Dec 2020

III. Kulturgeschichtliche Analysen: Deutsche Hymnen im Vergleich

Deutsche Hymnen im Vergleich:

 

Vorschläge für den interaktiven

 

Sprach- und Geschichtsunterricht

 

Janine Ludwig, Dickinson College, Bremen, Berlin, Germany

 

Die Genese der deutschen Nationalhymne ist faszinierend und kompliziert. Anhand ihrer wechselvollen Geschichte über 180 Jahre hinweg lässt sich exemplarisch und „in a nutshell“ die dramatische und problematische deutsche Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute nachvollziehen. Deshalb eignet sich dieses Thema hervorragend für den Deutschunterricht – eine mögliche Unterrichtseinheit von 1-4 Stunden wird hier vorgestellt.

Sie empfiehlt sich für Studenten der Mittelstufe (Europäischer Referenzrahmen B1 und B2); Übersetzungshilfen für ungewöhnliche Worte sind beigefügt. Passende Bilder, Landkarten und Musikstücke sind jeweils eingefügt. Alle vier Teile können im Prinzip getrennt bzw. unabhängig voneinander behandelt werden; der vierte und letzte, auf Europa verweisende Teil empfiehlt sich aufgrund des Schiller’schen Gedichtes eher für B2-/C1-Niveau. Die Unterrichtseinheit ist interaktiv angelegt, d.h. die Studenten werden zum Rätseln, Nachschlagen, Interpretieren, Argumentieren aufgefordert. Schließlich kann der gesamte Komplex „schwieriges Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation/Geschichte/Vergangenheit/Hymne/Flagge“ im kontrastierenden Vergleich mit der eigenen, US-amerikanischen Hymne/Flagge/Geschichte und dem eigenen Verständnis von Patriotismus als Diskussionsgrundlage dienen.

Man erläutere den Studenten kurz die Tatsache, dass es in relativ rascher Abfolge die deutsche Kleinstaaterei, das Kaiserreich (1871-1918), die demokratische Weimarer Republik (1918-1933), das faschistische Dritte Reich (1933-1945) und zwei in Ost vs. West geteilte deutsche Staaten (DDR und BRD, 1949-1990) gab sowie seit dem 3.10.1990 das vereinte Deutschland besteht.

 

1. Teil : Nachkriegszeit und geteiltes Deutschland

Dann lege man ihnen folgenden Text vor (ohne die Unterstreichungen, die hier zur späteren Interpretation vorgeschlagen sind) und frage, in welchem Land dieser wohl die Nationalhymne (gewesen) sei:

Auferstanden aus Ruinen
und der Zukunft zugewandt,
lass uns dir zum Guten dienen,
Deutschland einig Vaterland.
Alte Not gilt es zu zwingen,
und wir zwingen sie vereint,
denn es muss uns doch gelingen,
dass die Sonne schön wie nie
über Deutschland scheint,
über Deutschland scheint.

Glück und Frieden sei beschieden
Deutschland, unserm Vaterland.
Alle Welt sehnt sich nach Frieden,
reicht den Völkern eure Hand.
Wenn wir brüderlich uns einen,
schlagen wir des Volkes Feind.
Lasst das Licht des Friedens scheinen,
dass nie eine Mutter mehr
ihren Sohn beweint,
ihren Sohn beweint.

Lasst uns pflügen, lasst uns bauen,
lernt und schafft wie nie zuvor,
und der eignen Kraft vertrauend,
steigt ein frei Geschlecht empor.
Deutsche Jugend: bestes Streben
unsʼres Volks in dir vereint,
wirst du Deutschlands neues Leben.
Und die Sonne schön wie nie
über Deutschland scheint,
über Deutschland scheint.

Übersetzungshilfen:
auferstehen aus = to rise from; die Ruine (Pl. -en) = ruin(s); sich etwas zuwenden = to turn to; dienen = to serve; einig = one, in unity; die Not = misery, hardship; es gilt etwas zu tun = sth. needs to be done; zwingen = to force; vereinen = to unify; gelingen = to succeed in; jdm. etw. beschieden sein = sth. to be granted to sb.; sich nach etw. (Dativ) sehnen = to yearn for; jdm. die Hand reichen = to extend one’s hand to sb.; schlagen = to beat; das Volk = the people; der Feind = the enemy; beweinen = to beweep, cry over; pflügen = to plow; schaffen = to create, produce; zuvor = before; die Kraft = strength, power; vertrauen = to trust; emporsteigen = to rise up; das Geschlecht = hier: (human) race, elsewhere: gender, species; das Streben = the striving; scheinen = to shine, elsewhere: to seem

 

 

Wegen der Zeile „Deutschland einig Vaterland“ vermuten die Studenten häufig, dass es die Hymne des heutigen, vereinten Landes sei. Tatsächlich handelt es sich aber um die im Oktober/November 1949 entstandene Nationalhymne der DDR, verfasst von dem sozialistischen Dichter und ersten DDR-Kulturminister Johannes R. Becher (1891-1958) zu der Musik von Hanns Eisler (1898-1962).

 

Nationalhymne der DDR, Text nach Leben Singen Kämpfen. Liederbuch der deutschen Jugend (1954) (Foto: Wikipedia)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Meist wundern sich die Studenten, dass in dem Land, von dem sie gehört haben, es sei gegen die deutsche Einheit gewesen, eine Formulierung wie „Deutschland einig Vaterland“ erlaubt und sogar prominent war. Da haben sie natürlich völlig recht, denn dies war nur am Anfang der Fall. Man kann hier kurz die Entstehung der deutschen Zweistaatlichkeit erläutern: 1945 wurde das besiegte Dritte Reich entsprechend der Festlegungen der Konferenz von Jalta in vier Besatzungszonen (amerikanisch, britisch, französisch, sowjetisch) aufgeteilt. Dann vereinigten sich die drei westlichen Zonen sukzessive zur „Trizone“ und führten eine gemeinsame Währung, die D-Mark ein, was Stalin wütend mit der Abriegelung der in der sowjetischen Besatzungszone gelegenen Enklave Westberlin beantwortete, der wiederum die USA mit der Luftbrücke (Berlin Airlift) widerstanden. Schließlich erfolgte am 23. Mai 1949 die Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD, engl.: Federal Republik of Germany, FRG) und am 7. Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik (DDR, engl.: German Democratic Republic, GDR).

Dennoch wurde diese Zweiteilung von beiden deutschen Staaten anfangs noch nicht als endgültig verstanden: Die Bundesrepublik hatte in die Präambel ihres Grundgesetzes das sogenannte „Wiedervereinigungsgebot“[1] aufgenommen, also den verfassungsrechtlichen Auftrag, eine Wiedervereinigung anzustreben; da es nach wie vor ein Deutschland als Ganzes gebe. Die DDR wurde nicht als eigenständiger Staat völkerrechtlich anerkannt, sondern als diktatorisch besetzter Teil gesehen, für den die Bundesrepublik sich nach wie vor zuständig erklärte („Alleinvertretungsanspruch“ für das gesamte deutsche Volk). Auch die DDR bezeichnete in ihrer ersten Verfassung von 1949 im Artikel 1 „Deutschland [als] eine unteilbare demokratische Republik“ mit nur einer deutschen Staatsangehörigkeit für das „deutsche[] Volk[] in seiner Gesamtheit“.[2] Die zweite Verfassung von 1968[3] benannte zwar bereits die Teilung und avisierte die „Herstellung und Pflege normaler Beziehungen und die Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten“, hielt aber am Ziel einer „Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung“ fest (Artikel 8 Abs. 2). Der Artikel 1 beharrte mit seinem ersten Satz – „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation“ – trotz der Trennung in zwei Staaten auf der sozusagen auf einer höheren Ebene stehenden, übergreifenden deutschen Nation. Dieser Begriff wurde schließlich in der dritten und letzten Fassung der Verfassung 1974 getilgt und ersetzt durch: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern.“ Damit hatte die DDR die Zweistaatlichkeit für sich besiegelt, während die Bundesrepublik das Wiedervereinigungsgebot bis 1990 in ihrem Grundgesetz behielt, obwohl sich Stimmen mehrten, es aufzugeben. In diesem Zusammenhang wurde bereits seit 1971 – dem Jahr, in dem Erich Honecker die Macht übernommen hatte – die DDR-Hymne nur noch instrumental, also ohne Text, gespielt.

 

 

Nun kann man mit den Studenten den Text interpretieren, um etwas über das Selbstverständnis der DDR in ihrer Anfangszeit herauszufinden. Fragt man danach, welches Substantiv am häufigsten vorkommt, so findet sich – neben Deutschland – das Wort „Frieden“ mit dreimaliger Nennung. Dies passt zur Selbstinszenierung der DDR als sogenannte „Friedensmacht“, was auch in einem häufig benutzen Bild der (von Pablo Picasso übernommenen) „Friedenstaube“ symbolisiert wird. Weiterhin findet sich zweimal „Volk“ und einmal „Völker“, woran man erläutern kann, dass die politische Führung stets behauptete, alles für das Volk und in seinem Namen zu tun, und diesen Begriff häufig verwendete (Volkseigentum, Volkspolizei etc.). Darauf bezog sich in der Revolution vom Herbst 1989 der berühmte Slogan „Wir sind das Volk!“ – was hieß: nicht ihr! –, der die Regierenden daran erinnern sollte, wer der eigentliche Souverän des Landes sei. Sucht man schließlich im Text nach Spuren des erst kürzlich zurückliegenden Zweiten Weltkrieges, so findet man diese in der Mutter, die ihren Sohn beweint, der wohl als Soldat im Krieg gefallen ist, und in der ersten Zeile „Auferstanden aus Ruinen“, also aus dem beinahe komplett zerstörten und zerbombten Land.

So erklärt sich auch, dass der Text praktisch keine Verweise auf althergebrachte Traditionen oder überlieferte Kultur enthält – untypisch für eine Hymne –, sondern sich vollständig „der Zukunft zugewandt“ präsentiert. Die Vergangenheit wird nur als „alte Not“ bezeichnet, die es zu „zwingen“, das heißt zu überwinden gelte. Dies entsprach dem Selbstverständnis der DDR als neuer antifaschistischer Staat, der sich nicht für die Verbrechen des untergegangenen Nazireiches verantwortlich sah, während die Bundesrepublik die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches offiziell antrat. Der Aufruf „Lasst uns pflügen, lasst uns bauen“ verweist in umgekehrter Reihenfolge auf die Selbstbezeichnung als „Arbeiter- und Bauernstaat“ sowie zugleich auf das Aufbaupathos der jungen DDR, mit dem die politische Führung das Volk zum Wiederaufbau des deindustrialisierten Landes anzuhalten versuchte. Dazu spannte sie auch die (durchaus willigen) Intellektuellen und Künstler ein, weshalb man eine frühe Phase der DDR-Literatur insgesamt als „Aufbauliteratur“ bezeichnet. Die Zeile „steigt ein frei Geschlecht empor“ erinnert an die in der DDR zur vorweggenommenen sozialistischen Utopie stilisierte Zukunftsvision aus Goethes Faust I, „Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“[4].

 

2. Teil: Tradition aus dem 19. Jahrhundert

Nun lege man folgenden Text vor und frage wiederum, welchem der verbleibenden drei Staaten (Kaiserreich, alte Bundesrepublik, vereintes Deutschland) dieser wohl zugehörig ist:

Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!

Übersetzungshilfen:
die Einigkeit = unity; das Recht = right, justice, law; die Freiheit = freedom; streben = to strive for; das Unterpfand (antiquated) = here: (pre)requisite, elsewhere: collateral, mortgage; blühen = to blossom, bloom; der Glanz = splendor

 

Manche Studenten erkennen hierin vielleicht die Hymne sowohl der alten als auch der heutigen Bundesrepublik. Die Trias „Einigkeit und Recht und Freiheit“, die ein Gegenentwurf zur Parole der Französischen Revolution von 1789, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, ist, stand sowohl auf den früheren 5-DM-Mützen als auch auf heutigen deutschen 2-Euro-Münzen. Das gemeinsame (brüderliche) Streben nach diesen demokratischen Werten soll die Voraussetzung für das Erblühen – im Sinne des Aufgehens der Blüte einer Blume – des deutschen Vaterlandes schaffen. Der Duden offeriert neben der Blumenbedeutung als Synonyme für „blühen“ die Formulierungen „gedeihen, florieren“; man spricht auch von „in voller Blüte stehen“. Auch hier erkennt man vor allem einen Bezug auf die Zukunft, jedoch nicht auf Vergangenheit oder Tradition. Man kann auch fragen, ob diese acht Zeilen nicht recht knapp sind für eine Nationalhymne, und feststellen: Dieser Text ist nur die letzte Strophe eines eigentlich dreistrophigen Gedichts von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) mit dem Titel Das Lied der Deutschen, auch Deutschlandlied genannt, und wurde 1841 verfasst. Man ergänzt die ersten beiden Strophen, die heute nicht zur Nationalhymne gehören, und spielt das Lied ab:

Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt!

Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten
Ihren alten schönen Klang,
Uns zu edler Tat begeistern
Unser ganzes Leben lang –
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang!

Übersetzungshilfen:
stets = continually, all the time; der Schutz = protection; der Trutz (antiquated) = defense; brüderlich = brotherly; zusammenhalten = to stick together; Maas, Memel, Etsch = rivers in Europe; Belt = a strait in Europe; die Treue = loyalty, faithfulness (in a relationship); der Sang (antiquated, short for “Gesang”) = chant, song, singing; behalten = to keep; der Klang = sound; edel = noble; die Tat = deed, action; begeistern = to inspire to, enthrall, enthuse

 

 

Faksimile des Gedichts in Hoffmanns Handschrift (Foto: Wikipedia)

 

Nun stellt sich natürlich die Frage, warum die ersten beiden Strophen heute nicht gesungen werden – dies ist zwar entgegen der weit verbreiteten Annahme nicht verboten, aber öffentlich scharf geächtet. Die Studenten dürften schnell darauf kommen, dass die Zeilen „Deutschland, Deutschland über alles, / Über alles in der Welt“ einen inakzeptablen chauvinistischen Klang haben. Es klingt nach aggressivem nationalistischem Großmachtstreben, was gerade bei der Geschichte dieses Landes nicht hinnehmbar ist. Dies gilt, obwohl diese Zeilen vom Autor damals nicht notwendig so gemeint waren: Hoffmann von Fallersleben war einer der engagiertesten Vertreter des Strebens nach einem geeinigten Deutschland, das es ja 1841 noch gar nicht gab. Es herrschte die sogenannte Kleinstaaterei im Deutschen Bund, und das Bestreben, einen deutschen Staat zu errichten, war auch der Versuch, endlich mit anderen lange schon existierenden Nationalstaaten wie etwa Spanien, Frankreich oder Großbritannien aufzuschließen – Deutschland wurde oft die „verspätete Nation“ genannt.

Tatsächlich war das sogar schon im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, schmerzlich bemerkt worden, als Goethe, Schiller und andere versuchten, der französisch dominierten europäischen Kultur eine deutsche Nationalkultur entgegenzustellen, und Lessing sich in seiner Hamburgischen Dramaturgie mokierte „[ü]ber den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind!“[5]. So entstand – in Ermangelung einer politischen Einheit – die Idee der „Kulturnation“, deren Verbundenheit sich aus gemeinsamer Sprache, Literatur und Kultur speisen sollte, und als deren höchste Ausformung schließlich die Weimarer Klassik galt. Eine Schwundstufe davon findet sich noch heute in der Rede vom „Land der Dichter und Denker“, die mitunter selbst von jenen im Munde geführt wird, welche kein einziges Zitat von Goethe oder Schiller auswendig können.

Die Einheitsbewegung des 19. Jahrhunderts war zwar teilweise nationalistisch bzw. ‚rechts‘, aber auch in großen Teilen eine freiheitliche, bürgerliche Idee, die eine Einheit in einem politisch liberalen Staatsgebilde dachte, wie es sich der Vormärz und die Vertreter der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 vorstellten.[6] So jedenfalls sind wohl die bei Hoffmann von Fallersleben verwendeten Begriffe Schutz (defensiv, nicht aggressiv), Brüderlichkeit, Einigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit zu sehen. Und die Formulierung „Deutschland über alles“ muss also nicht heißen, dass dieses noch gar nicht existierende Land über anderen Ländern stünde, sondern dass die Idee, ein solches einheitliches Land zu erschaffen, die vordringlichste Aufgabe der deutschsprachigen Bürger der Zeit sei. Im historischen Rückblick jedoch können Worte ihre Bedeutung ändern oder anders wahrgenommen werden, wenn man die späteren negativen Entwicklungen einbezieht und ihnen schließlich zurechnet. So war das 1871 entstandene Deutsche Reich (Kaiserreich), das unter dem „Eisernen Kanzler“ Otto von Bismarck geschmiedet wurde, nicht der beinahe schon demokratische Staat, den sich die 48er-Revolutionäre erhofft hatten, sondern eine Monarchie unter Führung der preußischen Kaiser Wilhelm I. und Wilhelm II., die mit dem Ersten Weltkrieg unterging[7], und der Nationalsozialismus machte die Formulierung vollends unmöglich.

Eine andere heute problematische Formulierung ist: „Von der Maas bis an die Memel, / Von der Etsch bis an den Belt“. Wohl kaum werden die Studenten wissen, worum es sich bei diesen vier Begriffen handelt. Sie können ergoogeln, dass es drei europäische Flüsse und eine Meerenge sind, und auf einer Karte herausfinden, dass diese einst die Grenzen des damaligen Deutschen Bundes bzw. Sprachraums markierten. Zu ihrer Beruhigung sei ihnen berichtet, dass bei einer Umfrage von 1961 in Westdeutschland nur knapp die Hälfte der Befragten Maas und Memel auf einer Landkarte finden konnte und nicht einmal 20% wussten, wo Etsch und Belt liegen.[8] Diese Zahlen dürften heute noch deutlich weiter zurückgegangen sein.

 

Infografik Karte Deutscher Bund und deutsche Sprachraum um 1841 (Foto: DW-Grafik)

 

Sicher können die Studenten sofort beantworten, warum das Singen dieser Zeilen heute ausgesprochen revisionistisch wäre: Denn die östlichen Gebiete (damals Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Posen) liegen heute in Polen; Kaliningrad bzw. Königsberg ist eine russische Enklave; der Kleine Belt war und ist in Dänemark, also oberhalb der deutschen Nordgrenze, und die Maas (frz. Meuse) fließt durch Frankreich, Belgien und die Niederlande. Das deutschsprachige Südtirol hatte über Jahrhunderte den österreichischen Habsburgern gehört und wurde 1920 von Italien annektiert und italienisiert; der Etsch heißt heute Adige und ist nur deutschen Italienliebhabern bekannt.

Warum die zweite Strophe nicht gesungen wurde und wird, ist weniger offensichtlich. Wahrscheinlich ist Formulierung „Deutsche Frauen, deutsche Treue, / Deutscher Wein und deutscher Sang“, die stark an die für wilde Feiern erfundene Redewendung „Wein, Weib und Gesang“ (das altmodische Äquivalent zu Sex, Drugs and Rock ‘nʼ Roll) erinnert, einfach nicht seriös genug für eine offizielle Hymne. Zudem könnte sie heute etwas konservativ und sexistisch klingen, wenngleich das in den 1950er-Jahren in Westdeutschland wohl nicht der ausschlaggebende Grund war.

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Hierzu ein kleiner Exkurs, der sich eher für eine höheres Sprachniveau, B2+/B2.2 oder C1, anbietet: Die Erwähnung der „deutschen Frauen“ geht auf das sogenannte Preislied „Ir sult sprechen willekomen“ (um 1200) des mittelalterlichen Minnesängers Walther von der Vogelweide (um 1170 – um 1228/30) zurück. Bei Walther heißt es u.a.:

Ich wil tiuschen frouwen sagen
solhiu mære daz si deste baz
al der werlte suln behagen

Wörtlich:

Ich will bzw. werde deutschen Frauen sagen
solche Erzählung/Bericht [vgl. Märchen] dass sie desto besser
all der Welt sollen/werden behagen/gefallen.

(Wenn man das Mittelhochdeutsch laut liest, kann man es fast verstehen.) Sinngemäß bedeutet dies etwa: „Ich will über deutsche Edelfrauen so viel Rühmliches sagen/dichten/berichten, dass sie aller Welt umso mehr gefallen werden.“ In der vierten Strophe dieses Liedes, das eine ungewöhnliche Mischung aus Minnesang und Spruchdichtung darstellt, verwendet Walther bereits eine geografische Formulierung, die Ähnlichkeiten mit dem späteren Deutschlandlied aufweist, aber eben wieder auf die Frauen bezogen:

Von der Elbe unz an den Rîn
und her wider unz an Ungerlant
mugen wol die besten sîn,
die ich in der werlte hân erkant.
kan ich rehte schouwen
guot gelâz unt lîp,
sem mir got, sô swüere ich wol, daz hie diu wîp
bezzer sint danne ander frouwen.

Von der Elbe bis an den Rhein
und wieder hierher zurück bis an Ungarn [= bis ans Ungarnland] mögen wohl die besten sein,
die ich in der ganzen Welt je kennengelernt habe.
Wenn ich das richtig sehe [schauen kann],
gutes Benehmen und Äußeres [Leib bzw. Körper] zu beurteilen,
bei Gott, so würde ich wohl schwören, dass hierzulande die Frauen [Weiber] besser sind als anderswo die Damen [Frauen].[9]

Solcher Rückgriff auf die Tradition des Hochmittelalters und seinen berühmtesten Sänger wird also im Deutschlandlied angereichert um den „deutschen Wein und deutschen Gesang“ – und verweist damit auf eine traditionelle deutsche Feierkultur, die sich in den USA unter den Millionen von deutschen Einwanderern in Form von Biergärten und „Liederkränzen“ noch sehr lange gehalten hat und heute als Mythos Oktoberfest weiterlebt.

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Einige der eingangs genannten Gebiete des deutschen Sprachraums fanden sich dann im 1871 gegründeten ersten deutschen Nationalstaat, dem Kaiserreich:

 

Karte des Deutschen Reiches 1871-1918 (Foto: Wikimedia)

 

In der Weimarer Republik (1918-1933) wurde das Deutschlandlied 1922 vom sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert zur offiziellen Nationalhymne erklärt, und zwar mit allen drei Strophen – was einigermaßen erstaunlich ist, hatte doch das Deutsche Reich schon nach dem Ersten Weltkrieg größere Gebiete abtreten müssen.

 

Das Deutsche Reich zur Zeit der Weimarer Republik – Territoriale Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg. 1918-1933 (Foto: National Atlas)

 

Die nächste spannende Frage an die Studenten ist, was sie, mit diesem Wissen, vermuten würden, wie der NS-Staat mit der Hymne umging. Nun, die Nationalsozialisten verboten aus offenkundigen Gründen die zweite und die dritte Strophe, die Freiheit und Rechtsstaatlichkeit besingt. Sie ließen die erste Strophe in Kombination mit dem Horst-Wessel-Lied, dem Kampflied der Sturmabteilung SA, singen – und machten sich daran, Teile der genannten Gebiete und noch viele weitere zu erobern.

 

Zweiter Weltkrieg Europa 1941-1942 (Foto: Wikimedia)

 

 

3. Teil: Die Hymnenfrage im vereinten Deutschland

Bei ihrer Gründung 1949 befand sich die Bundesrepublik Deutschland in der misslichen Lage, keine offizielle Hymne zu besitzen, zumal das Deutschlandlied vorübergehend von den Alliierten verboten worden war. Dies führte zu peinlichen Situationen, wenn zum Beispiel beim Empfang des Bundeskanzlers Konrad Adenauer die Karnevalslieder Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien (eine Anspielung auf die Trizone) oder Heidewitzka, Herr Kapitän gespielt wurden. So drängte Adenauer bald den Bundespräsidenten Theodor Heuss, die dritte Strophe des Deutschlandlieds zur Nationalhymne zu erklären, was durchaus auf erheblichen Widerstand von vielen Seiten stieß. Nach einem Briefwechsel im Jahre 1952 gab Heuss schließlich nach und gestand: „Ich habe den Traditionalismus und sein Beharrungsbedürfnis unterschätzt.“

 

Bulletin der Bundesregierung vom 6. Mai 1952 und die Frage der Nationalhymne (Foto: Adenauer Haus)

 

Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 stellte sich die Hymnen-Frage erneut: Es hatte bis dato zwei Hymnen gegeben – für welche sollte man sich nun entscheiden? Als Alternative wurde von bekannten Persönlichkeiten sogar eine dritte Möglichkeit ins Spiel gebracht, nämlich Bertolt Brechts Kinderhymne (1949)[10] – da alle drei Texte im gleichen Metrum (Versmaß) verfasst sind, wären sie prinzipiell auf beiden Melodien spielbar.

Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land

Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wirʼs
Und das liebste magʼs uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.

Brecht vermeidet das Wort „Volk“ und spricht stattdessen vier Mal von (andern) „Völkern“. Besonders die zwei Zeilen „Und nicht über und nicht unter / Andern Völkern wolln wir sein“, die als direkte Antwort auf „Deutschland über alles“ zu lesen sind, verwahren sich gegen jedweden Exzeptionalismus. Was den berühmten amerikanischen Exzeptionalismus (American Exceptionalism) angeht, so formulierte Barack Obama 2009 einen Kompromiss: „I believe in American exceptionalism, just as I suspect that the Brits believe in British exceptionalism and the Greeks believe in Greek exceptionalism.“[11]

Brecht geht noch weiter und spricht auch die Angst und den Schrecken an, den Deutsche in der Vergangenheit in ganz Europa ausgelöst hatten („Dass die Völker nicht erbleichen / Wie vor einer Räuberin“) und stellt dieser verbrecherischen Vergangenheit seine Hoffnung auf „ein gutes Deutschland“ entgegen, dem andere bereit sind, zu verzeihen und die Hand zu reichen. Unter Anspielung auf das Deutschlandlied nimmt auch Brecht eine geographische Abgrenzung vor mit den Zeilen: „Von der See bis zu den Alpen / Von der Oder bis zum Rhein“. Hier können die Studenten wieder beide Flüsse suchen und mit den heutigen Landesgrenzen Deutschlands vergleichen.

 

Karte der Bundesrepublik Deutschland 2007 (Foto: Gifex)

 

Die Erwähnung des Flusses Oder ist von besonderer Bedeutung, da sie teilweise die Grenze nach Polen markiert, die sogenannte Oder-Neiße-Grenze, deren Anerkennung eine politisch bedeutsame Entwicklung darstellte. Während die DDR diese Grenze und damit die Abtretung aller früheren Ostgebiete bereits 1950 anerkannte, konnte sich die Bundesrepublik dazu erst 1970 durchringen, und auch nur unter Vorbehalt. Erst im Zuge der Wiedervereinigung 1990, wofür die drei Westmächte die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zur Bedingung gemacht hatten, wurde sie endgültig im Zwei-plus-Vier-Vertrag und in einem bilateralen Vertrag mit Polen bestätigt. Damit gab die Bundesrepublik Deutschland ein für alle Mal alle Ansprüche auf die ehemaligen Ostgebiete des Deutschen Reiches auf.

Nun kann man die Studenten befragen, welche Hymne sie bevorzugt hätten und warum.

Der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, machte den Vorschlag, die dritte Strophe des Deutschlandlieds mit Auferstanden aus Ruinen zu verbinden. Diese Idee hatte eine hohe symbolische Bedeutung, denn sie hätte signalisiert, dass sich hier zwei Staaten auf Augenhöhe miteinander vereinigen und nicht der eine dem anderen ‚angeschlossen‘ wird. Tatsächlich war aber Letzteres der Fall, denn die DDR erklärte ihren „Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“, und dafür hatten die Ostdeutschen in den ersten freien Wahlen am 18. März 1990 mehrheitlich gestimmt. Dennoch regte sich im Osten zunehmend Unmut über die vollständige Übernahme aller Gegebenheiten und Regeln der Bundesrepublik, so auch der Hymne. Wiederum in einem Briefwechsel zwischen Bundeskanzler und Bundespräsident, diesmal Helmut Kohl und Richard von Weizsäcker, wurde schließlich 1991 die dritte Strophe des Deutschlandlieds zur offiziellen Nationalhymne erklärt.

Wie stehen nun die Deutschen heute zu ihrer Hymne? Für amerikanische Studenten ist es bisweilen schwer nachzuvollziehen, welche erheblichen, auf die Geschichte gegründeten Vorbehalte große Teile der Deutschen, vor allem der Linken, bis heute gegen staatliche Symbole im Allgemeinen und Flagge oder Hymne im Besonderen hegen.[12] Gut beobachten lässt sich dies am deutschen Volkssport Fußball. In der alten Bundesrepublik war es relativ unüblich, dass Fußballer vor einem internationalen Spiel beim Abspielen der Nationalhymne mitsangen. Das Aufhängen oder Schwenken der deutschen Flagge kam wenig vor und konnte negativ interpretiert werden. Dies änderte sich sichtbar bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land (Motto: „Die Welt zu Gast bei Freunden“), bei der eine junge und geschichtlich weitaus weniger belastete Generation erstmals begeistert Flaggen schwenkte und beim öffentlichen Fußballschauen (Public Viewing) die Nationalhymne sang, ebenso wie viele Spieler. 12 Jahre und drei WMs später hatte sich das Mitsingen durch Fußballer bereits so etabliert, dass es nun wiederum auffiel, wenn manche Spieler der Nationalmannschaft, vor allem solche mit Migrationshintergrund, eben nicht mitsangen und dafür kritisiert wurden. Die Debatten werden wohl weiter gehen.

Hier bietet sich ein kontrastiver Vergleich mit der großen Bedeutung der Nationalhymne und der Flagge in den USA an; dabei können die Studenten das Verbot, die Flagge zu beschmutzen, diskutieren, vielleicht auch frühere Skandale wie die Flaggenverbrennung durch Abbie Hoffman. Auch ein textlicher Vergleich zum Star Spangled Banner kann interessant sein, bei dem vor allem auffallen dürfte, dass es bei der amerikanischen Hymne zwar auch um die Schrecken des Krieges geht, jedoch mit siegreichem Ende für die Tapferen, während die beiden ostdeutschen Varianten die schlimme und berechtigte Niederlage zum Ausgangspunkt nehmen.

 

4. Teil: Melodie und Europahymne

Zum Abschluss noch ein paar Worte zur Melodie der deutschen Hymne: Sie wurde 1797 komponiert von dem österreichischen Komponisten Franz Joseph Haydn (1732-1809) und gehört zum Streichquartett C-Dur op. 76/3, dem Kaiserquartett. So klingt sie in ihrer ursprünglichen Verwendung:

 

 

Franz II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches von Friedrich von Amerling (Foto: Wikimedia)

Gott erhalte Franz, den Kaiser,
Unsern guten Kaiser Franz!
Lange lebe Franz, der Kaiser,
In des Glückes hellstem Glanz!
Ihm erblühen Lorbeerreiser,
Wo er geht, zum Ehrenkranz!
Gott erhalte Franz, den Kaiser,
Unsern guten Kaiser Franz!

(Text: Lorenz Leopold Haschka)

 

Wie aus diesen Zeilen unmissverständlich hervorgeht, war die Melodie einst dem Habsburger Monarchen Franz Joseph Karl bzw. Franz II./I. (1768-1835) gewidmet. Dessen doppelte Zählung ergibt aus einem historisch einmaligen Umstand: Zunächst war er Kaiser des losen Staatenbundes Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation (800-1806) und als solcher der zweite Franz in dieser Position. Als sich jedoch abzeichnete, dass dieses Reich im Zuge der napoleonischen Eroberungskriege aufgelöst werden würde, gründete er 1804 noch rasch das Kaisertum Österreich bzw. Kaisertum der Rudolfskrone (1804-1867 bzw. bis 1918), und in diesem war er der erste regierende Franz. Es existierte im Verbund mit dem ebenfalls den habsburgischen Kaisern unterstellten Königreich Ungarn bis 1918 und wurde in den letzten 50 Jahren als Doppelmonarchie Österreich-Ungarn bezeichnet. Zunächst etablierte sich das Adjektiv „kaiserlich-königlich“ (abgekürzt k. k.), was bis 1867/68 galt und verwirrenderweise staatsrechtlich nicht dasselbe bezeichnet wie das hernach verwendete „kaiserlich und königlich“ (k. u. k.). So ganz unkompliziert ist die Geschichte Österreichs also auch nicht… Jedenfalls könnte man diesen letzten Twist für eine krönende Ironie der gewundenen deutschen Geschichte einer Hymne halten, dass das Lied dazu einst für den ‚falschen‘ Kaiser geschrieben wurde.

Wenn wir nun in die Jetztzeit, ins Jahr 30 der deutschen Einheit, springen und den Blick auf das seitdem weiter zusammengewachsene Europa und dessen offizielles Lied weiten, so stoßen wir wieder auf zwei Deutsche. Ob die Studenten die Europahymne kennen, ob sie wissen, wer sie komponiert hat? 1972 wählte die Europäische Union (EU) den letzten Satz der 9. Sinfonie in d-Moll op. 125 (1824), der letzten vollendeten Sinfonie von Ludwig van Beethoven, zu ihrer Hymne und nannte sie „Song of Joy“.

 

 

Auch die Geschichte dieser Sinfonie, besonders ihre Rezeptionsgeschichte, ist kompliziert. Wie Christina Stahl ausführt, wurde die Originalpartitur während des Zweiten Weltkriegs auseinandergeschnitten und an verschiedenen Orten in Deutschland gesichert aufbewahrt. Das Ziel, sie nach dem Krieg wieder zusammenzuführen, erfüllte sich jedoch nicht, weil ein Teil des letzten Satzes in der DDR lag. Genaugenommen lagen Manuskriptteile in der Staatsbibliothek Unter den Linden in Ostberlin und in der Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße in Westberlin – nur zwei Kilometer voneinander entfernt. Obwohl bei den Olympischen Winterspielen 1952 Beethovens Neunte als Nationalhymne für beide deutschen Staaten gespielt wurde, entzweite sie doch die rivalisierenden Staaten: Beide sprachen dem jeweils anderen das Recht ab, Beethoven für sich in Anspruch nehmen zu dürfen. Somit wurde eines der berühmtesten Musikstücke der Welt, das vom gemeinsamen Zusammenstehen der Menschen handelt, eben erst mit der Deutschen Einheit wieder zu einer Einheit zusammengeführt.[13] Seit 2003 ist es Teil des Unesco-Dokumentenerbes „Gedächtnis der Welt“.

Beethoven – der übrigens lange in Wien gelebt hat und dort auf dem Zentralfriedhof begraben ist – hatte selbst als Text für den 4. Satz seiner Neunten Auszüge aus der neunstrophigen Ode An die Freude (1785-1808) von Friedrich Schiller gewählt, die er zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahrzehnten kannte und schätzte (schon 1812 hatte er erste Notenzeilen und eine Notiz in sein Skizzenbuch geschrieben). Um keine Sprache zu bevorzugen, wurde dies nicht der offizielle Text der Europahymne, die meist instrumental gespielt wird. Manchmal jedoch wird sie mit Gesang präsentiert. Hier findet sich eine moderne Rockversion im Medley.

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum!
Deine Zauber binden wieder
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.

Chor

Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
Muß ein lieber Vater wohnen.

Wem der große Wurf gelungen,
Eines Freundes Freund zu sein;
Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!
Ja, wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesem Bund!

[…]

Chor

Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder, überm Sternenzelt
muß ein lieber Vater wohnen.
Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Freude, schöner Götterfunken
Tochter aus Elysium,
Freude, schöner Götterfunken, Götterfunken.

Übersetzungshilfen:
die Freude = joy; der Funke = spark; das Elysium = in Greek mythology island of the blessed, paradise; betreten = to enter; trunken (antiquated) = drunk, but here in an antique positive sense of „berauscht“ as exhilerated or ecstatic; Himmlische = the heavenly one; das Heiligtum = sacred place; der Zauber = magic, spell; die Mode = hier: Zeigeist, elsewhere: fashion; streng = strict, stern; sanft = soft, tender; der Flügel = wing; weilen (antiquated) = linger, stay; der Wurf = here: design (short for „Entwurf”), elsewhere: throw; gelingen = to succeed; hold = lovely, das Weib (antiquated) = woman, wife; erringen = win; (sich) einmischen = to join in; der Jubel = cheers, jubilation; die Seele = soul; das Erdenrund (antiquated) = world; der Bund = union, association; umschlingen = embrace; der Kuss = kiss; der Stern = star; das Zelt = canopy, tent

 

Oft ist schmunzelnd angemerkt worden, dass es sich bei Schillers Gedicht eigentlich um ein Trinklied handele, denn an mehreren Stellen, etwa in einer hier ausgelassenen, weil nicht zum Singen der Sinfonie/Hymne verwendeten Strophe wird ausführlich dem Weingenuss gehuldigt – womit wir wieder bei „Wein, Weib und Gesang“ wären:

Freude sprudelt in Pokalen,
in der Traube goldnem Blut
trinken Sanftmut Kannibalen,
Die Verzweiflung Heldenmut –
Brüder fliegt von euren Sitzen,
wenn der volle Römer kraißt,
Laßt den Schaum zum Himmel sprützen:
Dieses Glas dem guten Geist

Übersetzungshilfen:
der Pokal = here: chalice; der volle Römer = Roman-style chalice filled with wine; kraißen (antiquated orthography for „kreisen“) = to let/pass (the drinking vessel) around; not to be confused with „kreißen“ (antiquated) = gebären; Schaum = foam; sprützen (antiquated orthography for „spritzen“) = splash, slosh

 

Allerdings stellt schon die Klassifikation als „Ode“ klar, dass hier ein feierlicher und pathetischer Tonfall angeschlagen wird. Tatsächlich ist es in erster Linie ein Lobgesang auf die Freundschaft (ein wichtiges Thema in der Kultur des 18. Jahrhunderts) und hätte daher ebenso gut „An die Freunde“ heißen können. Denn Schiller schrieb es während und nach dem Besuch eines Freundeskreises um Christian Gottfried Körner und dessen Verlobte Minna Stock in Leipzig-Gohlis im Frühjahr/Sommer 1785. Nach harten, schwierigen Jahren wurde er dort ungemein herzlich aufgenommen und verehrt (sowie finanziell unterstützt), sodass er ein paar wunderbar glückliche Wochen unter Freunden erlebte. Davon war er inspiriert, als er auf die Bitte Körners hin für die Tafel der Dresdner Freimaurerloge „Zu den drei Schwertern“ das Gedicht zu schreiben begann. Im September desselben Jahres zog Schiller nach Loschwitz bei Dresden um, wo Körner einen Weinberg besaß, und präsentierte ihm und Minna dort die ersten Strophen des Gedichts, das er bis November fertigstellte. Die Erwähnung von Wein und Reben (mitten in der Weinlese) war also schlicht naheliegend, zumal für den Schreibanlass. Allerdings schien Schiller selbst das Gedicht nicht für besonders literarisch hochwertig gehalten zu haben – er arbeitete es mehrfach um und wollte es zwischenzeitlich nicht in seinem Werkkanon vertreten wissen.

Einige der bisher anhand der anderen Hymnen besprochenen Werte werden auch von Schiller hier hochgehalten, zuvörderst natürlich die Brüderlichkeit, besonders in der Zeile „alle Menschen werden Brüder“, wenn sie Freude teilen. Von feministischer Seite wird mitunter beklagt, dass Schwestern keine Erwähnung finden, doch das ignoriert den Kontext, denn das Lied war ja für Freimaurer geschrieben, die bekanntermaßen keine Frauen zugelassen haben. Dem Freundeskreis allerdings, der Schüler so inspiriert hatte, gehörten natürlich auch Frauen an. In den Reimen wechseln sich weibliche und männliche Kadenzen ab.

Gleichheit und Einheit sind ebenfalls vertreten, wenn es heißt: „Deine Zauber binden wieder / Was die Mode streng geteilt“. Das bedeutet, dass die Unterteilung von Menschen in verschiedene Gruppen, Klassen oder Schichten nach der „Mode“, also dem Zeitgeist oder wechselnden Regeln, aufgehoben wird und dass in der von Gott geschenkten Freude, im gemeinsamen Jubel alle gleich sind; „Bettler werden Fürstenbrüder“ hatte es in der ersten Fassung geheißen. Humanistische Ideale wie die Befreiung von Unterdrückung durch Tyrannen, Großherzigkeit, Hoffnung und Vergebung finden sich unter anderem in folgender originaler Strophe:

Rettung von Tirannenketten,
Großmut auch dem Bösewicht,
Hoffnung auf den Sterbebetten,
Gnade auf dem Hochgericht!
Auch die Toden [Toten] sollen leben!
Brüder trinkt und stimmet ein,
Allen Sündern soll vergeben,
und die Hölle nicht mehr seyn.

Ähnlich stark ist das Plädoyer für Versöhnung und die Überwindung von Feindschaft, die einer Evokation der Utopie vom Weltfrieden nahekommt: „Groll und Rache sei vergessen, / unserm Todfeind sei verziehn. […] / Unser Schuldbuch sei vernichtet! / ausgesöhnt die ganze Welt!“ Vor allem ist Schillers Gedicht mit seinem hoffnungsfrohen Bezug auf die „ganze Welt“ frei von jedem Nationalismus – und insofern angemessen für eine europäische Hymne.

 

Weiterführende Literatur:

https://www.dw.com/de/einigkeit-und-recht-und-freiheit-175-jahre-lied-der-deutschen/a-19491800

https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Nationalhymne

https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Lied_der_Deutschen

https://www.spiegel.de/consent-a-?targetUrl=https%3A%2F%2Fwww.spiegel.de%2Fgeschichte%2Fgruendungswehen-der-bundesrepublik-a-947308.html&ref=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

https://www.deutschlandfunkkultur.de/ode-an-die-freude-wie-ein-trinklied-zur-europahymne-wurde.976.de.html?dram:article_id=448810

https://www.friedrich-schiller-archiv.de/inhaltsangaben/an-die-freude-schiller-interpretation-inhaltsangabe/

 

Fußnoten:

[1] Ress, Georg: „Grundlagen und Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen“. In: Isensee, Josef; Kirchhof, Paul (Hg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Heidelberg: C.F. Müller, 1987, S. 449-546.

[2] http://www.verfassungen.de/ddr/index.htm.

[3] „16.4. DDR: Die Verfassung von 1968“. In: bpb Deutschlandchronik, https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschland-chronik/131554/6-april-1968. Vollständiger Text bei der Konrad-Adenauer-Stiftung KAS: https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwj2t5351p7tAhUqi8MKHcheDJwQFjAEegQIARAC&url=https%3A%2F%2Fwww.kas.de%2Fupload%2Fdokumente%2FDDRMythen%2Fverfassung.pdf&usg=AOvVaw2TECSN0ucBvXWM0h3X-S3m.

[4] http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/goethe_faust02_1832?p=333.

[5] Lessing, Gotthold Ephraim. “Hundert und erstes, zweites, drittes und viertes Stück“. In: Hamburgische Dramaturgie. 19. April 1768. https://www.projekt-gutenberg.org/lessing/hamburg/hamb101.html.

[6] Wenn man diese Ereignisse weiter ausführen will, kann man auch über die damals so genannte „kleindeutsche“ und „großdeutsche Lösung“, mithin das über 100 Jahre lang diffizile Verhältnis zu Österreich sprechen.

[7] Diese preußische Vorherrschaft, der sich auch die stolzen Königreiche Bayern und Sachsen beugen mussten, haben bis heute Spuren von Animositäten, etwa zwischen München und Berlin, hinterlassen – noch sichtbar in den scherzhaften Schimpfworten „Saupreißn“ und „Lederhosenträger“. Die Bewertung des Kaiserreiches hingegen wird weniger humorvoll betrieben, sondern war Anlass sehr kritischer Debatten. Mit dem Friedensvertrag von Versailles wurde dem Deutschen Reich die Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges zugewiesen. Dies wurde von dem Historiker Fritz Fischer in seinem Buch Griff nach der Weltmacht 1961 ausdrücklich bestätigt; diese sogenannte Fischer-These setzte sich in einer 10-25 Jahre andauernden Kontroverse durch und wurde zum Gemeinplatz. Dementgegen haben jüngere und internationale Historiker in den letzten Jahren das Urteil über das Deutsche Reich deutlich abgemildert, am prominentesten Christopher Clark mit seinem berühmten Buch The Sleepwalkers/Die Schlafwandler (2012/2013), das ein komplexes Bild der miteinander verflochtenen europäischen Mächte zeichnet und den Kriegsausbruch eher als “Tragödie” denn als “Verbrechen” liest. Dennoch ist die Fischer-These in Deutschland weiterhin dominant. Ebenso, und tw. damit zusammenhängend, wird der Charakter des Kaiserreiches als Gesellschaft sehr verschieden wahrgenommen: Die einen sehen nur preußische Disziplin und Pickelhauben, d.h. Militarismus und Nationalchauvinismus, einen autoritätshörigen Obrigkeitsstaat (der sozusagen logisch zum 1. und sogar 2. WK führen musste), die anderen betonen eine durchaus stattgefundene Liberalisierung, ein Erstarken des Bürgertums, sensationelle Leistungen in Wissenschaft, Technik, Kultur und Wirtschaft, die das Reich in kürzester Zeit auf Augenhöhe mit den USA brachte. Manche sprechen von “Janusköpfigkeit”. Eine ausgewogene und originelle Darstellung bietet: Nonn, Christoph: 12 Tage und ein halbes Jahrhundert: Eine Geschichte des deutschen Kaiserreichs 1871-1918. München: C. H. Beck, 2020. Wie sehr die Deutschen mit ihrer Geschichte, auch vor 1933, hadern, zeigte sich an der stark zurückgenommenen Art, in der im Januar 2021 das 150-jährige Jubiläum des deutschen Nationalstaats begangen, nicht gefeiert, wurde.

[8] „Von der Maas bis an die Memel?“ In: Die Zeit Nr. 37 8. Sept. 1961.

[9] Übersetzung angelehnt an diejenige aus Wikipedia (und um wörtliche Verweise ergänzt): https://de.wikipedia.org/wiki/Ir_sult_sprechen_willekomen.

[10] Müller, Gerhard. „Lieder der Deutschen. Brechts ‚Kinderhymne‘ als Gegenentwurf zum ‚Deutschlandlied‘ und zur ‚Becher-Hymne‘. In: Dreigroschenheft. 17. Jg., Heft 1. Augsburg: Wißner-Verlag, 2010, S. 18-29, hier S. 28f. Dreigroschenheft Kinderhymne.

[11] Kirchick, James. „Squanderer in chief.“ In: Los Angeles Times April 28, 2009.

[12] Als ein Beispiel kann die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) gelten, die bei der WM 2018 ihre Landsleute aufforderte, beim Jubeln „Zurückhaltung walten [zu] lassen“. Eubel, Cordula; Haselberger, Stephan. „Grünen-Politikerin Claudia Roth: ‚Feiern ja, Nationalismus nein!‘“ In: Der Tagesspiegel 17. Juni 2018. https://www.tagesspiegel.de/politik/gruenen-politikerin-claudia-roth-feiern-ja-nationalismus-nein/22699354.html.

[13] Stahl, Christina M. Was die Mode streng geteilt? Beethovens Neunte während der deutschen Teilung. Mainz: Schott Music, 2009.

 

Weitere Materialien:

Hymne Briefwechsel Adenauer Heuss

Die Gründung des Deutschen Reiches 1866 – 1871 (Foto: bpb)

Territorial Changes, 1935-1939 (Foto: GHDI)

 

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