Nov 2024

Auszüge aus der Erzählung mit Diskussionsvorschlägen

Thema 1: Obdachlosigkeit, Status, Gleichheit, Elite, Adel
Thema 2: Schreiben
Thema 3: Unzuverlässiges Erzählen
Thema 4: Queerness

Thema 1: Obdachlosigkeit, Status, Gleichheit, Elite, Adel

„– Die lachen über von, die lachen mich aus, ich will nicht mehr zur Schule, ich will nicht von heißen, keiner heißt von, wir sind eine sossalistische Schule, wir“. (S. 23)[1]

„In der Caritas wird es Abendbrot geben. Eine nützliche Einrichtung, man fällt nicht ins letzte Loch, sondern bekommt zu essen, Kleidung, Waschmöglichkeiten. Man ist noch wer. Aber die meisten Menschen wissen nicht, wer sie sind. Saufen und pennen – ein Leben! Die wissen nicht ihre Geschichte zu erzählen. Sind einfach abgefallen. Ganz nach unten. Ich gehöre nicht zu ihnen.“ (S. 37)

„– Was du alles hast.

– Und noch viel mehr, gab ich an.

Ich organisierte für Katka Pasteten und eine Flasche Bier. […]

– Oh, meine Prinzessin, dienerte Katka und hob den Saum ihres schmuddeligen Strickkleides. […]

– Hopphopp, und nun Schuhe putzen!

Katka spuckte auf meine Hausschuhe. Sie verlor die Lust. Ich malträtierte sie weiter.

– Kämm mir die Haare!

Katka wollte nicht hören, ich schubste sie gegen die Wand.

– Ich hab dich reingelassen.

Wir waren betrunken vom Bier und von Mutters Hochzeitskleid. Katka wollte Prinzessin sein. Ich verbot es ihr. Weiß nicht, was es war, das mich so streng zu ihr sein ließ – eine kühle Wut, Ekel vor ihrer Nichtigkeit oder die versteckte Lust davonzulaufen.“ (S. 47f.)

„Die Erdnuß telefoniert.

– Eine ffon Haßlau, jaja, ffon, sie gibt sich als solche aus! kläfft der Polizist in die Muschel. Ich finde mich in der Aufnahme der psychiatrischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses. Schon wieder, denke ich. Höre Worte wie asozial und durchgeknallt.

– NEIN! sage ich. Ich will das alles nicht, ich bin Schriftstellerin.“ (S. 49)

„Mein Mann hat sein Prestiesch verloren, hörte ich Mutter zu Frau Schramm sagen, als sie ihr in der Küche beim Bohnenschnippeln half. Ich ahnte, daß es etwas Wichtiges für Vater sein mußte, und begann heimlich in der Wohnung und auf der Straße danach zu suchen.“ (S. 50)

 

Fragen zur Diskussion

 

  • Welche Formen von Status/Prestige in der Gesellschaft werden in der Erzählung verhandelt? Machen Sie eine abgestufte Liste, welche Berufe und Lebensformen den größten bzw. geringsten Status bringen, welche Figuren welchen Rang und Status haben!
  • Ordnen Sie insbesondere Gabriela in diese Statusleiste ein!
  • Wie ging die DDR mit Status und Elite um? Und warum? Wie war das im Vergleich zu anderen Gesellschaften, früher und heute?
  • Wieso war und ist (in der DDR und auch danach) Gabriela eine Außenseiterin?

 

Thema 2: Schreiben

„Es ist kein Zufall, daß mir das Schicksal dieses Papier bringt, denn ich bin auserwählt zu schreiben. Zu nichts sonst auf der Welt, als mein Leben zu erzählen; an diesem Tag werde ich damit beginnen.“ (S. 7)

„Es war das Wort meines Vaters. Mir gehörten Wörter wie Violine, Pastete, Mozart. Auch Onkel Schorschs Worte gehörten mir: Heiamachen, Ringelgehen, Muckschsein. Vater verbot Onkel Schorschs Worte – sie seien schlechtes Deutsch und überhaupt“. (S. 10)

„Zwei halbrunde Bogen Tütenpapier. Voll beschrieben. Ich spüre Zukunft in mir: Es könnte etwas werden mit meiner Geschichte, ein Erfolg, der mich von diesem Punkt auf einen höheren versetzt – unter der Brücke hervor, vielleicht in ein eigenes kleines Zimmer, vielleicht noch höher, aber was ist das: Höher? Ich habe keine Vorstellung mehr davon, und wenn ich von einer höheren Welt schreibe, tu ich es als eine Fremde.“ (S. 36f.)

„Ich schlage aus, was mir das Sozialamt bietet: Arbeit im Waschsalon oder Postzustellerin. Ich kann nicht, will nicht. Meine Geschichte hält mich gefangen. Einmal wache ich nachts auf: Im Traum war ich zusammengezuckt, der Schmerz wie eine Ernüchterung: Wo bin ich? Ich schreie, zittere, das Unfaßbare: Unter einer Brücke. Auf Decken und Pappen wie der letzte Penner. Der letzte Arsch.“ (S. 48)

„Finde mich auf der Straße, die ich seit Wochen bewohne, erinnere mich meiner Mission. Schreiben, nur noch Schreiben.“ (S. 50)

 

Fragen zur Diskussion

  • Was ist Schreiben für die Protagonistin?
    • Erfüllung?
    • Befreiung?
    • Gefängnis?
    • Eskapismus?
    • Statussymbol?
    • identitätsstiftend?
  • In welcher Beziehung stehen Worte, aber auch Namen, zur Realität? Wer verleiht ihnen Bedeutung?
  • Wie unterscheiden sich die drei Formen des Schreibens in dem Text? Aufschreiben der Geschichte, für sich selbst – Schreiben für die Stasi (Berichte) – Schreiben für die feministische Zeitung Mammilia?

 

Thema 3: Unzuverlässiges Erzählen

„Es kam ein Lohnstreifen. Wofür? dachte ich.

Gardinen, Handtücher, Teppiche waren gewaschen. Seitdem tat ich nichts mehr. Heiß’ ich Binka? Heiß’ ich Ehlchen? Die Nachbarsleute tuschelten hinter mir her. Ich schrieb und schrieb. Verrückte unwirkliche Geschichten. Voller Fehler, voller Stolz. Queck trat ein, brachte Zeit, machte Mut. Wofür? Wirst sehen. Keiner geht verloren. Wen soll ich wiederfinden? Nur nicht aufwachen. Aufwachen war das Schlimmste.“ (S. 98)

„Aber ich werde Paffrath ohne alles empfangen. Der in seiner Uniform! Nackte empfängt Polizisten. Schlagzeile in der MAMMILIA. Das wäre es! Die Nummer! Ich muß meine Geschichte zu Ende bringen, einen großen Knall erfinden, damit ich ‘rauskomme aus dem letzten Loch.“ (S. 113)

 

Frage zur Diskussion

  • Wie zuverlässig sind Gabrielas Erzählungen? Unterscheiden Sie dabei auch zwischen den Berichten für die Stasi, den Erzählungen für die Frauenzeitschrift und Gabrielas Schreiben für sich selbst?

 

Thema 4: Queerness

„Frau Popiol hob mich hoch. Sie war eine starke wunderschöne Frau, ich schwebte in ihren Armen, flog vor Angst, vor Glück. Am Abend erzählte ich das Glück meinen Eltern. (S. 21)

„Ich wollte Frau Popiol erklären, daß nur sie mir helfen kann, daß nur sie weiß, wohin mit mir – und der Kuß, erinnere sie sich nicht – nein, ich habe noch keinen Jungen geküßt, und die Musik, erinnern Sie sich nicht mehr?“ (S. 65)

„Ich fürchtete, graulte mich aber mit Lust, denn Katkas Gegenwart gefiel mir. Katka tanzte. Sie legte ihre schmutzigen Kleider am Uferrand ab, bis sie ganz nackt war, und forderte mich auf, das gleiche zu tun. Erst schämte ich mich und hatte Angst, der Dreck des Kanals könnte meine Haut angreifen, aber Katka erzählte von Elfen, die, je länger sie tanzten, um so schöner wurden.“ (S. 31)

 

Fragen zur Diskussion

  • Wie lässt sich Gabrielas geschlechtliche Identität beschreiben?
  • Welche Personen beeinflussen diese und auf welche Weise?

[1] Alle Textzitate folgen der Taschenbuchausgabe: Hensel, Kerstin. Tanz am Kanal. Erzählung. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch, 1997.

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