Nov 2021

Buchbesprechung | Irmgard Hunt. zueinander. Neue und alte Geschichten.

von Edith Borchardt

Irmgard Hunt. zueinanderNeue und alte GeschichtenLeipzig: Engelsdorfer Verlag, 2021. 98 Seiten. ISBN 978-3-96940-141-5. 

 

Es ist erstaunlich, wie viel es über Hände zu sagen gibt. Irmgard Hunts feinfühlige Beobachtungsgabe und wortgewandte Sprachkunst fallen in dem einleitenden Text „Hände“ sofort auf: Hände, die retten; Hände, die schützen; Hände, die Welten zueinander führen und Unterschiede überbrücken: Welten, die sich begegnen durch helfende Hände; weiße und schwarze, junge und alte Hände, die durch Gesten der Menschlichkeit die Angst der Gegenwart und die Gefahren der Zeit zu überwinden suchen. 

Hände und Kreativität in den „Rhapsodien“: Sie sind die „Geburtshelfer der Kunst“ (16), die Gefühle und Ideen erspüren und zum Ausdruck bringen, nicht ohne durch ihr Medium gebrandmarkt zu werden mit den Schmerzen und Schwielen des Schaffens. Die gegenwärtige Pandemie hat Zeichen hinterlassen in diesem Büchlein: Hände, die nicht zueinander können zur persönlichen Berührung, die nur über Skype winken und Kusshände blasen können. Politisches: Die junge Dichterin Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden und Kamala Harris: Wir haben es miterlebt am 20. Januar 2021, wie sie ihren Vortrag mit graziöser Gestik begleitete: „Es ist, als wollte sie gleichzeitig mit der Rezitation ihr so wichtiges brillantes Gedicht in Zeichensprache für Schwerhörige oder Taube mitliefern“ mit ihren kleinen Händen, „die zu den Rhythmen ihrer Poesie tanzen“ (20-21). Schriftstellerhände, die Pfeife stopfen, auch zeichnen und malen, töpfern und Kupferstiche schaffen; Schriftstellerhände eines anderen, der als Kind Cello spielte, und dessen Hände „vielerlei Künste verschränken wollten“ (24). Heilende Hände einer Masseuse: Massage als Kunst. Die Hände einer Tänzerin als Mitteilung an ihr Publikum: „Im Solotanz ein Weben und Wirbeln, ein vogelartiges sich Erheben, Flattern, dann ruhigeres Schwingen, Fliegen, Schweben, ein Segeln in den Lüften, als sollte es ein Fortfliegen für immer werden, allem voraus die Hände“ (23). Der Tanz als Metapher für die Poesie: das Tor zur Fantasiewelt und Erahnung des Unaussprechlichen (26), angedeutet in Burga Endhardts Titelbild auf dem Umschlag, das hindeutet auf die türkisfarbenen Seen der Traumreise des Stückes „In anderen Sphären“, Zeichen von Ursprung und Zeitlosigkeit. 

Mit großer Wortgewandtheit, oft in rhythmischer Prosa, überschreitet Irmgard Hunt die Grenzen der Wirklichkeit in diesem Buch und offenbart mutig eine innere Welt von Traum und Fantasie. Den Schlüssel zum Lesen ihres Werkes offenbart sie selbst im Kommentar auf dem Buchumschlag: „Geschichten entspringen nicht immer der Wirklichkeit, sondern auch den Träumen, dem Surrealen und der Vorstellung vom nächsten Leben, oder einer fernen Vergangenheit…“ 

„In anderen Sphären“ nimmt die Mitte des Buches ein. Auffallend rhythmisch wie ein Text von Rilke, poetisch-musikalisch schwebt dieses Stück zwischen Traum und Wirklichkeit und führt in ein „Fabelreich“ mit realistischen Details, die den Weg in den Norden weisen. Es geht um Liebe in eisigen Regionen, außerhalb der gewöhnlichen Welt, in verborgenen Höhlen mit wärmendem Feuer; um Liebe unter den Sternen, unbehaust in der kaltklaren Nacht; um Liebende im nassen Schnee, von Eis umkrustet, wie Mumien aneinander gefroren im Glassarg. Solche Bilder erinnern an die erstarrte Welt im „Märchen“ des Heinrich von Ofterdingen, an die Figuren, die auf Erlösung warten durch die belebenden Energien von Eros und Fabel im schöpferischen Prozess. Gespenstische Musik erfrorener Blätter an den Laubbäumen erzeugt ein Rauschen und Klingen: Harmonie der Sphären in den Lichtern des Nordens, jenseits dieser Welt, jenseits „einstiger Zivilsation“ (47). Wie bei Novalis geht es um eine Rückkehr in ein früheres Leben und Wandern in eine Urzeit hinein: in die Ruinen einer Vorzeit. 

Ist „Friederike“ ein Traum oder Fantasie? Sie ist Wunschkind und Symbol für eine alternative Wirklichkeit, ein „Traummädchen“, deren Liebe zu Schlüsselblumen Geheimnisse offenbart, die „alles aufschließen, was im Geheimen verborgen schlummert“ (55). Sie ist eine märchenhafte Figur und kompensiert im erfundenen zweiten Leben für Dinge, die im ersten „falsch gelaufen“ waren (57). Die Idee der Wiedergeburt als Verjüngung bietet die Erfüllung gelebter und ungelebter Möglichkeiten. Sie erinnert an das mystische Sternenkind „Astralis“ im Paralipomenon zu Heinrich von Ofterdingen, ist Zukunft und Erinnerung zugleich.  

„Im ersten Licht“ bietet Träume und Eigeninterpretationen, um die Trauminhalte zu erhellen, „Rohmaterial für Geschichten“ im Jahr der Epidemie 2020. Es geht um Isolierung und Angst, Besuchsverbote und Krisenträume zur Zeit des Coronavirus, um Unsicherheit und Hilflosigkeit, um Träume vom fernen Geliebten und vom schöpferischen Sein, um Wunschträume und Erfüllungsträume, um Begegnungen im Traum, die in Wirklichkeit nicht mehr möglich sind in der Zeit des Sterbens in der ganzen Welt. Ein Traum von Umarmungen kompensiert für Berührungsmangel: „Wie traurig, dass die Menschen einander nicht berühren dürfen und sich nur noch virtuell umarmen oder in den Träumen!“ (41) 

Bekanntlich war E.T.A. Hoffmann der Meinung, „daß die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben“ (Serapionsbrüder 3, Kap. 6), aber auch eine Geschichte, die örtlich verankert zu sein scheint in diesem Buch, wie „Ein Schneidermeister in Wannsee“ (1995), stellt in Frage, was hier Wirklichkeit und was Fantasie ist. Die Konturen sind unscharf, die Identität der Personen nicht deutlich erkennbar. In dem leeren Gespensterhaus widerhallt der Name eines Unbekannten, der möglicherweise Selbstmord begangen hat. Nach ihm wird gefahndet, um ihn zu retten, und nach einem zweiten, der ihm ähnlich ist: Doppelgänger, die grotesk mit Leben und Tod spielen (64). Auch das Ende dieser Geschichte ist unbestimmt, wird aufgefächert in verschiedene Möglichkeiten. 

Trotz aller realistischen und historischen Anspielungen in „Unsreens“ von 1993, nach dem Mauerfall und der Wende in Deutschland, sowie nach der Demokratisierung Polens und der Gründung der Dritten Polnischen Republik (1989-1991) verfasst, spielt sich diese Geschichte ähnlich wie die Traumgeschichten in einem unwirklichen Zwischenraum ab. Der Bettler auf dem Bahnhof von Wroclaw, der das Breslau der Vergangenheit seine Heimat nennt, „lebt nicht mehr dort, noch nicht hier. Dazwischen, wo nichts ist. Nirgends“ (80). Als objektives Korrelat ist er eine Spiegelfigur, dessen Bemerkungen über seine Heimat und dessen schlesischer Dialekt halb vergessene Erinnerungen in der Erzählerin hervorrufen und ergänzen, eine groteske und gespenstische Verdoppelung ihrer selbst: „Unsereins? Er? Ich?“ (81) Obdachlos und unbehaust wird seine „fragliche Existenz und verworrene Identität“ (82) zu der ihren. Gegenwart und Vergangenheit überlagern sich in dieser Begegnung auf dem Bahnhof des ehemaligen Breslau in diesem historisch doppelbödigen Raum der Geschichte in der Zeit einer ungewissen Zukunft. 

Die letzte Geschichte, „Schraube“ (1991 verfasst), ist ebenfalls geschichtlich verankert in der Zeit der Wende, in der die Menschen wegen unvereinbarer Werte in einer neuen Stunde Null auseinander statt zueinander streben in einem Berlin, wo „nichts mehr stimmt, keine Beobachtung und keine Theorien. Wo sich alles umkehrt, sowie es formuliert ist“ (86). Die Mauer hat ihre Funktion verloren, Todesstreifen und Wachttürme werden zu Besucherattraktionen. In dieser Verunsicherung der Zeit sind die Rohre des Berliner Kanalisationssystems – von der Erzählerin ästhetisiert und zum Kunstwerk erhoben – das einzige, was die Stadt faustisch „im Innersten zusammenhält“. Sie hebt eine der Schrauben, aus den Kanalrohrgelenken gefallen, auf und steckt sie sich in die Tasche als Souvenir der deutsch-deutschen Geschichte, als objet-d’art, diese Schraube „die zwei Teile verbindet und zusammenhalten will“ (92). Hier, am Ende des Buches, steht die „Himmelsleiter“ der Kunst, trotz aller Verunsicherungen, befestigt in der markbrandenburgischen Erde, die Schraube als Symbol (von sym + ballein: zusammenfügen) auf dem Kaminsims der Erzählerin in Colorado.

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