Nov 2024
Viele Ostalgien
Kontext für den Wende-Reader
von Janine Ludwig
Der Begriff „Ostalgie“ geht wohl auf den sächsischen Kabarettisten Uwe Steimle zurück, der 1992 ein Bühnenprogramm so benannte und, so heißt es, sich das Wort sogar patentieren ließ. Die Idee einer „Nostalgie für den Osten“ gab es also schon früh. Dennoch erfuhr es in diesen Jahren noch keine große Verbreitung oder überregionale mediale Präsenz, sondern entwickelte sich eher in kleineren, lokaleren Formen. Zu diesen gehörten neben ostdeutschen Kabarettprogrammen, neuen Museen oder vereinzelten Verkaufsstellen für Ostprodukte auch die von 1994 bis 1999 von dem Thüringer Ralf Heckel als Retro-Partys in Berlin veranstalteten „Ostalgie-Nächte“ mit ein paar tausend jungen Besuchern. Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz brachte 1994 den großen Schriftzug OST auf ihrem Dach an und wurde unter der Intendanz von Frank Castorf zu einem Pilgerort für ein meist junges, west- und kapitalismuskritisches Publikum aus Ost und West.
In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre erschienen einige Romane – die sich von den hier in unserem Wende-Reader vorgestellten vier Werken meist deutlich unterscheiden: 1995 Thomas Brussigs erfolgreiche Satire Helden wie wir, deren Protagonist behauptet, die Mauer mit seinem Penis zum Einsturz gebracht zu haben. Sie wurde 1999 verfilmt – ebenso wie Der Zimmerspringbrunnen (2001) – beide recht erfolglos. Deutlich besser erging es Brussigs ostalgischem Adoleszenzroman Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999), der zeitgleich als Filmadaption Sonnenallee erschien und für den er beim Drehbuch mit Detlev Buck und Leander Haußmann kooperierte. Die Komödie mit (prominentem) Soundtrack um den Ost-Teenager Micha, der seine Angebetete damit zu beeindrucken versucht, dass er sich in gefälschten Tagebüchern eine Dissidentenbiografie erträumt, war kommerziell in Deutschland sehr erfolgreich, jedoch nicht international. Gleiches gilt für das überraschende Regiedebüt des Filmhochschulabsolventen Hannes Stöhr, Berlin is in Germany (2001). In dieser Tragikomödie verkörpert der beliebte Schauspieler Jörg Schüttauf den Antihelden Martin, der die Wende im Gefängnis verpasst hat und sich bei seiner Entlassung nicht in dem neuen Land zurechtfindet.
Eine ähnliche Konstellation also wie in der Komödie Good Bye, Lenin! (2003), die zunächst vom deutschen Feuilleton fast einhellig verrissen wurde, jedoch enorme Einspielergebnisse, vor allem in deutschen, aber auch internationalen Kinos erzielte und mit dem Thema Ostalgie Zuschauer wie Kritiker in den verschiedensten Ländern begeisterte. Dem Publikumszuspruch folgten diverse Preise, vom Deutschen und Europäischen Filmpreis bis hin zu einer Golden-Globe-Nominierung als Bester ausländischer Film. In diesem Film versucht der junge Alex, für seine kranke Mutter, die die Wende im Koma verpasst hat, die Illusion der eigentlich untergegangenen DDR aufrechtzuerhalten, indem er ihr vorspielt, alles sei noch da und wie zuvor; ja er ‚verbessert‘ das Land sogar in seinen Fake News, in denen Westdeutsche in den Osten übersiedeln wollen. Am Ende wird deutlich, dass er dies alles unbewusst mehr für sich selbst tat als für die Mutter, weil ihm der Abschied von der Utopie des Sozialismus schwerfiel.
Unsere hier vorgestellten Romane stehen also am Anfang einer mehrjährigen Entwicklung des Ostalgie-Themas in Literatur und Film, bei dem die erfolgreichen Exemplare interessanterweise alle der Gattung Komödie angehören. Das Thema gewann zunehmend an Beliebtheit und kulminierte genau am Beginn des neuen Millenniums. Den Höhepunkt der Ostalgiewelle stellten die Jahre 2002/2003 dar. Im Spätsommer/Herbst 2002 löste das im September erschienene Bestseller-Sachbuch Zonenkinder von Jana Hensel eine intensive Diskussion im überregionalen Feuilleton aus. Im Februar 2003, auf der Berlinale, debütierte Good Bye, Lenin!, und im Sommer desselben Jahres wurden mehrere „Ostalgie-Shows“ in allen großen Fernsehsendern des Landes mit hohen Quoten[1] ausgestrahlt – ein hochumstrittenes Medienereignis.
All diese Beispiele werden kurz erläutert, um folgende Fragen zu beantworten: Wie und wieso entwickelte sich das Ostalgie-Phänomen in genau diesem zeitlichen Ablauf? Was für Formen und Aspekte von Ostalgie differenzierten sich aus: politisch, soziologisch oder kulturell, unterschieden in Alltags-, Pop- und Erinnerungskultur? Inwiefern steht dies im Zusammenhang mit Erinnerung, Vergangenheit und ihrer Bewältigung sowie Identität(-ssuche)?
Zeitliche Einordnung – Entwicklungsstadien
Grob vereinfachend kann man überschlagen: Die vier in diesem Wendereader vorgestellten Romane sind Wenderomane im engeren Sinne, denn sie thematisieren die Umbrüche in Ostdeutschland während und nach der Wende und der Wiedervereinigung. Sie spielen alle in der Jetztzeit ihres Erscheinens, den frühen 1990er-Jahren, und handeln von den Schwierigkeiten des Umbruchs und des Sich-Zurechtfindens in einer neuen Zeit und einem neuen Land. Damit sind sie zugleich Zeitdokumente und Wissensspeicher (siehe den Aufsatz von Uwe Spörl). Die DDR und das Leben in ihr erscheinen in Rückblenden im Vorher-Nachher-Vergleich – am wenigsten bei Sparschuh, am ausführlichsten in Wiesinger. Allen ist gemein, dass sie, verschieden in Form und Ausmaß, das Schreiben, Aufschreiben, Reflektieren und Festhalten der Erinnerung thematisieren und dramaturgisch in die Erzählstruktur einweben – was ihren Anspruch und ihre ästhetische Qualität über den Durchschnitt erhebt. In gewisser Weise ließe sich auch Brussigs Helden wie wir noch hier anschließen, insofern er die Entstehung des Mauerfalls herleitet und schildert. Dieser Höhepunkt des Wendeherbstes wird von den vier hier besprochenen Romanen ausgespart oder auf einer anderen, einer Phantasie-Ebene erzählt (Schirmer), was auch Brussigs Protagonist mit seiner grotesken Erklärung tut. All diese Bücher wollen wohl keine Ostalgie betreiben; gleichwohl haben viele Rezipienten diese Romane unabhängig von der Textintention „ostalgisch“ gelesen. Insofern kann man vielleicht zwischen einer offenen und versteckten Form der Ostalgie unterscheiden.
Dass die Verfilmungen von Helden wie wir und Der Zimmerspringbrunnen floppten, kann an der jeweiligen Machart und Umsetzung oder Ausstattung liegen, aber auch möglicherweise an einem Wandel des Zeitgeists hin von der Wendeerzählung zu Formen von Ostalgie, die sich in der zweiten Hälfte der 1990er vollzog. Damit ist gemeint, dass nun nicht mehr so sehr oder nur das Ankommen im vereinten Deutschland, sondern die (teils melancholische) Erinnerung und Rückbesinnung auf das vergangene Leben in der DDR in den Mittelpunkt rückte, der Alltag in ihr und oft auch dessen als schön empfundenen Seiten (mit Ausnahme von Berlin is in Germany).
Warum dies erst zum Ende des Millenniums passierte, ist leicht zu erklären: Die frühen 1990er waren vor allem geprägt durch den Wandel, die Anpassung an ein neues System, neue Gegebenheiten, Verarbeitung von Umbrüchen. Vor allem die Älteren hatten Brüche in ihrer Lebensplanung zu verkraften, mit Arbeitslosigkeit oder der Entwertung ihrer Bildungsabschlüsse zu kämpfen und versuchten vor allem, sich ihr Leben neu einzurichten, neu aufzubauen oder ihren Status zu erhalten. Die Jüngeren, die teilweise Ostdeutschland verließen, wollten vieles entdecken, den Westen erkunden, nicht nur die alte Bundesrepublik, sondern auch Europa und die ganze Welt; sie reisten und erschufen sich ein neues Leben. Alle mussten sich umstellen und „lernen, lernen und nochmals lernen“ (Lenin).
Auch wenn die meisten Ostdeutschen die DDR ja verabschieden und sich dem Westen angleichen wollten, so hatten sie die Disruption des Umbruchs und wie sich diese für sie anfühlen würde, sicher nicht vorhergesehen. Man führe sich nur vor Augen, dass am Tag vor der Währungsunion vom 1. Juli 1990 sämtliche Verkaufsflächen und Lager des Einzelhandels von Ostprodukten geräumt wurden, d.h. alle Regale leer waren, und am Montag, dem 2. Juli „überall und mit einem Schlag ein komplett erneuertes Warenangebot in den Geschäften“[2] lag – das westdeutsche. Nochmals: Genau das hatte die Mehrheit der Ostdeutschen gewollt und ersehnt, ja, sie selbst verweigerten es den ostdeutschen Herstellern, deren Produkte weiter zu kaufen. Dies verstärkte noch den sich schon in der DDR abzeichnenden und auf die Währungsumstellung dann rasch folgenden Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft.[3] Dass es dennoch eine psychologische Herausforderung sein könnte, das gesamte gewohnte Lebensumfeld zu verlieren und man Jahre später plötzlich Heimweh nach dem Geschmack einiger lebenslang konsumierter Nahrungsmittel entwickeln könnte, war da nicht abzusehen. Es änderte sich auch nicht nur die Produktwelt, sondern ebenso die Arbeitswelt, das Sozialleben, Kleidungsstile, Straßennamen, Postleizahlen, KFZ-Kennzeichen, öffentliche Ämter, Gesetze, das politische System, das Gesundheitssystem, einfach alles. Selbst die Fußgängerampeln wurden ausgetauscht und durch westdeutsche ersetzt, wobei die roten und grünen Männer-Piktogramme einfach nur anders aussahen und offensichtlich weniger schön designt waren als die ostdeutschen. Gegen diese unnötige und unsinnige Angleichung regte sich Jahre später Widerstand: Als 1997 das Buch vom Ampelmännchen im Eulenspiegel-Verlag erschien, gründete sich ein „Komitee zur Rettung der Ampelmännchen“, das schließlich den Umbau zurückdrehte und das Ampelmännchen zum ostalgischen Symbol ostdeutschen Widerstands gegen die komplette ‚Vereinnahmung‘ durch den Westen werden ließ.
Quelle: https://www.welt.de/motor/gallery130890331/Wie-menschlich-kann-eine-Ampel-sein.html (eingesehen am 17.2.2024).
Zu alldem kam noch die allmählich beginnende Digitalisierung, und die langsame Verbreitung von PCs und dem Internet. Es war also schlichtweg kaum Zeit oder Muße für Reflexion und Rückbesinnung. Die DDR war letztlich, trotz ihres einjährigen Siechtums vom Herbst 1989 bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, doch recht schnell und gründlich verschwunden, und es dauerte seine Zeit, bis sie von einigen wieder ausgegraben wurde – ob diese das Ziel hatten, etwas von ihr zu bewahren oder sie angemessen zu verabschieden / zu begraben, war oft unklar.
Das Ausmaß des Umbruchs und der Transformationsleistungen, aber auch der Enttäuschungen der Ostdeutschen wurden vielen Westdeutschen, wenn überhaupt, erst Jahrzehnte später bewusst, etwa bei hitzigen Debatten um ostdeutsche Befindlichkeiten zum 20- und 30-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung. Noch 2018 stellte die sächsische Integrations- und Gleichstellungsministerin fest:
Fast alle Gespräche endeten mit den persönlichen Erlebnissen der Menschen während der Nachwendezeit. Obwohl seitdem fast 30 Jahre vergangen sind, offenbarten sich unbewältigte Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, die die Menschen bis heute noch bewegen, unabhängig, ob sie sich nach 1990 erfolgreich durchgekämpft haben oder nicht. Es ging in fast allen Gesprächen um Lebensbrüche. Vor allem berufliche, aber auch private.[4]
Während in der öffentlichen Wahrnehmung bis heute die meisten Versuche, ostdeutsche Befindlichkeiten zu analysieren, auf ihre Diktaturerfahrung in der DDR rekurrieren, kam erst spät die Idee auf, dass die Wendezeit der frühen 1990er Jahre, der sich unser Wende-Reader widmet, eine mindestens ebenso gewichtige historische Erfahrung für viele Ex-DDR-Bürger war.
Stattdessen dominierte am Anfang der 1990er-Jahre das, was Martin Sabrow das „Diktaturgedächtnis“ nennt, also die politische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Dieser „Erinnerungsmodus“ sei „auf den Täter-Opfer-Gegensatz fokussiert“ und widme seine „Aufmerksamkeit vorrangig dem Macht- und Repressionsapparat des kommunistischen Regimes, und […] pocht darauf, dass zum Verständnis der DDR die Stasi wichtiger sei als die Kinderkrippe“. Dazu passte es, dass in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung eine Reihe von Stasi-Enthüllungen die Medien beherrschte; regelmäßig wurden neue bekannte Gesichter aus Politik, Film und Fernsehen, Kunst, Kultur und Wissenschaft als frühere IMs (Inoffizielle Mitarbeiter) der Stasi überführt. Die Stasi-Akten wurden durch das BSTU sukzessive zugänglich gemacht, und viele Ostdeutsche beantragten Einsicht in die über sie vorliegenden Unterlagen. So wurde das ganze Ausmaß des umfangreichen Bespitzelungsapparates der DDR öffentlich, was viele Ostdeutsche durchaus schockierte. Zugleich setzte jedoch auch eine Art Verteidigungshaltung ein, weil viele ehemalige DDR-Bürger unglücklich waren mit dem Eindruck, das ganze Land habe nur aus der Stasi bestanden und quasi jeder Zweite sei Spitzel gewesen. (Dass am Ende der 1980er-Jahre immerhin ca. einer von hundert IM war, ist allerdings eine historisch verbürgte Tatsache.)
Und so entwickelte sich laut Sabrow erst „mit stillem Trotz“ und dann „mit lauter Vehemenz“ ein „heute vielfach dominantes Arrangementgedächtnis, das vom richtigen Leben im falschen weiß“:
Das Arrangementgedächtnis verknüpft Machtsphäre und Lebenswelt. Es erzählt von alltäglicher Selbstbehauptung unter widrigen Umständen, aber auch von eingeforderter oder williger Mitmachbereitschaft und vom Stolz auf das in der DDR erreichte – kurz, es verweigert sich der säuberlichen Trennung von Biographie und Herrschaftssystem, die das Diktaturgedächtnis anbietet, und pflegt eine erinnerungsgestützte Skepsis gegenüber dem neuen Wertehimmel des vereinigten Deutschland, die zwischen ironischer Anrufung und ostalgischer Verehrung der ostdeutschen Lebensvergangenheit oszilliert. Es teilt mit dem Diktaturgedächtnis viele Orte, aber es verknüpft zugleich andere Erinnerungen mit ihnen und fühlt sich vom Blauhemd der FDJ nicht allein an die Zurichtung durch die Parteimacht erinnert, sondern auch an die glückliche Zeit der eigenen Jugend, und vom Einkaufsbeutel nicht nur an den deprimierenden Mangel an Waren, sondern auch an den einstigen Wert der Dinge.[6]
Dies ist das Biotop, in dem Ostalgie-Produkte wachsen können. Natürlich stehen beide Erinnerungsformen unweigerlich in einem Spannungsfeld zueinander. Denn wenn man das hier von Sabrow anzitierte Diktum Theodor W. Adornos ernst nähme – „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ –, dann wäre es schlichtweg schwer miteinander vereinbar, die Realität des repressiven Systems anzuerkennen und gleichzeitig, quasi davon unbekümmert, in Erinnerungen an das schöne Alltagsleben in ebenjenem System zu schwelgen. Um diesen Widerspruch kreisten letztlich alle Diskussionen zum Phänomen Ostalgie, wie sich noch zeigen wird.
Als ein drittes Erinnerungsmuster macht Sabrow das „Fortschrittsgedächtnis“ aus, welches „an der Idee einer legitimen Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung festhält“[7]. Es will den einstmals utopischen sozialistischen Entwurf einer neuen, besseren Gesellschaft bewahren und entschuldigt die misslungene Umsetzung mit allerlei Begründungen wie eigenen Fehlern, westlichem Einfluss oder unglücklichen Umständen – was aber die gute Idee nicht tangiere. Damit ist es im eigentlichen Sinne politisch nostalgisch. Eine solche Einstellung hatte eine Minderheit von vielleicht 15% – dies ist die Zahl von Befragten Ostdeutschen, die sich 1995 die DDR zurückwünschten.[8]
Schließlich mag ein Grund dafür, dass das Ostalgie-Phänomen erst in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre an Fahrt aufnahm und erst um die Jahrtausendwende so stark ins öffentliche Bewusstsein rückte, sein, dass die Unzufriedenheit der Ostdeutschen sich zunächst eher still entwickelte. Denn Beschwerden konnten ihnen schnell den Vorwurf eintragen, undankbare „Jammer-Ossis“ zu sein. Viele Ostdeutsche fühlten sich im öffentlichen Diskurs nicht gesehen, ihre Probleme und Leistungen nicht anerkannt, ja laut einer Umfrage 1995 zu 72% als „Bürger zweiter Klasse“.[9] Dies änderte sich ein wenig, als das Jahrhundert-Hochwasser der Elbe im Sommer 2002 große Aufmerksamkeit und Solidarität auf den Osten Deutschlands lenkte: „Vielleicht fing damit das Ende einer unnatürlichen, über zehn Jahre andauernden Stille an.“[10]
Beispiel 1 aus der Hoch-Zeit der Ostalgie 2002: Die Feuilleton-Debatte um Zonenkinder
Jana Hensels Sachbuch ist der Erinnerungsversuch einer jungen Frau, die beim Mauerfall erst 13 Jahre alt war und für die der Untergang der DDR somit vor allem das abrupte Ende ihrer Kindheit bedeutete. Dementsprechend bezeichnet sie beides ganz unpolitisch als „Märchenzeit“ und kündigt an, die verschütteten, „verlorenen Erinnerungen“ ausgraben zu wollen.[11]
Wenn sie dabei in rascher Aneinanderreihung die Schul-AGs, Völkerball im Schulsport, ABC-Zeitungen, Trommel, FRÖSI, oder Alfons Zitterbacke aufzählt[12], wenn sie Pioniernachmittage, Pionierhalstücher, Altpapiersammlungen für Nelson Mandela, „Subbotniks“ und Fahnenappelle in der Schule, den vorgeschrieben Kampf gegen den Imperialismus und für den Sozialismus herunterrattert, entsteht der Eindruck, DDR-Kinder seien genau die perfekten Jung- und Thälmannpioniere gewesen, die sich Margot Honecker immer gewünscht hat.
Das mag daran liegen, dass sie, wie sie selbst zugibt, das meiste schon vergessen und sich durch Recherche wieder angelesen hatte[13] – und bei einer Suche nach schriftlichen Zeugnissen findet man eben am ehesten das, was von Staats wegen organisiert und vorgegeben war. Nicht aber das, was sich die Jugendlichen daneben selbst zusammenorganisierten, dass es zum Beispiel einen regen illegalen Tauschhandel gab, bei dem aus dem Westen eingeschmuggelte Bravos herumgingen, die man selbstverständlich nach Bummi und FRÖSI las, oder dass die Jugend komplett auf westliche Musik fixiert war, die sie vom Westradio per Kassettenrekorder zu Mixed-Tapes aufnahm und dann tauschte, oder eingeschmuggelte West-Kassetten kopierte. Nun sind individuelle Erlebnisse ja unterschiedlich, und niemand hat die Deutungshoheit darüber, wie jedes Leben in der DDR verlief; womöglich war Hensels Kindheit genauso, wie sie sie schildert. Doch dass es die Westmusik-Fixierung der Jugend gegeben hat, lässt sich belegen: Man kann heute noch Egon Krenz danach fragen, der als damaliger Chef der FDJ die Umfragen hierzu in den Händen hielt, wie ihnen die Jugend entglitt und letztlich sogar Konzerte von internationalen Musikern erlaubte, um dem Bedürfnis Abhilfe zu schaffen.[14] Vielleicht war Hensel für all das einfach noch zu jung.
Auch wenn sie die sozialistische Indoktrination an der Schule so beschreibt, dass alle sie brav mitgemacht haben[15], ist das nicht falsch, unterschlägt aber, mit welch subversiver Unlust dies erfolgen konnte: Z.B. in dem Abschnitt über die sozialistische Jugendweihe, die sie beschreibt, als hätte sie sie noch selbst mitgemacht, und bei der sie das Gelöbnis und das Sozialismus-Buch, was alle bekamen, Vom Sinn unseres Lebens, hervorhebt, gar behauptet: „Ich liebte solche Bücher.“[16] Tatsächlich hat eher niemand dieses Buch gelesen, und wenn 20 bis 30 Vierzehnjährige im Chor „Ja, das geloben wir!“ sagten, wurde seltsamerweise oft das erste „e“ verschluckt, sodass es klang wie „Ja, das glooben wir“, was in den Dialekten, die in großen Teilen der DDR gesprochen wurden, „glauben“ hieß – und die betont lustlose Art, mit der es gesagt wurde, verkehrte diesen zu bekundenden Glauben an den Sozialismus ins glatte Gegenteil. Erstaunlich erscheint auch die Behauptung, sie habe jedem Geburtstag der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ am 13.12. entgegengefiebert, als sei es Weihnachten, und in der Nacht zuvor noch Pionierbluse und Halstuch überprüft.[17]
Überzeugend ist Hensel dort, wo sie die Nachwendejahre der „zwittrigen Ostwestkinder“[18] schildert, die rasch vom Westen gelernt hatten und von diesem auf den ersten Blick nicht mehr zu unterscheiden waren, jedoch bei Treffen mit Westdeutschen oder auf internationalen Reisen feststellen mussten, dass sie deren Kindheitserinnerungen zwischen Donald Duck, Lucky Luke oder Asterix und Obelix nicht teilen und nichts hinzufügen konnten und sich wie ‚maskierte‘ Außenseiter fühlten[19]. Dieses Vakuum einer verschwundenen Vergangenheit konnte tatsächlich Identitätskrisen auslösen, galt allerdings vor allem für den Teil ihrer Generation, der den Osten Deutschlands in den 1990er-Jahren verlassen hatte, nicht für jene, die in ihrer Heimat blieben und ihr Sozialleben weiterhin mit Menschen verbrachten, welche die gleiche Geschichte erlebt hatten.
Die Gier nach Akzeptanz und das Überanpassungsverhalten ihrer stark am Westen orientierten Generationsgenossen (z.B. in Bezug auf Kleidung und Stil) beschreibt sie sehr einleuchtend, wenn auch als über Jahre hinweg persistenten Minderwertigkeitskomplex ein bisschen übertrieben, beinahe neurotisch. Ähnlich nachvollziehbar, aber in seiner überheblichen Härte erschreckend, wirken ihre Schilderungen des Sich-Schämens für die eigenen, abgehängten Eltern.
Hensels knappes Buch wurde so intensiv und kontrovers diskutiert, dass zu dieser Debatte wiederum ein eigenes Buch erschienen ist: Die Zonenkinder. Die Geschichte eines Phänomens. Der Herausgeber stellt fest, dass ein Hauptvorwurf an Hensel der ‚Anmaßung‘ des „Wir“ galt, mit dem sie für eine ganze Generation spricht und das nur für eine kleine Kohorte von Altersgenossen gilt, die zwischen Mitte der 1970er und Anfang der 1980er geboren waren – und die ihre kindliche, unkritische Wahrnehmung der DDR eventuell teilen konnten.[20]
Für diese identitätssuchende Kohorte bietet es jedoch ein starkes Identifikationsangebot. Während im gleichen Zeitraum etliche Romane oder Erzählungen von Wendekindern erschienen[21], welche differenzierte individuelle Geschichten aus dieser Zeit erzählten, war Hensels Sachbuch wohl deshalb das erfolgreichste von allen, weil sie dementgegen tatsächlich mit ihrem „Wir“ eine Gruppenzugehörigkeit offerierte.
Offenbar hat Hensel dies kalkuliert und ausdrücklich einen Gegenentwurf zu Florian Illies‘ westdeutscher Generation Golf (2000) geschrieben, in dem die DDR praktisch nicht vorkam.[22] Wie sehr sie sich in die in den 1990er-Jahren erfolgreiche westdeutsche Popliteratur einschreibt, wird augenfällig, wenn man einmal ihre Aufzählung ostdeutscher Gegenstände, Schrifttitel u.ä. mit Christian Krachts permanenten Marken-Nennungen in Faserland (1995) vergleicht.[23]
Ein weiterer Vorwurf, oft gerade von Ostlern erhoben, galt der Verklärung der DDR und dem Mangel an Analyse, während die von ihr angestrebte Zielgruppe von Lesern mit Begeisterung reagierte. Alexander Cammann hat hierfür eine Erklärung, die einer möglichen Definition von Ostalgie gleichkommt:
Es geht in Jana Hensels Text nicht um die Erinnerung an die DDR oder um die Umbrucherfahrung nach 1989. Denn sie erinnert sich nicht an ihre DDR-Kindheit, sondern versucht sie zu empfinden. Dieser Unterschied ist nicht zu unterschätzen: Die DDR mutiert im Rückblick zu einem DDR-Gefühl.[24]
Beispiel 2 aus der Hoch-Zeit der Ostalgie 2003: Fernsehshows
Als wolle es Jana Hensels Wunsch erfüllen, den verlorenen Erinnerungen an den Alltag in der DDR nachzuspüren, stürzte sich plötzlich das Fernsehen auf das Thema. Während es im Privatfernsehen schon länger Retro-Shows aus westlicher (meist popkultureller) Sicht gegeben hatte (etwa die „80er-Show“ oder die „70er-Show“), wurde das Gleiche nun erstmals für die DDR veranstaltet. Es kam im Jahr 2003 zu einem Hype bzw. einer Aufmerksamkeitskonkurrenz auf praktisch allen relevanten Sendern:
Unter Druck gesetzt von einer frühzeitigen Ankündigung des privaten Senders RTL, beeilt sich das ZDF – einer der beiden öffentlich-rechtlichen Hauptkanäle –, am 17. August, also als erster Sender, die beiden ostdeutschen Moderatoren Marco Schreyl und Andrea Kiewel „Die Ostalgie-Show“ präsentieren zu lassen. Im ebenfalls öffentlich-rechtlichen Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) zitieren ab dem 22. August die Prominenten Gunter Emmerlich (Sänger und ehemaliger Moderator im DDR-Fernsehen) und Franziska Schenk (ehemalige Eisschnellläuferin der DDR) mit dem Titel ihrer sechsteiligen Show „Ein Kessel DDR“ die ehemals beliebte ostdeutsche Unterhaltungssendung „Ein Kessel Buntes“. Im Privatsender SAT.1 rekapitulieren am 23. und 30. August der ostdeutsche Ex-Boxer Axel Schulz und der westdeutsche Journalist und Moderator Ulrich Meyer in „Meyer & Schulz – Die ultimative Ost-Show“ Alltagsgeschichten aus der DDR. Ebenfalls ein ‚gemischtes Pärchen‘ bietet der Privatsender RTL für seine vierteilige „DDR-Show“ ab dem 3. September: der beliebte westdeutsche Moderator Oliver Geissen und die weltberühmte ostdeutsche Eiskunstläuferin Katarina Witt (Ost).
Der Auftakt, die 90-minütige „Ostalgie-Show“[25] ist eine Tour de Force durch die DDR-Kultur: Kiewel und Schreyl rattern nur so durch die Themen und erlauben ihren ostdeutschen Gästen oft bloß ein, zwei Sätze, bevor sie sie gleich wieder abmoderieren. Kiewel kündigt anfangs an, sich erinnern, „aber nicht in Erinnerungen schwelgen“ zu wollen. Doch die beiden in den 1970ern geborenen Moderatoren, die also ihre eigene Kindheit behandeln[26], tun genau das: Den Anfang macht eine Vorstellung verschiedener Modelle des typischen DDR-Autos „Trabant“ (Zweitakter, Chassis aus Duroplast, nicht aus Metall, daher im Volksmund abschätzig „Plastebomber“ oder „Pappe“ genannt). Gefragt, warum es von der Bestellung bis zur Auslieferung eines „Trabbis“ 12 Jahre dauerte, referiert der Leiter des Automobilmuseums in Dresden stolz, die Nachfrage habe halt das Angebot überstiegen und das Auto sei schließlich auch ins Ausland, nicht nur das sozialistische, sondern sogar ins westliche, exportiert worden.
Standbild aus der Fernsehsendung „Die Ostalgie-Show“, ZDF, hier aus dem FAZ-Artikel[27]
Dann werden westdeutsche Fernsehkollegen nach ostdeutschen Abkürzungen befragt, die sie kaum kennen (können), und schon folgt ein großer Block zu den sportlichen Erfolgen der DDR. Auf den Sport hatte die DDR (genau wie die Sowjetunion und der gesamte Ostblock) großen Wert gelegt, weil sich so internationales Renommee und Glanz erzielen ließ. Dazu diente ein ausgefeiltes Jugendauswahl- und Fördersystem, aber auch systematisches Doping, das schon bei Teenagern, manchmal ohne deren Wissen, angewendet wurde. Die Ostalgie-Show stellt begeistert mehrere Weltmeister oder Olympiasieger vor, ohne diesen Umstand auch nur mit einem Wort zu erwähnen.
Bei den Ost-Produkten werden die Moderatoren ganz aufgeregt – „könnt ihr euch daran noch erinnern?!“ – über die Süßigkeiten „Halloren-Kugeln“ und „Schlager Süßtafel“ oder das Knäckebrot „Filinchen“, das es noch immer zu kaufen gibt. Der „Polizeiruf 110“, die ostdeutsche Antwort auf den „Tatort“, wird ebenso gewürdigt wie die Musik- und Unterhaltungsbranche der DDR. Dabei wird der Eindruck erzeugt, alle Ostdeutschen hätten diese Ost-Sendungen gesehen, obwohl viele bevorzugt Westfernsehen schauten, was als Faktum gar nicht erwähnt wird, und obwohl einige Gäste kurz zugaben, dass sie eigentlich eher Westmusik aus dem Radio gehört hätten. Ein Gast, der Sänger Björn Casapietra, besteht darauf, einzuwerfen, dass die berühmten Ost-Bands „Puhdys“ und „Karat“ doch für die Jugend „Opa-Rock“ gewesen seien und man stattdessen „Silly“ und „Pankow“ gehört habe – er zitiert sogar einen regimekritischen Text von „Pankow“, aber die Moderatoren gehen nicht darauf ein.
Als nach über einer Stunde drei Unterhaltungsstars befragt werden, die in den 1980ern in die Bundesrepublik geflohen sind, erwähnt Winfried Glatzeder (Die Legende von Paul und Paula) „Schwierigkeiten“ in der DDR, Udo Schenk (Dach überm Kopf) sagt zum ersten Mal das Wort „Stasi“ und dass er nicht mehr drehen durfte, als er die Mitarbeit abgelehnt hat; die Sängerin Ute Freudenberg beschwert sich, dass im Westen niemand auf sie gewartet habe und es sei gut, dass die Mauer gefallen ist, damit sie zu ihrem Publikum nach Weimar zurückkehren konnte. Ganz zum Schluss redet der erste Westdeutsche, der ehemalige Ost-Berliner Korrespondent des ZDF, Michael Schmitz, plötzlich von „Regime“ und „Stasi“, die sein Büro verwanzt und ihm mehrfach mit Ausweisung aus der DDR wegen kritischer Berichterstattung gedroht hatte. Doch auch dafür verblieb wenig Zeit.
Interessanterweise haben die Macher als Alltag lediglich Fernsehen & Unterhaltung, Sport, Autos und Nahrungsmittel bzw. Produkte definiert. Das eigentliche Alltagsleben, in einer Plattenbauwohnung oder auf dem Dorf, die Schule mit Tafelwerk, Staatsbürgerkundeunterricht und Fahnenappell, Ausbildung, Arbeitsleben mit Brigade und Patenbrigade, Literatur, Urlaub, Liebe, Familie, Freundschaften und Sozialleben spielen keine Rolle. So bleibt die Sendung doppelt selbstreferenziell: Eine Unterhaltungssendung im Fernsehen präsentiert die Fernsehunterhaltung der DDR, vor allem für Rentner (laut Studien[28] seit jeher das Hauptpublikum des ZDF), die besonders viel Zeit vor dem Fernseher verbringen.
All das löste Kritik in den Medien aus. Michael Hanfeld hält in seinem Text „Erinnerungsgegacker“ in der FAZ das „Grauen als Sendung, das nackte, kalte Grauen“ für einen „Fall für den Fernsehrat“[29] (die Beschwerde- und Überprüfungsstelle). Er findet die- „Verharmlosung und subkutane[] Verklärung eines Regimes“ „nicht mal unterhaltsam, an keiner einzigen Stelle ironisch gebrochen, sondern mit unheiligem Ernst hölzern bemüht, ein Kaffeekränzchen auszurichten, bei dem vierzig Jahre deutsche Nachkriegsgeschichte mit ein paar Happen verfrühstückt wurden“ und schließt mit dem bösen, den weiter oben beschriebenen Widerspruch vom ‚richtigen Leben‘ übertragenden Satz:
Ob sie dereinst in Südkorea, wenn Kim Jong-il und Konsorten hoffentlich bald am Ende sind, auch mal so etwas machen? So lustig war das Hungerleben in Pjöngjang? Der letzte macht den Witz aus. Erich hätte seine Freude an diesem Stück Fernsehgeschichte des Klassengegners gehabt und Eduard Schnitzler sowieso.
Die Aufnahme bei ostdeutschen Zuschauern war wohl gespalten. 4,78 Millionen Zuschauer hatten die Sendung gesehen, was einem Marktanteil von 21,8 Prozent entspricht, und jeder dritte sei nach Angaben des ZDF aus den neuen Ländern gewesen. Die Mitteldeutsche Zeitung sammelte eine Bandbreite von Stimmen zur Show[30], zwischen den beiden Polen:
Erich Loest (77), Schriftsteller aus Leipzig und zu DDR-Zeiten aus politischen Gründen sieben Jahre in Bautzen inhaftiert:
Ich fand die ganze Sendung in ihrer schamlosen Verniedlichung einfach widerwärtig. Bezeichnend ist, dass eine solche Show aus Mainz – und eben nicht aus Leipzig, Halle oder Dresden kommt. Was sich die Verantwortlichen beim ZDF dabei wohl gedacht haben?
Lydia Poteracki (59), Köthen, ehemals Krankenschwester, jetzt arbeitslos:
Mir hat die Sendung gefallen. Sie hat ein Stück unserer gelebten Vergangenheit gezeigt und Menschen ins Gedächtnis gerufen, die Besonderes geleistet haben wie Gaby Seyfert oder Waldemar Czierpinski. Die Zeit, an die erinnert wurde, ist auch ein Stück meiner Identität.
Dazwischen viele halb kritische Stimmen, u.a.:
Sabine Hahn (42), Verwaltungsangestellte in Sangerhausen:
Manches war amüsant, man hat in der Sendung vieles wieder erkannt. Allerdings finde ich nicht gut, dass jetzt fast jeder Sender so eine Ostalgie-Show ins Programm nimmt. Ein wenig hat man da doch den Eindruck, dass man sich auf Kosten der DDR-Leute lustig machen will.
Dementgegen stellt ein Journalist die launige These auf, dass inkognito als Westdeutsche eingeschleuste Ostdeutsche das Westfernsehen unterwandert und sich nun verabredet hätten, die DDR zu rehabilitieren, weshalb all diese Shows zeitgleich entstanden.[31] Alle würden mitmachen, nur die ehemaligen DDR-Bürgerrechtler nicht: „Rainer Eppelmann sieht eine ‚fürchterliche Bagatellisierung der DDR‘ und Günter Nooke fragt, was das wohl für ein Geschrei gewesen wäre, wenn nicht Kati Witt eine DDR-Show, sondern Johannes Heesters eine Dritte-Reich-Show moderieren würde?“[32] Schon im Jahr 2000 hatte Martin Schröder vor der „kuscheligen“ Verharmlosung und nostalgischen Verklärung gewarnt.[33]
Den Abschluss des Reigens von Ost-Shows macht im September 2003 RTL mit der „DDR-Show“[34], die sich immerhin vier Teile Zeit ließ für ihr Thema. Ausgerechnet der sonst eher als schmuddelig angesehene Privatsender nimmt die Vorwürfe ernst und verspricht, ein ausgewogenes Bild zu zeichnen. Schon in der Anmoderation benutzt der westdeutsche Moderator Oliver Geissen das Wort „Diktatur“. Für die Verniedlichung sorgt eher eine sich naiv gebende Katharina Witt, die in Jungpionier-Uniform erscheint und den netten Side-Kick gibt. Nach dem lustigen Nachmischen von wüsten Mix-Getränken und Erinnerungen an das wilde Partyleben in Osten wagt die Show einen rabiaten Schnitt und zeigt ausführlich die Geschichte eines 14-jährigen Mädchens, das acht Jahre lang in verschiedenen Straflagern inklusive Einzelhaft verbringen musste, weil sie mit Lippenstift auf einem Stalin-Bild dessen Bart angemalt hatte. Der Aufstand vom 17. Juni wird gewürdigt, kulturpolitische Interventionen wie der „Lipsi“ oder die 60-40-Regelung zum Abspielen von DDR-Musik im Verhältnis zu ausländischer erklärt; der Kampf gegen die gefährliche Westmusik erläutert. Neben Ost-Camping, FKK, Sport, Musik, Mode, Frisuren, Kosmetik, Pittiplatsch und dem Sandmännchen werden Mauerbau und Mauertote, auch Fluchtgeschichten im Stile einer Dokumentation eingeflochten; Geissen führt ernsthafte Kurzinterviews mit Zeitzeugen. Insofern kann man konstatieren, dass sich die Macher hier um eine erschöpfende Behandlung der DDR bemüht haben, aber auch, dass es im Grunde den Charakter einer Aufklärung der Westdeutschen darüber, wie es in der DDR war, hatte.
Tatsächlich kommen manche Kritiker zu dem Schluss, dass die „DDR-Welle im Fernsehen […] eine reine West-Erfindung“ sei, so Holger Witzel aus Leipzig in einem wütenden, spitzzüngigen Essay mit dem Titel „Das Märchen von der Ostalgie“[35]:
Mit jeder neuen Sendung wird das kleine graue Land bunter. Ein Potpourri aus „Weißt du noch?“ und alten Klischees: Broiler, Busen und Bananen. Zuerst scheuchte das ZDF zwei vorlaute Jungpioniere durch eine „Ostalgie-Show“, in der vor lauter Stolz kein Mensch ausreden konnte, […] und im Grunde kann man nur froh sein, dass Erich Honecker tot ist, sonst hätte der auch längst seine eigene Show. […].
Und wegen so ein paar Unannehmlichkeiten haben sich mehr als 1000 Leute auf der Flucht erschießen lassen? Kaum zu glauben, dass Zehntausende so bescheuert waren und lieber ins Gefängnis gingen, statt beim Kessel Buntes mitzuschunkeln. […]
Die böse DDR ist langweilig. Jetzt kommt mal die andere Seite dran, „die schönen Erinnerungen“. Und die will sich niemand von Doping oder Mauertoten vermiesen lassen, erst recht nicht von ein paar griesgrämigen Bürgerrechtlern, die gar eine „Verharmlosung der SED-Verbrechen“ fürchten. Als wenn es nur das wäre! Die eigentliche Frechheit ist die Attitüde, mit der nun „das wirkliche Leben drüben“ entdeckt wird. Auf einmal, nach 13 Jahren, wird den Ossis zugestanden, sich doch nicht nur den ganzen Tag gegenseitig bespitzelt, sondern nebenbei auch mal gelacht, geliebt und halbwegs menschenwürdig überlebt zu haben. Das ist der Gipfel der Arroganz. Womöglich sollen sie dafür noch dankbar sein.
Wenn es überhaupt so etwas wie Ostalgie gibt, dann sicher nicht im Osten. […] Nach der Tragödie kommt die Komödie und schließlich die Farce. Weil es keine Sonderabschreibungen für Immobilien mehr gibt, eignet sich der Westen nun das an, was er für Ostalgie hält, macht Fernsehshows und Geschäfte daraus. […]
Dafür hängt nun die hässliche Trainingsjacke der Nationalen Volksarmee in Supermärkten. Sie kostet zehn Euro und hängt im Osten wie Blei, sagen die Verkäufer. Niemand, der diese Jacke einmal tragen musste, zieht sie freiwillig wieder an, nicht einmal Axel Schulz, für den sie zur Uniform gehörte – nur ein Wessi wie Oliver Geissen von RTL bringt das fertig. Nach Auskunft der real-Zentrale in Mönchengladbach wird sie von einem Hersteller in Westdeutschland nachgemacht, „der aber nicht genannt werden will“. Die Idee stammt ebenfalls von einem westdeutschen Mitarbeiter, so Pressesprecherin Silke Wimmers. „Schon unsere DDR-T-Shirts haben sich so gut verkauft“, sagt sie, „aber kurioserweise fast nur im Westen.“
Hierzu passt, dass es der Produktdesigner Markus Heckhausen aus Tübingen war, der die Kampagne zur Rettung des Ost-Ampelmännchens initiierte und sich die Rechte daran mit einer GmbH patentieren ließ.[36] Auch das Moment, dass eine DDR-Empfindung für interessierte Westdeutsche nachgebaut wird, gab es schon in den Jahren zuvor, am auffälligsten vielleicht 1999 im „Hotel Sittavia“ im sächsischen Zittau, in denen die Westbesucher nicht nur in einer originalgetreu ausgestatteten ehemaligen Offiziershochschule logieren, sondern sogar ein Reenactment betrieben wird: „An der Hotelrezeption hängt ein rotes Plakat mit der ‚Straße der Besten‘ – VEB-Jargon für verdiente ‚Helden der Arbeit‘, dazu natürlich ein Bild von Erich Honecker, mit Trauerflor. Hier erledigt der Gast die Einreiseformalitäten, bekommt seinen ‚Pass‘ mit Bild und Stempel und muss seine Valuta in Ost-Mark umtauschen.“[37] Sogar das Personal soll einen barschen Ton an den Tag legen und ein Schauspieler engagiert werden, der am Schlagbaum den Grenzer mimen und im Stechschritt herummarschieren soll. Der sächsische Ex-Innenminister Heinz Eggert (CDU) hält das für „Grusel-Tourismus à la Obersalzberg“: „Die machen doch hier einen Ost-Zoo für Westbürger.“[38]
Analyse: Varianten von Ostalgie
Um eine ausgewogene definitorische Analyse des Ostalgie-Phänomens hat sich Thomas Ahbe mehrfach bemüht, der die möglichen Wertungen „verurteilenswerte DDR-Nostalgie“, „berechtigte Form der Erinnerung“, „erfolgversprechende Geschäftsidee“ und „besondere Art ostdeutscher Selbstbehauptung“ aufführt.[39] Nach einer langen Analyse der Umbrüche, Enttäuschungen und Verlusterfahrungen diagnostiziert er eine „Diskurs-Lücke“, d.h. „ein großes Bedürfnis, sich über die Erfahrungen wie auch die Neubewertung der DDR-Zeit zu verständigen und ebenso über die spezifisch ostdeutschen Probleme in der Gegenwart“, dem jedoch Medien und Politik nicht entgegenkamen, weshalb die Ostalgie als „eine Art Laien-Diskurs über Vergangenheit und Gegenwart der Ostdeutschen“ sie füllte.[40]
Der Ostalgie der 1990er Jahre kann man drei Funktionen zuschreiben. Zum einen diente Ostalgie als eine Art Relativierung, die unangenehme Wahrheiten über die Eigengruppe oder das eigene Leben zurückweisen will. Zum anderen stellt Ostalgie eine Art Selbsttherapie dar, die die Auswirkungen der in den 1990er Jahren erfolgten geschichtspolitischen Kolonisierung der Ostdeutschen ausgleicht. Und schließlich ist Ostalgie ein kommerzielles Konzept, das einen Markt geschaffen hat und Bedürfnisse wecken will, die auf diesem Markt befriedigt werden sollen.[41]
Es gilt also, verschiedene Aspekte von Ostalgie zu unterscheiden. Da wäre zum einen auf der unpolitischen Warenebene die Rückbesinnung auf einst vertraute Produkte, die (Kindheits-)Erinnerungen wecken, in denen man schwelgen kann. Das emotionale Gedächtnis von Menschen dockt stark an Gerüche und Geschmäcker an. So essen Manche aus der Nachkriegsgeneration heute noch gern das ‚Armeleute-Essen‘ ihrer Kindheit wie etwa Kartoffelsuppe – trotz enormer Auswahl feinster Speisen und Spezialitäten aus aller Welt – weil damit Gefühle (von Vertrautheit) transportiert werden.
Solche zutiefst menschlichen Gefühle wurden von der Werbebranche geschickt aufgegriffen, indem diese (keineswegs hochwertigen) Ostprodukte mit dem Versprechen der Authentizität wieder salonfähig gemacht wurden, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt angesichts des enormen Stellenwertes, den der Wunsch nach Westwaren in der DDR gehabt hatte. Es hatte ja einen Grund, dass man im Osten Westprodukte bevorzugte, wenn man ihrer habhaft werden konnte. Somit entstand auf der kommerziellen Ebene die Vermarktung einer ganzen Reihe von Ostprodukten als Kultobjekte und Life-Style-Produkte. Wenn und insofern manche Käufer dieser Produkte jedoch glauben, damit eine (mitunter irrationale) Kapitalismuskritik zu üben, so unterliegen sie wohl einem Irrtum, denn in dem Bedürfnis, ‚Gefühle zu kaufen‘, unterscheiden sie sich nicht von anderen Konsumenten.
Als Sonderform sind wohl die speziell für den Westler kreierten Ostalgieprodukte wie das Hotel Zittavia zu sehen, deren Anschein von Authentizität vorgibt, etwas über die Lebensumstände im damaligen Osten zu lehren, doch zugleich Abgrenzung, vielleicht auch Belustigung und das Gefühl, wie gut man es doch hat, so nicht leben zu müssen, erzeugt.
Sodann ist die Ostalgie einer Sonderform der allgemeinen Nostalgie. Der Begriff wurde zwar bereits 1688 als medizinischer Fachbegriff von einem Schweizer Arzt erfunden, in den nächsten Jahrhunderten jedoch meist als räumliche Sehnsucht verstanden und erfuhr eine größere und populärere Verbreitung als zeitliche Sehnsucht erst ab den 1960er Jahren im englischen Sprachraum und ab den 1970ern in Deutschland.[42] In dieser Zeit (Beginn des Informationszeitalters) wurden der Fortschrittsglaube brüchig und die Zukunftsängste größer, ja, es war sogar vom Future Shock (Buch von Alvin Toffler) die Rede, der entsteht, wenn zu viel (technologischer) Wandel in zu kurzer Zeit stattfindet und die Menschen überfordert. Dies kann man sicher auf den Modernisierungsumbruch im Osten Deutschlands anwenden. Das Phänomen könnte grundsätzlich noch älter sein, da viele Kulturen eine „Golden-Age“-Theorie aufweisen.
Hinzu kommt der neurobiologisch nachgewiesene grundsätzliche Hang von Menschen, mit zunehmendem Alter die Vergangenheit zu verklären („Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die schönen Stunden nur“), besonders die eigene Jugend, die prägenden Jahre (so wie der Schlusssatz des Films Sonnenallee).[43] Der Volksmund fasst dies in dem meist falschen, aber dennoch beliebten Satz zusammen: „Früher war alles besser.“
Will man eine solche Haltung auf die DDR-Vergangenheit übertragen, muss man einige unliebsame Aspekte, wie die permanente ideologische Indoktrinierung und das Leiden der wirklich Schikanierten ausblenden, wovon man selbst nicht betroffen war. Aufgrund der schon genannten Entwertungserfahrungen und des Verlusts der eigenen Vergangenheit scheint dies einigen, sei es aus Trotz, Selbstbehauptung oder Eigennutz, erstaunlich leicht zu gelingen.
Schließlich kann Ostalgie als Antwort auf Identitätskrisen einiger Vertreter der Generation der Wendekinder wie Jana Hensel, Kiewel oder Schreyl gelesen werden, selbst oder gerade bei denen, die dezidiert einen Aufbruch in die neue weite Welt gewagt haben, doch dort dann mit niemandem ihre Erinnerungen teilen oder kommunizieren konnten. Und andererseits fiel ihnen das Ausblenden besonders leicht, da sie Repressionen nie erfahren oder wahrgenommen hatten und sich eine Erinnerung an eine DDR bauen konnten, die es so nie gegeben hatte. Es stellt sich also die Frage nach eventuellen altersspezifischen Variationen von Ostalgie.
Eine mögliche Gegenreaktion auf Abwertungserfahrungen und das Sich-angegriffen-Fühlen kann eine verstärkte Identifikation mit der Ostidentität sein, ein Rückzug auf die Ursprungsidentität, weil man sich nicht als Gesamtdeutscher angenommen fühlt. In Kraushaars Sammelband wird mehrfach auf eine Umfrage von 2001 verwiesen, der zufolge sich 80% der Menschen in den neuen Ländern stark oder ziemlich stark mit dem Raum Ostdeutschland verbunden fühlten, während der Wert im Westen auf 44% gesunken war.[44] Dies ist wirklich auffällig, lässt sich aber zum Teil damit erklären, dass schon vor dem Mauerbau 2,7 Millionen Menschen aus der DDR geflohen waren und im Wendejahr nochmals mehr als eine Million, sodann schließlich in den 1990er-Jahren weitere zwei Millionen auf der Suche nach Arbeit und besseren Chancen in den Westen abwanderten. Da liegt es nahe, dass die Dagebliebenen offensichtlich eine größere Heimatverbundenheit aufwiesen.
Doch wie verhält es sich mit dem ostalgischen Spiel mit dezidiert politisch-ideologischen Produkten/Symbolen wie dem Pionierhalstuch, dem Bier „Roter Oktober“ etc.? Ist das nur Koketterie oder ernsthafte Sehnsucht nach ideologischem Inhalt? Der „verdiente Aktivist und Kaderleiter Ralf Heckel“, der die eingangs erwähnten Ostalgie-Partys in Berlin organisierte, auf denen nicht nur Ost-Musik gespielt und Ost-Getränke gereicht wurden, sondern auch mit Pioniertüchern, FDJ-Hemden oder in Uniformen von Rote-Armee-Generalen getanzt und sogar ein Lenin-Denkmal aufgestellt wurde, besteht auf ersterem: „Das ist die Symbolik einer vergangenen Zeit, die Besucher genießen es, das anziehen zu dürfen, ohne es zu müssen. Sie stehen über den Dingen, es ist ein Fasching.“[45] Er erklärt es also zu einem karnevalesken Spiel mit Ideologie, die damals ein Korsett war und die man heute ironisch brechen, über die man sich befreit lustig machen kann. Die Wiederholung der Geschichte als Farce (Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte), die Austreibung böser Geister durch Reenactment und ihr Verlachen, das Lächerlich-Machen in Form einer Party. Dies passt als postmoderne popkulturelle Lesart durchaus in die 1990er Jahre.
Doch es gab, wie gesagt, auch eine kleine Minderheit, für die Ostalgie das Festhalten an einem sozialistischen Weltbild und die Trauer über sein Scheitern beinhaltete. Und dies nicht nur bei Ostdeutschen, sondern auch einige Westdeutsche, die die Marktwirtschaft immer abgelehnt und Sympathien oder Hoffnungen in den östlichen Gegenversuch gesetzt und deshalb auch die Wiedervereinigung abgelehnt hatten, beteiligten sich an dieser ‚Trauerarbeit‘. Als Beispiel zu nennen wäre die Schriftstellerin Gisela Elsner, deren Enttäuschung über den Fall der Mauer und über den Zustand des von ihr idealisierten Ostdeutschlands in den Suizid mündet, was ihr Sohn Oskar Roehler in dem Film Die Unberührbare (2000) nachzeichnet. Oder die Terroristin der „Bewegung 2. Juni“ und der RAF Inge Viett, die die 1980er inkognito und glücklich in der DDR verbracht hatte, und in ihrem im Gefängnis geschriebenen Buch Nie war ich furchtloser (1997) die Solidarität der von der Wiedervereinigung enttäuschten Ostdeutschen für ihre nie aufgegebene sozialistische Utopie beschwört.
Inwieweit Ostalgie statt all dieser Varianten eine Praxis des kulturellen Gedächtnisses oder eine selbstbestimmte Wiederaneignung der Vergangenheit, eine spielerisch-selbstbewusste Referenz auf die eigene Identität sein kann, muss offenbleiben. Dazu wäre eine intensive Auseinandersetzung der Ostdeutschen untereinander, miteinander über ihre gemeinsame Vergangenheit und ihre verschiedenen Perspektiven darauf vonnöten. Dies wurde jedoch durch die permanente ‚Frontstellung‘ gegenüber einer als hegemonial wahrgenommenen Westperspektive und Diskursdominanz erschwert und hat nicht hinreichend stattgefunden, wie Henryk Broder schon 1995 feststellte:
Diese Art der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte funktioniert nur da, wo Ossis unter sich bleiben. Ein Auftauchen von Wessis ruft sofort Trotz- und Abwehrreaktionen hervor. Kaum haben sich Ossis untereinander darauf verständigt, daß der „DDR-Mief“ eigentlich unerträglich war, bringt sie die Wessi-Frage „Wie habt ihr es da nur ausgehalten?“ dazu, die „guten Seiten“ der DDR hervorzukehren, zum Beispiel das Sozialversicherungsbuch, das jeder Bürger der DDR hatte und „wo alles drin stand, was man für die Rente brauchte“.[46]
Der Verweis auf die große Verschiedenheit und Ausdifferenziertheit ostdeutscher Wahrnehmungen und Erfahrungen muss hier ausdrücklich erfolgen: Die umfänglichen bisherigen Ausführungen sollen nicht den Eindruck erwecken, dass alle oder auch nur viele Ostler ostalgisch sind – auch wenn es schwer messbar ist, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass vielleicht sogar eine klare Mehrheit nie etwas mit Ostalgie am Hut hatte. Als Phänomen vor allem der späten 1990er-Jahre, das zu reizvollen Interpretationen anregt, erfuhr es verstärkte kulturwissenschaftliche Aufmerksamkeit. Doch sollte man es wiederum nicht überbewerten – im Gegensatz zu politischer Enttäuschung und geschwundenem Vertrauen in die Demokratie, was ein weit ernsthafteres Problem für die Gesellschaft darstellt.
Von den hier vorgestellten Wenderomanen ist eigentlich keiner nostalgisch, und doch tippen sie das Phänomen auf verschiedene Weise an: In Schirmers Giraffe gibt es einen Ostalgiker, Professor Bröckle, der eine Kneipe „Zur alten DDR“ eröffnet; in Wonnebergers Wiesinger bezieht sich eine gewisse Nostalgie des Protagonisten anscheinend auf seinen rebellischen Widerstand in der DDR, der so sehr zu seiner Identität gehörte, dass er ohne politischen Gegner im vereinten Deutschland noch missmutiger und kritischer wird. Am wenigsten Ostalgie kommt bei Hensels Tanz vor – hier erscheint eher das „Diktaturgedächtnis“, aber auch eine Kritik an der voyeuristisch-journalistischen Vermarktung traumatischer Erfahrungen aus Sensationslust.
Jens Sparschuh, der seinen burlesken Bestseller[47] Der Zimmerspringbrunnen 1995 veröffentlichte und wohl in den Jahren zuvor, vielleicht 1992-94, schrieb, erkannte das Thema Ostalgie zeitig, ohne sie selbst zu betreiben. Weder romantisiert oder verklärt er die DDR, noch zitiert er umfangreiche (Alltags-)Erinnerungen. Vielmehr zeichnet er mit seinem Protagonisten Lobek das Bild eines Typus von Wendeverlierer, der genau dafür anfällig ist: Sein Leben war teilweise in der DDR besser als momentan (wertgeschätzte Arbeit, funktionierende Ehe), seine Realität ist trostlos (Arbeitslosigkeit, Scheitern der Ehe, Vereinsamung), und er erlebt auf seiner Reise in den Schwarzwald einen Kulturschock, der die ‚verlorene Heimat‘ DDR als Rückzugs- und Gegen-Ort evoziert. Zudem malt Sparschuh Ostalgie nicht anhand von Beispielen aus, sondern präsentiert sie als Metapher: in Form des Zimmerspringbrunnens „Atlantis“, bei dem eine Platte mit dem Umriss der DDR und dem Fernsehturm aus dem Wasser emporsteigt.
Zum einen kritisiert er Ostalgie damit bereits als etwas, das sich sowohl in kitschiger Form als auch im denkbar überflüssigsten Gebrauchsgegenstand manifestieren kann. Zum anderen ist bei ihm das politisch-ideologische bzw. verklärende Moment in der Metapher der untergegangenen Utopie enthalten (obwohl Lobek in seinen Erinnerungen die DDR mit den nie reparierbaren Wohnungen keineswegs als perfekt schildert und auch sonst nicht politisch erscheint). Und er hat den kommerziellen Aspekt – das Modell verkauft sich wie verrückt – hellsichtig vorausgesehen. Bei ihm sind es jedoch nicht Westdeutsche (Fernsehsender, Patentanmelder, Textilfirmen), die davon profitieren, sondern ein Ostberliner, der damit ausgerechnet in der westlichsten aller Branchen, der Vertreterbranche, zum Star aufsteigt. Die Doppelbödigkeit einer ostalgischen Erinnerung, die selber zum Konsumgut wird, hat er also bereits präzise erfasst.
[1] Dies zu einem Zeitpunkt, als das Fernsehen noch als das gemeinschaftsstiftende Leitmedium angesehen werden konnte. Die 2000er waren vielleicht das letzte Jahrzehnt, in dem das noch galt, bevor sich der Konsum von Nachrichten wie auch Unterhaltung, besonders bei jüngeren Menschen, aufs Internet verlagerte und damit durch selektives Viewing zersplitterte.
[2] Ahbe, Thomas. Ostalgie. Zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit in den 1990er Jahren. Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2005, S. 16.
[3] „Ein Jahr nach der Währungsunion schätzten die Wirtschaftswissenschaftler Gerlinde und Hans-Werner Sinn in einer ersten Bilanz ein, dass ‚die Schärfe der ostdeutschen Depression ohne Beispiel in der neueren Wirtschaftsgeschichte‘ sei. ‚Selbst die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1928 bis 1933 hat keine vergleichbaren Wirkungen gehabt.‘ […] Die effektive Arbeitslosenquote stieg von praktisch Null zu Beginn des Jahres 1990 über 7,2 Prozent im Juli 1990 und auf 25 Prozent im Frühjahr 1991. Zum Jahreswechsel 1991/92 hatte die effektive Arbeitslosenquote den Wert von 30 Prozent erreicht. […] Insgesamt ging die Beschäftigung in Ostdeutschland bis zum Ende des Jahres 1991 von etwa 9,3 Millionen bis 9,7 Millionen Personen auf effektiv 5,2 Millionen Personen zurück, und im zweiten Quartal 1992 wurde die 5-Millionen-Grenze unterschritten.“ Ebd., S. 26 und 28.
Besonders die hohe Arbeitslosigkeit hatte einen verheerenden psychologischen Effekt bei Menschen aus einem Land, in dem diese als „asozial“, ja kriminell galt (Asozialenparagraph 249 StGB), in dem sie verboten war (es gab ein Recht auf und eine Pflicht zur Arbeit in der Verfassung). Tatsächlich hatte zwar bereits in der DDR eine verdeckte Arbeitslosigkeit existiert, etwa bei Künstlern, aber auch in der Produktion: „Geht man in der DDR von bisherigen Produktions- und Absatzbedingungen aus, so wird die verdeckte Arbeitslosigkeit auf 15% der Gesamtbeschäftigung, das sind 1,4 Mill. Beschäftigte, geschätzt. Weitere Fakten belegen dies: tägliche Stillstandszeiten der Produktion im Durchschnitt 18-25%, Arbeitszeitausfall von 11%, Ausfallzeiten bei Materiallieferungen in Höhe von 13%. Eine andere Ursache liegt in dem auf 2-15% der Gesamtbevölkerung geschätzten personellen Aufwand für soziale und politische Aufgaben.“ Vogler-Ludwig, Kurt. „Verdeckte Arbeitslosigkeit in der DDR.“ In: ifo Schnelldienst, München: ifo Institut für Wirtschaftsforschung, 1990, 43, Nr. 24, 03-10. Jedoch war all dies versteckt und verdeckt, sodass die Ostdeutschen später mit der enormen offenen Arbeitslosigkeit überfordert waren.
[4] Köpping, Petra. Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten. Berlin: Ch. Links Verlag, 2018, S. 9.
[5] Sabrow, Martin. „Die DDR erinnern.“ In: Erinnerungsorte der DDR. Hg. von Martin Sabrow. München: Beck, 2009, S. 11-27, hier S. 18. Siehe auch Materialien zur Wende-Geschichte.
[6] Ebd., S. 19.
[7] Ebd.
[8] „Stolz aufs eigene Leben.“ In: Der Spiegel #27 2. Juli 1995. https://www.spiegel.de/politik/stolz-aufs-eigene-leben-a-2e1e2c36-0002-0001-0000-000009200687?context=issue (eingesehen am 11.2.2024).
[9] Ahbe, S. 39.
[10] Kraushaar, Tom. „Vorwort“. In: Ders. (Hg.). Die Zonenkinder und Wir. Die Geschichte eines Phänomens. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2004, S. 7-10, hier S. 7.
[11] Hensel, Jana. Zonenkinder. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2007, S. 13-14.
[12] Ebd., im Kapitel 1, „Das schöne, warme Wir-Gefühl. Über unsere Kindheit“, S. 11-26.
[13] Thieme, Manuela. „Adieu, Pittiplatsch.“ In: Kraushaar, S. 47-53, hier S. 49.
[14] Vgl.: Ludwig, Janine. „Der Kalte Krieg der Kulturen: Wie die DDR den Kampf gegen die Rockmusik verlor.“ In: Glossen #45. https://blogs.dickinson.edu/glossen/home-2/glossen-45-2020/ii-kulturgeschichtliche-aanalysen-der-kalte-krieg-der-kulturen-wie-die-ddr-den-kampf-gegen-die-rockmusik-verlor/.
[15] Hensel, Kapitel 5, „Ja, das geloben wir! Über unsere Erziehung“, S. 83-112.
[16] Ebd., S. 94.
[17] Ebd., S. 113-114.
[18] Ebd., S. 54, vgl. S. 166.
[19] Ebd., S. 25.
[20] Kraushaar, Vorwort, S. 8-9. Dies umreißt ziemlich genau die „3. Generation Ost“: https://netzwerk.dritte-generation-ost.de/ (eingesehen am 18.2.2024).
[21] Auffällig ist die Häufung von Texten meist junger Autoren zum Thema Jugend in der DDR und danach, die nicht alle ostalgisch sind, aber der Rückbesinnung verpflichtet, oft autobiografisch, um 2000 herum, z.B.: Hennig, Falko. Alles nur geklaut. Augsburg: Maro, 1999. Schindhelm, Michael. Roberts Reise. München: DVA, 2000. Schoch, Julia. Der Körper des Salamanders. Erzählungen. München: Piper Verlag, 2001. Hein, Jakob. Mein erstes T-Shirt. München: Piper Verlag, 2001. Strubel, Antje Ravik. Offene Blende. München: dtv, 2001. Gläser, Andreas. Der BFC war schuld am Mauerbau. Ein stolzer Sohn des Proletariats erzählt. Berlin: Aufbau, 2002. Simon, Jana. Denn wir sind anders. Die Geschichte des Felix S. Berlin: Rowohlt, 2002. Hennig, Falko. Trabanten. München: Piper, 2002. Klier, Freya. Wir Brüder und Schwestern: Geschichten zur Einheit. Berlin: Ullstein, 2002. Sander, Gregor. Ich aber bin hier geboren. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2002. Koch, Roland (Hg.). Der wilde Osten. Frankfurt a.M.: Fischer, 2002. Kubiczek, André. Junge Talente. Berlin: Rowohlt, 2002. Kubiczek, André. Die Guten und die Bösen. Berlin: Rowohlt, 2003. Oskamp, Katja. Halbschwimmer. Zürich: Ammann Verlag, 2003. Zöllner, Abini. Schokoladenkind. Meine Familie und andere Wunder. Berlin: Rowohlt Verlag, 2003. Rusch, Claudia. Meine freie deutsche Jugend. Frankfurt a.M.: Fischer, 2004. Schmidt, Jochen. Müller haut uns raus. München: dtv, 2004. Hinzu kommen mehrere Sachbücher, die Unterschiede Ost-West analysieren.
Übrigens gab es um die Jahrtausendwende ebenfalls eine auffällige Häufung von Filmen zur RAF – also einem traumatischen Thema der alten Bundesrepublik – die nach der offiziellen Selbstauflösung der dritten Generation 1998 sofort einsetzte. Diese Form der ‚West-Aufarbeitung‘ lief also parallel.
[22] Vgl. Weidermann, Volker. „Glückskinder der späten Geburt.“ In: Kraushaar, S. 12-16, hier S. 13-14.
[23] Vgl. außerdem das Close Reading vis à vis Judith Hermann in: Camman, Alexander. „Auf der Suche nach dem DDR-Gefühl.“ In: Kraushaar, S. 61-73, hier S. 68.
[24] Ebd., S. 65.
[25] Auszüge auf YouTube zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=RvljZms845g, https://www.youtube.com/watch?v=N-GkOj-rHHk (eingesehen am 9. Februar 2024).
[26] Kiewel beschreibt selbst in einem Interview zur Show ihren ostalgischen Ansatz: „Mein Kollege Marco Schreyl und ich versuchen einen ganz persönlichen Blick zurückzuwerfen. Wir hatten beide eine sehr unbeschwerte Kindheit. Ich hatte niemals Kontakt zur Stasi. In meinem ganzen Verwandtenkreis ist keiner verfolgt worden. Es gab keine Dissidenten. Es gab keine Regime-Kritiker, niemanden, der im Stasi-Knast sitzen musste. Ich kann aber sehr wohl verstehen, dass Leute, die drangsaliert worden sind, sich an alles andere gern erinnern würden als an das. Es war also nicht alles schlecht? Die DDR nur als Diktatur für 17 Millionen Menschen hinzustellen ist falsch. Natürlich sind da immer wieder Dinge dabei, wo man sagt: ‚Mein Gott, das hätte ja auch nicht sein müssen. Wie haben die sich doch angestellt.‘ Doch gerade meine Generation, die lange nach dem Bau der Mauer aufgewachsen ist, ist da viel entspannter. Die Mauer ist 1989 gefallen. Irgendwann ist auch mal gut.“ Scharz, Florian A. „Ein bisschen wehmütig.“ In: Berliner Zeitung 16. Aug. 2003. https://www.berliner-zeitung.de/archiv/moderatorin-andrea-kiewel-ueber-die-ostalgie-show-mit-der-das-zdf-den-reigen-der-ddr-sendungen-eroeffnet-ein-bisschen-wehmuetig-li.1124456 (eingesehen am 8. Februar 2024).
[27] Hanfeld, Michael. „‚Ostalgie-Show‘: Erinnerungsgegacker“. In: FAZ 19. Aug. 2003, Nr. 191, Seite 37. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ostalgie-show-erinnerungsgegacker-1113776.html (eingesehen am 10. Februar 2024).
[28] https://www.dwdl.de/magazin/60418/wie_die_sender_gealtert_sind__und_wer_sich_dagegen_stemmt/
[29] Ebd.
[30] „ZDF-Ostalgieshow: Schamlose Verniedlichung oder Erinnerung an das Gute?“ In: MZ 18. Aug. 2003. https://www.mz.de/mitteldeutschland/zdf-ostalgieshow-schamlose-verniedlichung-oder-erinnerung-an-das-gute-2980000 (eingesehen am 8. Februar 2024).
[31] Jauer, Marcus. „Ostalgie im Fernsehen: Seid bereit? Immer bereit!“ In: Süddeutsche 22. Aug. 2003. https://www.sueddeutsche.de/kultur/ostalgie-im-fernsehen-seid-bereit-immer-bereit-1.801088 (eingesehen am 11. Februar 2024).
[32] Ebd.
[33] Schröder, Martin Z. „Meine DDR war nicht kuschelig. Eine Polemik gegen den Jubelsturm der Erinnerung.“ In: Berliner Zeitung 22. Jan. 2000. https://www.berliner-zeitung.de/archiv/eine-polemik-gegen-den-jubelsturm-der-erinnerung-meine-ddr-war-nicht-kuschelig-li.982674 (eingesehen am 11.2.2024).
[34] Sie ist heute noch auf YouTube zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=Q-eJtmeooUM, https://www.youtube.com/watch?v=bCCegSSpack, https://www.youtube.com/watch?v=tKJ3iTkJI88,
[35] Witzel, Holger. „Das Märchen von der Ostalgie.“ In: Stern 2. Sep. 2003. https://www.stern.de/kultur/film/ddr-shows-das-maerchen-von-der-ostalgie-3505454.html (eingesehen am 11. Februar 2024).
[36] Ebd., S. 54.
[37] Brink, Nana. „Ost-Zoo für West-Bürger. Im sächsischen Zittau lockt ein Hotelunternehmer Gäste mit original DDR-Atmosphäre, vom Honecker-Bild bis hin zum Kumpeltod.“ In: Der Spiegel #48, 28. Nov. 1999. https://www.spiegel.de/politik/ost-zoo-fuer-west-buerger-a-fa4b5eda-0002-0001-0000-000015158104 (eingesehen am 11. Februar 2024).
[38] Ebd.
[39] Ahbe, S. 7.
[40] Ebd., S. 43.
[41] Ebd., S. 65.
[42] Becker, Tobias. Yesterday: A New History of Nostalgia. Cambridge: Harvard University Press, 2023, u.a. S. 119 und 176.
[43] Vgl. McAndrew, Frank T. „This is why you’re still thinking about high school. The evolutionary psychology of nostalgia.“ In: Washington Post, June 6, 2016. https://www.researchgate.net/publication/303857205_The_Evolutionary_Psychology_of_Nostalgia Or: Waldman, Katy. „The Mysteriously Memorable 20s. Why do we remember more from young adulthood than from any other time of our lives?“ In: Slate, Jan 18, 2013. https://slate.com/technology/2013/01/reminiscence-bump-explanations-why-we-remember-young-adulthood-better-than-any-other-age.html
[44] Weidermann (in Kraushaar), S. 12.
[45] Walter, Birgit. „Warum wird das die letzte Ostalgie-Nacht?“ In: Berliner Zeitung 1. Okt. 1999. https://www.berliner-zeitung.de/archiv/warum-wird-das-die-letzte-ostalgie-nacht-li.1102397 (eingesehen am 11. Februar 2024). Vgl. https://www.berliner-zeitung.de/archiv/das-geschaeft-mit-dem-genau-so-war-s-effekt-blueht-am-sonnabend-in-treptow-zum-letzten-mal-die-ddr-in-der-arena-li.638021 und https://www.tagesspiegel.de/berlin/zum-letzten-mal-findet-die-ostalgie-nacht-statt-und-lenin-dient-als-werbegag-617911.html.
[46] Broder, Henryk M. „Wir lieben die Heimat.“ In: Der Spiegel #27 2. Juli 1995. https://www.spiegel.de/politik/wir-lieben-die-heimat-a-10109c64-0002-0001-0000-000009200715?context=issue (eingesehen am 11. Februar 2024).
[47] Als Besteller gilt in Deutschland bereits der Verkauf von 90.000 Exemplaren, die dieser Roman erreichte – was jedoch weit entfernt ist von den mehreren Millionen Zuschauern, die man mit Kino; Fernsehen oder Streaming erreichen kann.