Jun 2013
Michael Speier
flüchtige balance
LE PAYSAN DE NEW YORK (4)
SICHER dass das das jahrhundert der wolken ist?
ihre oberflächen so rätselhaft
wie ihr taktieren gegen die fliehkräfte
lockerer wechsel von zeit und möglichkeit
du siehst sie aus den elendsquartieren
der economy class in vorübergleitenden zügen
von der president‘s lounge wo man duscht
und drinks nichts kosten denkst wolken
(entstanden, schon verschollen)
in denen du deine depression badest
wenn die himmel schließen wolken
birnenförmig oder wie mauern
in szene gesetzt fraktal oder gutgelaunt
nicht fixiert aufs fixieren flüchtige
balance zwischen zerstäuben
und zentrieren (wie das ich) wie dateien
die man nicht wiederherstellen kann
wie die zeit zwischen copy & past
DIE EINSCHIFFUNG NACH KYTHERA (1)
NUR EINEN gönner
für diesen gewaltigen sommer
an dessen ende wir stehn
um auf die see zu blicken
die lichte unruhe kräuselt
uns aber kränkt kein bewölktsein
(im sinne von „verrauscht“)
wir leben in ausgeleuchteten räumen
aus landschaft, die macchia polstert die hänge
rasen mit frischem fassonschnitt
die halme gezupft mit der zuckerzange
hier nun die frage was willst du betonen
wenn die terrassen unterm sternbild
des kleeblatts hindurchziehn
und unser leben sei wie wir es uns denken
einer sagt human flourishing
ein andrer oxytocin manche
liegen auf sofas hören musik
singen verstreute bücher papiere
jemand trinkt wein
bald aber müssen wir reisen
versorgt mit italienischen brocken die man uns
(den hyperboräischen hunden) hinwirft
während auf dem tisch der sprache
die silbernen löffel ruhn
DIE EINSCHIFFUNG NACH KYTHERA (4)
ICH LAUF die serpentinenstraße
was ist und ist nicht
im sinne von blühen wachsen
was ist umsonst, vergebens kostenlos
zunge sei still, schließe dich mund aber
(ah, dieses aber !) la tua bocca
finden wir uns, finden wir uns ein im sinne von
treffen wir uns wieder? nämlich
von eintreffen oder an einem bestimmten ort
erscheinen, ist es ein einziges ritroviamo? und
„verrauscht“ hat es eine nebenbedeutung
im sinne von gedämpft oder aber
vergangen, aufgehört ? (also smorzato) soll es
redewendung sein? ist es ein denkbild?
sind es privilegien, pinien-gleichungen
ist es wenig fast nichts, und zwar heftigst?
lehne ich mich ins weite, greife ich tief
bin ich forsch, grammatisch, eifrig
beim horten von worten lauf ich
die serpentinenstraße
IVY LEAGUE
unverliebt auf einer bank am green
illuminiert die weite fläche vom april
studenten spielten wie junge hunde
im sonnenlicht mit langen schatten, so
begriff ich ein muster verliert seine form
löst sich auf wie in der wärme des frühjahrs
das eis auf den pfützen dann wieder, als sollte
alles erst kommen, der alte gauner der andersheiten
auf bräunlichem gras erschien
der zustand geheimnislos, busse fuhren
nach libanon oder kanaan im kreis ums green
glitten ins gelobte land oder kamen von dort
mit leuchtschriften, stadtplänen, menü-
karten, hotelpapieren und päpsten
an die man sich gewöhnt wie an den
dunst der gedanken über der kopfstadt
an die stimme außerhalb des bildes
die für kurze dauer eins wird
mit dem allerhöchsten geflunker
und dem schrei der spielenden
SCHLACHT UM BERLIN (1)
WARUM EIGENTLICH MAN SCHLÄFT wüssten wir gern
warum eigentlich werden daten immer öfter in wolken abgelegt
und im wattigen vakuum eines warteraums am flughafen wir
warum eigentlich berlin gerade wieder kippt
am horizont sein berüchtigtes grau: prognosen
darin abend und morgen verschwimmen
warum aber kurz vor milch dies saugende licht
zwischen berghain und paris bar (das wüssten wir gern)
die eleganz des luftwiderstands wenn man hinaustritt
ins off-ne zwischen hellsinn und herzschaden
nach den mühsam verpassten gelegenheiten
zwischen gläsern und unsagbar törichten augenbädern
natürlich – kann man entgegnen – das liegt an den
ereignissen die verteilen sich nicht gleichmäßig
in raum zeit & musik oder es liegt an den
unbemannten dokumenten mit denen
sie einem die seele rausdrehn
an minier-motten in den kastanienalleen
der ewigen traufhöhe des stimmann
alles ausreden – ist eigentlich es verboten
vergangenheit zu essen oder an piercings
zu rütteln oder den erdenkbarkeiten
wo doch die klimakapseln dahinsurrn
im kleinen ball der neben dem eigenen kopf schwebt
und man nicht weiß warum noch richtung mitte
wo einen weiß und leicht das frühlicht duzt
warum also zerbrechen um aufzudecken
(frangio ut pare facias) dann lieber heim
ins bionaden-biedermeier der bötzow
oder großspurig die frankfurter durchfegt
und wenn die eingeschlossenen fragen
wo bleibt wenck? sag ihnen im tresor
und anderen bunkern wir liegen hier
erschossen herum in diesem augenwinkel
haben das wachsein schon vor sieben
milliarden jahren eingestellt
SCHLACHT UM BERLIN (2)
ES GRÜNT SO HERAUS aus dem von morgenlicht durch
sonnten reichstagsrasen zu gleichgültig
um „strahlend“ zu sagen alles einheitlich
und langsam, schmiegsam die frühen
besuchergruppen an den containern
die rein wolln in die kuppel, gescannt werden
sagt nebenan ein herrenhemd wie durch
es sein fleisch haben möchte grüßt geläufig
als wären wir alte freunde (kumpel) da noch einen
nützlichen beitrag leisten zu wollen ist wie eine arie
aus lullys armida gesungen von veronique gens
auf der partymeile in delmenhorst
jeder ist schön oder fast jeder der hier ansteht durch
leuchtet von kategorien des erhabenen
wo hast du nur diese schuhe her, wie geht’s R
wer schläft mit wem im kaufhaus HIER-UND-JETZT
nicht wahr alles gute fragen ohne die wir nichts
sind als ein nichts uns behaupten müssen
SCHLACHT UM BERLIN (3)
DAS GANZE INVENTAR deutlich da
unter den zehrenden zerrenden winden
des frühjahrs: irre kichern elfen
gnome trippeln im reigen
man riecht sich durch bis in die tiefe der zeit
die öffentlichen wege nach kyto-art
beharkt von eurojobbern (sie haben das zeug
zu menschen, meint herr s.) vergessen
der blutige ferdinand die kalte sophie
alles bereit zu orgasmischer durchhellung der welt
geöffnet die aphroditen-arsenale
(ihr schönen aus prenzlau und treuenbrietzen)
die stille nur leicht geritzt vom summen kleinster insekten
schon wackelt der erste tourist heran
in jerusalem regnets kräftig karfreitag
den großen stern umblüht der gelbe flieder wieder
antike chöre treten auf wann
geht der erste zug nach süden
Mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: Michael Speier: Haupt Stadt Studio. Gedichte, mit einem Vorwort von Michael Braun, Illustrationen von Hans Wrap und einer Komposition von Wolfgang Seierl, Berlin: Aphaia Verlag, 2012 (ISBN 978-3-926677-84-6).
Leave a Reply