsgefangenen, wenn sie nur im Nationalkommitee mitmachen wollten. Meiner Meinung nach haben Ulbricht und seine Clique Herrnstadt damals “angeschissen”, weil sie keinen jüdischen Namen im Gründungsdokument des Nationalkommittees haben wollten, es sollte arisch aussehen, so arisch wie möglich. Das war eiskalt kalkuliert, von den Russen und von Ulbricht, keine Vergesslichkeit. Dass Herrnstadt selbst in den Gefangenenlagern war und viele Kriegsgefangene für das Nationalkommittee geworben hat, galt nicht. Sehe ich das übertrieben?

IL: Du forderst hier mit Vehemenz eine Antwort ein, die ich Dir nicht geben kann. Ich war nicht dabei. Was ich weiß, ist: Die KPD hatte in Fragen der Kriegführung nicht das letzte Wort, das letzte Wort hatten die sowjetischen Offiziere. Die führten den Krieg, die standen mit dem Rücken an der Wand, die brauchten eine Entlastung an der Front, und nur deshalb kam überhaupt die Idee auf, deutsche Soldaten und Offiziere zu finden, die bereit waren, endlich gegen Hitler zu kämpfen und so das Zögern des deutschen Generalstabes in der Richtung zu beeinflussen, dass sie den Krieg beenden. Der Krieg war ja nach der Schlacht von Stalingrad im Osten nicht mehr zu gewinnen. Die Frage der Kriegsverbrecher wurde daher mit Sicherheit auch pragmatisch entschieden. Solange man einen berühmten General von Seydlitz brauchte, durfte er mitarbeiten und wurde unterstützt, als er unbequem wurde, erinnerte man sich an die Kriegsverbrechen der 6. Armee unter seiner Führung. Moralisch ist die Sache natürlich verwerflich. Aber Moral muss man sich leisten können. Denn in Wirklichkeit waren sie alle Kriegsverbrecher. Bei der kolonialen Kriegführung der Wehrmacht im Osten gab es zu keiner Zeit Gründe, das anders zu sehen. Deine Frage klingt jedoch danach, als ob es weiß Gott genug Menschen gegeben hätte, die „rein“ in die Gefangenschaft kamen, und nur die Kommunisten haben wieder mal die Falschen sich ausgesucht?

Eine im Großen und Ganzen „saubere Wehrmacht“ also? Nein, es galt, den Krieg zu beenden. Das Gründungsdokument im Juli 1943 zielte auf die deutschen Offiziere im Generalstab. Auf deren Schreibtischen sollte der Aufruf landen. Sie sollten eine Gelegenheit bekommen umzudenken. Es ist daher gut möglich, dass es die Überlegung gegeben hat, die wären dermaßen antisemitisch, dass ein jüdischer Name manchen davon abhalten könnte, in ein „von Juden beeinflusstes Nationalkomitee“ einzutreten. Wie sehr diejenigen, die so dachten im Recht waren und ob sie selbst Antisemiten waren – wer weiß es?
Übrigens gab es schon während des Krieges auch innerhalb der deutschen Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion fortwährend Verhaftungen wegen Kriegsverbrechen.

 

15. Herrnstadt wurde abgesetzt als Chefredakteur des Neuen Deutschland und in die Verbannung nach Merseburg geschickt, als TBC Kranker in diese verpestete Chemieluft, weil er gegen Ulbricht war. Der regierte ja mit Drohungen, Zwang, mit dogmatischer Ideologie, spielte Leute gegeneinander aus; Herrnstadt wollte statt dessen einen “offenen Umgang mit allen Menschen”, wie du es nennst, eine öffentliche Diskussion, statt dieser Zuchthausatmosphäre. Glaubst du, die weitere Geschichte der DDR wäre anders verlaufen, wenn dein Vater zum Zuge gekommen wäre?

IL: Die Geschichte der DDR wäre nur im Falle von Reformen in der Sowjetunion anders verlaufen, und die wären nur möglich gewesen durch eine Beendigung des Kalten Krieges auf beiden Seiten.
Kein Funktionär der DDR hätte eine eigenmächtige Demokratisierung überlebt, denn die wäre in Ost und West immer als Destablisierung der DDR (aus strategischer Sicht immer die westlichste Grenzprovinz Moskaus) wahrgenommen worden. Der Verlauf des 17. Juni zeigt genau das. Damals hatte der höchste sowjetische Funktionär in Moskau ja einen Reformversuch unternommen – Berija. Er scheiterte an der plötzlichen Destabilisierung.

 

16. Ein anderer Anstoß für dich dieses Buch zu schreiben war, wie schon erwähnt, die westdeutsche Fernsehsendung über deinen Vater. Sein Leben wurde darin auf das eines SED-Parteijournalisten und Berija-Mannes reduziert, das ärgerte dich; du wolltest, dass endlich differenziert wird; du wolltest seine Ehre retten. Was genau war es, was dich an der Fernsehsendung geärgert hat?

IL: Es war keine „westdeutsche“ Sendung, es war ein Film des Deutschen Fernsehens, produziert im Jahr 2003. Mich ärgerte genau das, was du schreibst: Die Schwarz-Weiß-Rhetorik. Und übrigens – in diesem Film kannst du auch antisemitische Stereotypen der Propaganda erkennen.

 

17. In Stille Mitte von Berlin sprichst du über die Ausreisewelle aus Deutschland von 1849, während der etwa eine Million Deutsche nach Amerika auswanderten. Du schreibst, sie gingen weg, “weil sie es Ernst gemeint hatten mit den Freiheiten für jeden einzelnen Menschen, mit der Freiheit der Person” und schlägst dann einen Bogen zur Ausreisewelle in der 1980er Jahren in der DDR. 1849 und 1850 hatte die Berliner Urwählerzeitung diese Vorgänge dokumentiert, und du schreibst “eine Zeitung wie diese fehlte” in der DDR. Glaubst du, dass dein Vater, so wie du ihn erinnerst, wäre er 1988 noch am Leben und Chefredakteur des Neuen Deutschland gewesen, die Ausreisewelle nach dem Westen wenigstens dokumentiert hätte?

IL: Eine Demokratisierung, wie er sie sich 1953 vorgestellt hatte, hätte solche Ausreisewellen verhindern sollen. Die hätte er dann auch nicht dokumentieren müssen.

 

18. In Joachim Walthers Buch Sicherungsbereich Literatur steht, dass Dieter Noll (Deckname IMS “Klaus Dieter”) über dich als die “operativ bekannte Schriftstellerin Irina Liebmann” berichtet hat. Hast du schon einmal daran gedacht, diese Aktenverwaltungsbehörde als literarischen Ort zu benutzen, von dem aus du kreativ wirst und ein literarisches Erinnerungsbuch schreibst, oder ist die DDR noch zu nah an dir dran?

IL: Vor Jahren hatte ich einmal begonnen, Stasiakten über mich zu lesen, aber bald wieder aufgehört. Oft habe ich laut gelacht in dem Lesesaal, manchmal war ich fassungslos, im Ganzen fand ich es destruktiv. Dieter Noll zum Beispiel ist ein Mensch, den ich nie getroffen habe, nie – und der berichtet. Wem? Wozu? Ich kenne sie alle nicht.

Nein, unsere Arbeit ist schwer, unsere Zeit kurz. Eine miese Beschreibung meines eigenen Lebens ist das letzte, was ich zum Leben brauche.

Das Ganze erinnert mich immer an eine Notiz von Goethe in seinen Naturwissenschaftlichen Schriften. Er war 1813 in Teplitz im Kloster Ossegg und schreibt danach: ” Die Schildkröten in dem Kunstsumpfe treiben nach wie vor ihr abstruses Wesen.” So kommt mir die Einsicht in diese Akten auch vor, wie ein Blick in die Kunstsümpfe … voller Kröten.

 

19. Deine Schwester Nadja Stulz Herrnstadt hat das Tagebuch deines Vaters, das sogenannte Herrnstadt-Dokument, herausgegeben. Da steht anlässlich ihres Rückblicks auf die DDR: “Geblieben ist der Einblick in eine Welt Orwellscher Dimensionen.” Wir haben das Orwellsche schon in der DDR empfunden und sind deshalb weggangen; du nach Westberlin. Was mich wundert, ist, warum bist du nach der Wende in den Osten zurückgekommen? Die DDR gibts nicht mehr, aber die Apparatschiks leben noch. Man trifft sie beim Einkaufen oder in der S-Bahn…

IL: Für mich ist es nicht der Osten, für mich ist es Berlin. Ich wohne jetzt in Berlin – Mitte wie früher einmal. Die Bewohner sind beinahe gänzlich andere. Im „Westen“ war ich auch in Berlin. Dazwischen wohnte ich übrigens etliche Jahre auf dem Lande. Diesen Abstand brauchte ich schon, bevor ich wieder nach Berlin – Mitte ziehen konnte.

 

20. Um nochmals auf das Herrnstadt-Dokument zurückzukommen, das Vorwort ist in Paris 1990 geschrieben, und da steht: “kaum ein Dutzend Monate ist vergangen, seitdem Rudolf Herrnstadts Manuskript vor fremdem Zugriff bewahrt werden musste.” Wo versuchte die Stasi an das Manuskript heranzukommen, in Berlin oder in Paris? Was genau ist passiert?

IL: Da gab es viele Varianten, z.B. falsche Liebhaber.

 

21. Die Literaturwissenschaftlerin Astrid Köhler benutzt den Ausdruck “rote Aristokratie” (er stammt von Havemann) für die Schicht der hohen Funktionäre, die wie dein Vater bürgerliche Intellektuelle waren, gegen Hitler kämpften und darüber in die kommunistische Bewegung hineingerieten, mit hohen Ämtern später in der DDR; sie repräsentierten Prominenz. Nehmen wir einmal an, der Ausdruck passt, und er passt ja, dann warst du als Kind eine kleine Prinzessin, die plötzlich aus dem Schloss hinausgefegt worden ist und zu einem alltäglichen Mädchen wurde. Das ist traumatisch, vor allem wenn du an die Reaktionen der anderen Kinder denkst; du hast in deinem Herrnstadt-Buch darüber geschrieben. Haben sich auch Kinder mit dir solidarisiert?

IL: Ja.

 

22. In die Freien Frauen erwähnst du das Königsdrama, das du immer schreiben wolltest. Ist damit das Drama um deinen Vater, Zaisser auf der einen Seite und Ulbricht & Co. auf der anderen Seite gemeint?

IL: Das Buch Die freien Frauen ist eine Antwort auf das Buch Unsterbliche Geschichte von Jiri Kratochvil. Dort ist eine ewige Liebesgeschichte der Plot und darauf bezieht sich die Absicht meiner Protagonistin, ein Königsdrama zu schreiben.

 

23. In deinem Buch nennst du das geplante Drama “das Drama der Kollektive”. Wie wäre so ein Drama anders als etwa Schillers Maria Stuart oder Shakespeares Dramen um die Könige? Was genau ist der Grund, warum du es noch nicht schreiben konntest oder arbeitest du vielleicht gerade daran?

IL: Das „Drama der Kollektive“ wollte mein Vater schreiben, nicht ich. Ich stelle es mir ähnlich vor wie Brechts „Maßnahme“.

 

24. Als ich deine Beschreibung der Straßen um den Hackeschen Markt las, erinnerte ich mich an meine Jahre in der Auguststraße (ich wohnte sieben Jahre in der Nummer 75, auf dem Hinterhof); alles war schmutzig, heruntergekommen, verwahrlost, ich hatte Ratten in der Küche; jetzt ist hier alles sauber und schick und trotzdem habe ich das Gefühl des Ekels, der Ohnmacht, wenn ich vor dem Haus stehe. Ich könnte hier nicht mehr leben. Bist du durch das Schreiben über die negativen Gefühle hinweggekommen? Denn du wohnst ja hier wieder. Oder brauchst du sie zum Schreiben?

IL: Wir hatten also unterschiedliche Erlebnisse in der Gegend. Ich habe dort meine erste bewohnbare Wohnung bezogen – anderthalb Zimmer im Vorderhaus. Meine ältere Tochter ging in der Gartenstraße in den Kindergarten, meine zweite Tochter ist in der Frauenklinik gegenüber vom Bodemuseum geboren.

Ich habe diese alte Mitte von Berlin immer geliebt. Sie war preußisch, wilhelminisch, modern, plebejisch und königlich, großstädtisch und kleinstädtisch, alles eben, was Berlin ausmacht. Faszinierend und unheimlich. Ich wollte mehr wissen über die Gegend, weil ich spürte, dass da Spannendes verborgen sein muss. Von dem Schrecklichen wussten wir ja etwas – nämlich dass das ehemalige jüdische Altersheim eine Sammelstelle zum Abtransport in die Lager geworden war. Es stand ein Denkmal davor. Es hat mich sehr bedrückt, dass gerade von hier der Mord an der Berliner Juden seinen Ausgang nahm und hätte ein Grund sein können, einen Bogen um die Gegend zu machen. Aber ich wollte diese Ängste überwinden. Das andere aber – Preußen, der Hof, die ersten Fabriken, die Kirchen, die Zwanziger Jahre, die Nazizeit in Berlin – davon wussten wir nichts.

Ich habe also aus Neugier und Selbstüberwindung geforscht, aber die Gegend lässt sich ihr Geheimnis nicht entreißen, und jetzt sitze ich wieder da und will es noch einmal anders begreifen.

Die alten Apparatschiks habe ich dabei nie besonders ernst genommen, die sind mir da auch nicht begegnet, die konnten nicht mein Gegenüber sein. Negative Gefühle verursachten mir in der Gegend viel mehr die altdeutschen Kleinbürger, um es einmal salopp auszudrücken.

 

25. Amelie Heinrichsdorff hat dich während deines Aufenthaltes in Los Angeles in einem Interview über deine Meinung zu den exilierten deutschen Schritstellern gefragt, die da lebten, Feuchtwanger und Brecht zum Beispiel, und wie sie vielleicht deine Arbeit beeinflussten. Du hast darüber gesprochen, dass viele im Exil nur noch historische Sachen geschrieben haben und “nie wieder richtig in die Realität ‘reingekommen’” sind. Das wunderte mich, weil du ja selbst historisch schreibst; du gräbst in Archiven und alten Zeitungen und schreibst die Geschichte von Berliner Häusern und Straßen und Personen wie etwa Franz Pretzel. Dann sagte ich mir, aber du rollst die Geschichte jedesmal von der Gegenwart her auf und nennst das “Erinnerungslücken” füllen. Warum ist es so gekommen, wie es jetzt ist – das ist immer deine Frage… Und das ist der Unterschied zu den Texten der Exilanten. Sehe ich den Unterschied richtig?

IL: Ja, so ist es. In den „Freien Frauen“ zum Beispiel ist es ja ganz deutlich: Die Frau ist hier in Berlin, heute, sie hat ihren Sohn verloren und will ihn finden. Und dann sucht sie tatsächlich mehr in der Vergangenheit. Sie muss den Faden finden. So kann man es vielleicht erklären – wir müssen den Faden finden, das ist mein Gefühl.

Alles ist zerschnitten, verworren, verdreht, und meine Aufgabe ist es, den Faden wieder zu finden. Lebensfaden. Aufwickeln. Ordnung schaffen. Klarheit. Ich nehme mir nicht irgendwelche historischen Ereignisse oder Vergleiche vor, sondern erforsche den Boden, auf dem ich stehe.

 

26. In Stille Mitte von Berlin erzählst du davon, wie die jüdische Geschichte unter den Teppich gekehrt worden ist, auch in der DDR – “Warum fehlt so viel?” fragst du bei dem Blick auf die Archive, “warum wurde gefälscht und abgeschnitten?” Und deine Methode, wir haben schon darüber gesprochen, ist die einer Archäologin, die nach Scherben sucht, um das Fehlende zu rekonstruieren. Ist dir bei deinen Aufenthalten in Moskau schon einmal in den Sinn gekommen, dir die Geschichte des Hotels Lux, in dem deine Eltern eine Zeitlang gewohnt haben, genauer anzusehen? Du kannst Russisch, könntest in den Archiven suchen…

IL: Die Geschichte meiner Familie bietet viele Themen, aber ich muss den Radius eingrenzen, sonst wird es zu viel und auch zu viel von Gestern. Wenn ich die ausradierten Stellen beklage, das Verwischte und Verunklarte, dann rede ich in „Stille Mitte von Berlin“ von den Protokollen eines Gemeindekirchenrates zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts. Konkret geht es in diesem Fall nicht um Juden, sondern um Grundstücke und Intrigen.

 

27. Ich bin dir dankbar für den Hinweis in deinem Herrnstadt-Buch, dass man Leopold Treppers Erinnerungsbuch Die Wahrheit gelesen haben muss. Nicht nur wegen der Geschichte der “Roten Kapelle,” sondern auch wegen der Beschreibung seines Zuchthausaufenthaltes nach dem Krieg in der Sowjetunion. Wie er verhört wurde, das war antisemitisch und folgte dem Motto “die dreckigen Jidden, die sind an unserem ganzen Unglück schuld”. Erinnerst du eine Episode, die sich dir bei der Lektüre besonders tief eingeprägt hat?

IL: Mir hat sich besonders eingeprägt, wie exakt er die Haltung beschreibt, mit der die ausländischen Angehörigen der GRU den Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes erlebten.

 

28. Mich erschütterte vor allem die Stelle, an der Trepper mit einem sowjetischen Offizier aus Weißrussland, dessen Familie von den Nazis ermordet wurde, 1946 eine Zelle teilt. Dann bekommen sie einen neuen Zellengenossen: einen ehemaligen hochrangigen Gestapomann, der in der Gegend von Minsk für die Ausrottung der Bevölkerung verantwortlich war und von der Schlächterei erzählt. Der sowjetische Mitgefangene leidet Qualen bei der Vorstellung, dass der es war, der seine Familie ermordet hat. Sie bitten einen Gefängnisaufseher darum, den Nazi eine andere Zelle zu verlegen, aber der lehnt es ab mit den Worten: “Sie vergessen wohl, dass sie zu demselben Gesindel gehören; es kommt nicht in Frage, ihn zu verlegen.” Das ist ungeheuerlich, das haut mich um; reagiere ich übertrieben?

IL: Nein.

 

29. Ich bewundere Treppers Ton; er schreibt dazu: “Wenn sich die Absurdität überschlägt, kann man ihr nur mit Humor entgegentreten.” Ein gutes Beispiel ist seine Adresse an Stalin: “Ich bin dem ‘Väterchen der Völker’ dankbar, daß ich mit der geistigen Elite der Sowjetunion Umgang haben konnte.” In den sowjetischen Zuchthäusern waren sie ja seine Zellengefährten. Wie würdest du diesen Ton beschreiben?

IL: Trepper ist einer von denen, die über Leichen gegangen sind, ganz wörtlich.

 

30. Neu war mir Leopold Treppers Auskunft zu Richard Sorge, dem berühmten Kundschafter: die Japaner hatten ihn schon 1941 verhaftet, wollten ihn bei Stalin austauschen, aber Moskau machte nichts, um Sorge zu retten; er wurde im November 1944 erschossen. In der DDR wurden wir dann mit seiner Biographie gefüttert, Richard Sorge, der Held! Und dieses wichtige Detail wurde weggelassen! Welch eine Heuchelei. Trepper: “Diejenigen, die ihn töten ließen, haben nicht das Recht, sich reinzuwaschen.” Wusstest du das schon in der DDR vor dem Fall der Mauer, und seit wann etwa?

IL: Von Stalins Verrat an Richard Sorge habe ich auch erst durch Trepper erfahren. Das war 1989. Die Sowjetunion verdankte Richard Sorge den Sieg vor Moskau, also die Wende des Krieges und möglicherweise auch den Erhalt des sowjetischen Staates.

 

31. Trepper nannte die SU unter Stalin und auch noch danach das “Reich der Lüge und der Verfälschung” – das war ja auch die DDR! Britische Germanisten haben darüber geschrieben, dass du, vor allem in Die freien Frauen, in Berlin Gespenster herumlaufen siehst; du schreibst, sagen Kritiker und das ist positiv gemeint, eine neue Art von Spukliteratur in der Tradition E.T.A. Hoffmanns. Sätze wie “Die Gegenwart war es nicht, die hier herumlief” deuten natürlich in so eine Richtung – bist du ein wirklich ein Hoffmann-Fan und schreibst in seiner Nachfolge, oder ist das zu weit hergeholt?

IL: E.T.A. Hoffmann gefällt mir. Ich war auch eine Weile in Bamberg, und die Sehnsucht nach leichten Entwürfen, den Hang zum Singspiel und Drama, das alles teile ich. Und ich liebe es auch, mich auf die Stimmung eines Ortes einzulassen und etwas zu spüren, was nicht zu sehen ist. Manchmal errate ich etwas, was sich dann bestätigt. Da geht es auch um Lügen, aber mehr um Parallelwelten und Gefühle.

 

32. Angesichts deines Satzes “Die Gegenwart war es nicht, die hier herumlief”, fragt man sich, was läuft da in Berlin herum, was ist das genau. Sind es wirklich nur die Gespenster der Vergangenheit, ermordete Juden und Opfer des Stalinismus, oder ist es nicht auch so etwas wie die verschwundene Zukunft? Für uns hatte sie ja existiert, die sogenannte klassenlose Gesellschaft, die einmal kommen soll. Jetzt sehen wir, was passiert ist, warum diese Zukunft keine Chance hatte zur Gegenwart zu werden… und da siehst du sie als Vampir umherlaufen; ist das Gespensterliteratur und wenn nicht, was ist das?

IL: Du hast Recht. Die verschwundene Zukunft ist das eigentliche Thema. Aber dass irgendwo bei mir die Zukunft als Gespenst herumlaufen sollte – nein. Ist aber eine gute Idee. Bisher würde ich sagen, ist es eher das Gespenst der Zukunftslosigkeit, das herumläuft. Zumindest in den letzten drei Büchern ist es anwesend. Hier in Deutschland ist ja inzwischen schon das Wort „Vision“ ein Schimpfwort, „Idealismus“.

 

33. Eine Frage zu deinem neuen Buch Drei Schritte nach Russland: in Teil drei beschreibst du einen Abendspaziergang durch ein russisches Dorf und wie es dein Sehen veränderte: “Dann wird mir klar, wie glatt doch in den vergangenen Jahren alle Flächen um mich herum geworden sind, wie spiegelnd und grade die ganze Welt, in der ich dort lebte – Berlin.” Du fährst fort: “Der rechte Winkel ist nicht der rechte, denke ich dann, und ob ich das endlich mal loswerden könnte, diese Gedanken, dass alles viel ordentlicher sein müsste, als es hier ist, wenn ich länger hierbliebe, hier liefe, hier schliefe zwischen all dem Krummen und Schiefen, und ob ich dann einfach ein Mensch bin.” Ich frage, ob du ohne dein Unbehagen über all die Rechtwinkligkeit um dich herum noch schreiben könntest? Denn dieses Unbehagen – es ist ja eine Rechtwinkligkeit voller Gespenster – macht es dich nicht kreativ?

IL: Nein, nein. Ich schreibe nicht aus Unbehagen. Ich schreibe, weil ich was rauskriegen will. Ich bin dabei herauszufinden, wie die Moderne zusammenhängt mit den ständigen Trennungen und das wiederum mit der verlorenen Lebendigkeit. Stattdessen erscheinen an diesen Stellen dann glatte Flächen – das interessiert mich. Und das deutet sich in dem Russland-Buch schon an. Gerade in dem dritten Kapitel.

 

34. Du kombinierst in mehreren Büchern Sprache und Fotos, meistens Fotos aus Berlin, Mitte, aber manchmal auch aus anderen Orten, Los Angeles zum Beispiel. Warum hast du in Perwomajsk. Erster Mai und La la la L.A. auch drei verwackelte Fotos aufgenommen? Hat das etwas mit den ständig drohenden Erdbeben in L.A. zu tun oder sind die Bilder verwackelt, weil es damals, als du dort warst, gerade gebebt hat? Oder hängt es mit deiner Ästhetik zusammen; das Leben ist ja auch meistens verwackelt?

IL: Da ist keine Bedeutsamkeit. Die verwackelten Fotos fand ich schön. Polaroidfotos verwackeln leicht, wenn man eine alte Kamera benutzt wie ich damals.

 

35. Mir fiel beim Lesen auf, du hast deinen Stil, die langen freischwingenden Sätze mit den Wiederholungen am Ende, erst nach der Wende gefunden. Und weil der Stil der Mensch ist, scheint es mir, du bist erst nach der Wende du geworden als Schriftstellerin. Ich erkläre es mir unter anderem so: dein Prinzip ist, gegen “die zensierte Erinnerung” anzuschreiben, wie du es nennst, und du kannst seit dem Mauerfall viel freier recherchieren, auch über die Verbrechen des Stalinismus. Was du findest, verschränkt sich dann im Text mit Fiktivem, Erinnerungen zum Beispiel, und wie sich das verschränkt, hängt auch davon ab, dass dein innerer Zensor die Schrauben gelockert hat. Die Angst davor, was beim Schreiben am Ende herauskommt und ob das dir Probleme bringt, ist weg. Der große Schwung der Sätze zeigt somit die Freiheit, die du gefunden hast… Interpretiere ich das richtig?

IL: Ich sehe das als eine Frage der Prosa. Ich habe vorher einfach keine geschrieben. „Berliner Mietshaus“ – das waren noch Übergänge vom Bericht zur Beschreibung eines Bildes, ich wollte möglichst genau sein. Danach habe ich nur Dramatisches geschrieben – Hörspiele und Theaterstücke. Erst im Westen wollte ich sozusagen „freie Prosa“ schreiben, und da wurden meine Gefühle wichtiger. Es ist Gefühl, das in so einem freischwingenden Satz sich Bahn bricht. An die Genossen der SED habe ich beim Schreiben nicht gedacht. Es kann aber sein, dass mir so viel Gefühl in der DDR übertrieben vorgekommen wäre.

Erst später ist mir übrigens klar geworden, dass ich meine Entwicklung zur Dramatikerin mit dem Weggehen in den Westen abgebrochen habe. Das Spielerische, das mir so viel Freude gemacht hatte, war weg. Und das für immer. Ich bin darüber traurig. Es hängt mit meiner Existenz als freie Autorin zusammen, dem ständigen Existenzdruck wahrscheinlich, dass ich mich nie mehr einfach an die Schreibmaschine setzen konnte und ein Theaterstück einfach so für mich ausprobieren. Nur aus Spaß. Es fehlte ja auch der Adressat.

 

36. In mehreren deiner Texten geistert Ilse Stöbe umher, Mitarbeiterin der Anti-Nazi-Gruppe “Rote Kapelle”, 1942 in Plötzensee geköpft – in Quatschfresser heisst sie Johanna oder “der Engel”, in die Freien Frauen Olga. Sie geht in deinen Texten als eine Untote herum und erinnert mich mit der roten Narbe um den Hals, die wie eine Kette aussieht, an Bulgakovs Figur Gella, das Zimmermädchen Volands, des Teufels. Das ist für mich ein Beispiel dafür, wie du die russische Literatur aufnimmst und verarbeitest, vielleicht unbewusst. Und Bulgakows Der Meister und Margarita ist ja wiederum ohne Goethes Faust nicht denkbar, so springt die Literatur hin und her, über Grenzen. Hast du dich bei der roten Narbe um den Hals bewusst auf Bulgakow bezogen, oder war die Wahl des Bildes Zufall?

IL: Ehrlich gesagt hatte ich „Meister und Margarita“ damals noch nicht gelesen. Das Bild entspringt dem Gestapo-Foto von Ilse Stöbe, das wie alle diese Fotos ein Doppelfoto ist, und beide enden am Hals. Dieses Bild hatte ich in den Achtziger Jahren sehr lange über dem Schreibtisch und es hat mich für immer beeinflusst. Ohne dass ich die Geschichte so kannte, wie ich sie später in dem Kapitel „Noch einmal über Ilse“ beschrieben habe.

 

37. Zwei deiner Hauptmotive beim Schreiben sind die Geschichte deines Vaters und die der Stadt Berlin. Eine Kritikerin, Lyn Marven, schrieb, die Stadt, vor allem der Stadtbezirk Mitte, und die Ich-Erzählerin in deinem Roman In Berlin, konstruieren einander literarisch; was herausskommt, ist eine Art Ersatzautobiographie. Kann man das so sagen?

IL: Nach meinem nächsten Buch werden wir sehen, was für eine Art von Biographie dabei schließlich herauskommt.

 

38. In deinem Roman In Berlin fand ich den Ausdruck für die DDR: “Land, wo die Rolläden runter sind”. Wie gut passt dieses Bild! Aber es ist natürlich die DDR, die du erst in Merseburg kennengelernt hast und später in Berlin als Nicht-mehr-Privilegierte. Für die Wandlitz-Bewohner waren die Rolläden nicht heruntergelassen. Die dort waren gleicher als die Gleichen; das gehört auch zu der Orwellschen Dimension der DDR, von der deine Schwester in ihrem Vorwort gesprochen hat, nicht?

IL: Die Bewohner von Wandlitz sollen eingesperrter gewesen sein als die einfache Bevölkerung der DDR. Aber ich bin dort nie gewesen. Was mich betrifft – das Ostberlin der direkten Nachkriegszeit, das ich bis zu meinem zehnten Geburtstag kennenlernte, war nicht von heruntergelassenen Rollläden geprägt, sondern von Trümmern, Trümmern, Trümmern. Wir lebten am Stadtrand in Biesdorf und zuletzt ein Jahr in Pankow, in einem abgesperrten Wohnbezirk der Parteielite. Aber da gab es nur einen Konsum.

 

39. In einer Rückblende im Roman In Berlin fragst du dich, warum dir die DDR-Behörden in den 80er Jahren den Pass gegeben hatten, mit dem du frei aus- und wieder einreisen konntest. Du mutmasst, dass sie wegen deines Vaters ein schlechtes Gewissen hatten. Ich glaube, die hatten kein Gewissen. Sie ließen dich gehen, weil sie dich los sein wollten. Du hattest vor, mit Georg Seidel und anderen zusammen ein freies Autorentheater zu gründen, das war ihnen unheimlich. Wie siehst du das heute, 20 Jahre, nachdem du das geschrieben hast?

IL: 1988 war schon ein Jahr der inneren Auflösung der DDR, heute weiß man das. An Künstler wurden Pässe vergeben, damit sie nicht endgültig in den Westen gehen. Es galt dann nicht als „Ausreise“, sondern als „Reise“.

 

40. In deinem interessanten Nachwort zu Georg Seidels Kurzprosaband In seiner Freizeit las der Angeklage Märchen schreibst du: dies ist Literatur aus der DDR, keine DDR-Literatur und argumentierst so: DDR-Literatur habe in ihren besten Werken zwar den Realitätsverlust, die halbfeudale Enge der Verhältnisse, debattiert, aber dieser Realität nicht mit Leidenschaft widerstanden; es war keine Widerstandliteratur. Wer wirklich oppositionell dachte und schrieb, stand mit einem Bein immer schon im Westen, wo man ja problemlos veröffentlichen konnte, was in der DDR verboten war. Samisdat-Literatur wie in Polen, der Tschechoslowakei, der SU, die von Hand zu Hand weitergegeben wurde, kam so nicht zustande. Habe ich das so richtig zusammengefasst?

IL: Ja. Eine wirkliche Radikalität war uns durch die deutsche Teilung abgekauft. Dieser Sonderfall eines halben Landes, in dem man die Seite wechseln konnte, hatte auch auf dem Gebiet der Kunst seinen Preis.

 

41. Als einen Grund dafür, dass die DDR-Literatur keine Widerstandsliteratur werden konnte, siehst du auch die gängige Meinung an, dass ein Überbau die Basis lenke und beherrsche, und die Literatur sei ein Teil dieses Überbaus. Mir gefällt, dass du dabei “wir” sagst: “so haben wir das gelernt und tiefer geglaubt, als uns lieb sein kann.” Das ist sehr selbstkritisch. Danach, und hier wird es spannend, sagst du, in diesem “halbfeudal regierten Gebiet” der DDR “waren wir zu lange einverstanden mit der Macht im Namen eines falschen Antifaschismus. Wir hatten zu wenig Mut.” Glaubst du nicht, dass du mit deiner Forderung auf dem X. Schriftstellerkongress 1987 nach einem freien Autorentheater ganz schön viel Mut gehabt hast?

IL: Ja, Mut. Ein bisschen. Mein Mut auf dem Schriftstellerkongress hatte darin bestanden, dass ich mir diesen Auftritt dort auf dem Kongress erkämpft hatte, denn ich sollte gar nicht reden. Ich habe mich dann in der Pause auf die Tribüne gedrängt und eine Szene gemacht und dann durfte ich plötzlich. Aber da hatte ich wieder nur eine Viertelstunde Zeit, eine Rede überhaupt zu schreiben. Das war aufregend. Ich hätte mir mehr solche Aufregungen in meinem Leben gewünscht. Kämpfen macht Spaß. Das Autorentheater war zu diesem Zeitpunkt aber schon gescheitert. Übrigens auch gescheitert am Egoismus einiger Gründungsmitglieder. Das gehört auch dazu. Das ist es ja: Keine der Erfahrungen beim Aufbau von Alternativen konnten wir wirklich machen. Wir machten uns dadurch Illusionen über uns selbst und die anderen, und das ging so lange wie es einen Gegner gab, dem man für alles die Schuld geben konnte. Nach 1989 wurde die Enttäuschung dann groß.

 

42. Georg Seidel, schreibst du, war eine Ausnahme in der DDR-Literatur: er repräsentierte wirklich “Samisdat”. “Was es an Zeugnissen über die Innenansichten des Lebens in der DDR gibt und vielleicht noch geben wird, sagst du, ist von Leuten geschrieben worden, die sich nicht schützen konnten oder nicht mehr schützen wollten, die verzweifelt gesehen haben, wer sie sind und wo sie sich befinden.” Der Preis, den Seidel dafür zahlen musste, war: “eingeengt, abgeschnitten” zu leben, das heisst, in einer erstickenden Isolation. Besonders berührt hat mich die Stelle, wo du aus dem Ablehnungsbrief zitierst, den Seidel auf seinen Wunsch hin dort zu studieren vom Literaturinstitut in Leipzig bekommen hatte: neben seinen Ressentiments gegen die DDR sagten sie, wäre sein Bild der Frau pubertär verklemmt. Dein Kommentar dazu ist: “Das war die Methode: ein Schlag auf den Kopf und einer in den Bauch.” Genauso habe ich die DDR erlebt, nachdem mein Havelobst-Buch verboten wurde, Rufmord, und das ging dabei auch unter die Gürtellinie. Wurden im Schriftstellerverband Gerüchte über dich ausgestreut, nachdem du öffentlich ein freies Autorentheater verlangt hattest? Wie ließen sie dich wissen, dass sie verärgert waren? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mit dir darüber gesprochen haben. Und wenn doch, wer? Hermann Kant?

IL: Ich habe von einigen boshaften Gerüchten gehört, die verbreitet wurden. Dazu gehörte übrigens auch die Legende von der „roten Aristokratie“, zu der ich gehören würde. Das hat mich schon ziemlich überrascht, dass die Art, wie unsere Familie in Merseburg und Halle lebte, aristokratisch war.

 

43. Ein paar Fragen zu deinem Reisebuch Letzten Sommer in Deutschland: meine Lieblingsstelle ist deine Reflexion über den riesigen Karl-Marx Kopf in Chemnitz, eine Statue, die 1996 während deiner Deutschlandreise noch da stand. Hinter dem Kopf liest du auf einer Bronzeplatte: Proletarier Aller Länder vereinigt euch! und kommentierst: “Wir sollen uns vereinigen. Und dann? Gehorchen und marschieren, so wie immer.” Ich musste daran denken, als wir neulich in Maine im Urlaub waren und unsere Wirtin, eine Jüdin, von den “red diaper babies” erzählte: Kinder aus jüdischen Familien, die im Sommer in marxistische Erziehungscamps geschickt wurden. Sie sagte: “Marx war ja auch Jude…” Warum fühlten sich deiner Meinung nach soviele Juden von dieser Ideologie angezogen?

IL: Diese Fokussierung auf „das Jüdische“ empfinde ich als ideologisch. Nein, ich verzichte auf Völkerpsychologie. Aber wenn Volk und Blut inzwischen tatsächlich wieder so wichtig sein sollten – in Deutschland sind die Archive voll mit Überlegungen dazu, warum „die Juden“ so gerne dem Juden Marx folgten. Dort mal nachschauen.

 

44. Mir gefällt, wie du in Letzten Sommer in Deutschland das Leben anderer Schriftsteller buchstäblich anzufassen versuchst. Du gehst dahin, wo sie gelebt haben und tastest den Raum aus: Brigitte Reimann in Hoyerswerda, Marie Luise Fleisser in Ingolstadt und Brecht in Augsburg. Warum wähltest du diese drei und nicht andere? Sind das Autoren, die dich sehr beeinflusst haben, oder hing es eher mit der Reiseroute zusammen?

IL: Ich fuhr ohne Reiseroute los. Ich wollte einmal rund um Deutschland fahren, daher die Peripherie. Und ich bin leider völlig ahnungslos in Geografie. Also entdeckte ich erst abends im Hotel auf der Landkarte, wo ich eigentlich bin und was sich in der Nähe befindet. So war es eben Zufall, dass es diese drei Autoren waren. Aber dass ich ihretwegen Station machte, das war, weil ich sie lese und verehre.

 

45. An einer Stelle in diesem Reisebuch, in Dresden, reflektierst darüber, dass du vielleicht zu spät zurückgekommen bist aus dem Westen. Du kamst nach der Wende, die du somit verpasst hast, zurück, und du denkst jetzt: “Wer geht, ist sowieso im Unrecht, und nun ist es nicht gern gesehn, wenn einer wieder auftaucht aus der Grube?” Das war 1996. Denkst du inzwischen anders darüber? Ich glaube, du brauchtest diesen Perspektivwechsel von Ost nach West für deine Bücher, ohne ihn wäre dein Blick heute nicht so fremd.

IL: Ja, was wären wir ohne diesen Wechsel der Perspektive? Ich hätte meine Bücher so nicht schreiben können, und in der DDR mit Sicherheit auch so nicht schreiben dürfen.

Es war schwer, es war belebend, es war die Gespensterbahn. Eine Lebensreise voller Angst und Schrecken, viel Liebe auch – anders ist Kunst nicht zu haben.

 

46. Zum Abschluss eine persönliche Frage: Du hast zwei Katzen. Ich habe meinen Mann immer gefragt: Warum haben Menschen Haustiere? Ich verstand es nicht. Jetzt haben wir vier Katzen, und ich verstehe es plötzlich. Hast du das Gefühl, dass die Tiere dein Schreiben beeinflussen?

IL: Ich wollte mit Katzen mehr zu Hause bleiben. Natürlich sagten fast alle: Dann kannst du nicht mehr wegfahren, und ich antwortete: Das will ich ja grade. Natürlich fahre ich noch weg, aber immer nur kurz.

 

Berlin, den 1. August 2014

 

 

 

 

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