Nov 2011

Jay Julian Rosellini

Neues Serbien? – Neuer Handke?

„Der Rakija der Gegend war naturrein …“ [1] „Kdo si? Wer bist du?“[2]

Die vorliegende Arbeit ist der dritte und voraussichtlich letzte von drei Beiträgen zu Peter Handke und seinem poetischen sowie politischen Verhältnis zum ehemaligen Jugoslawien. In den letzten Jahren konzentrierte sich die Analyse zunächst auf Unter Tränen fragend[3] und Rund um das große Tribunal[4], anschließend auf Die Tablas von Daimiel[5] und Die Morawische Nacht[6]. Als mutmaßlicher ‚verkappter Rechter’ und ‚blinder Jugoslawien- bzw. Serbienfanatiker’ steht Handke seit den neunziger Jahren im medialen Brennpunkt. Das jüngste Kapitel dieser Kontroverse dreht sich um den Reisebericht Die Kuckucke von Velika Hoča (2009) und das Theaterstück Immer noch Sturm (2010). Unten wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich Handkes Umgang mit dem Thema (Ex-)Jugoslawien (einem Thema, das von seiner andauernden Identitätssuche kaum zu trennen ist) in den beiden Werken gewandelt hat. Vorneweg muss aber die Feststellung stehen, dass das von vielen angefeindete Land Serbien zumindest ansatzweise neue Wege geht. Nach Jahren von Intrigen und Trotzreaktionen Belgrads wurde der bosnisch-serbische General Ratko Mladić im Mai 2011 endlich verhaftet und bald danach nach Den Haag ausgeliefert, wo der Kriegsverbrecherprozess gegen ihn vorbereitet wird.[7] Kaum mehr als einen Monat nach der Verhaftung Mladićs wurde bekannt, dass die EU nun dazu bereit ist, Verhandlungen über einen Beitritt Serbiens anzuberaumen[8], und die serbische Regierung redet wieder mit Vertretern des seit 2008 abhängigen Kosovo (auch wenn das den Nationalisten in Serbien nicht behagt).[9] Solche diplomatischen Winkelzüge werden kaum von den meisten EU-Bürgern wahrgenommen, aber am 3. Juli 2011 erschien das ‚neue Gesicht’ Serbiens millionenfach auf Bildschirmen und am Tag danach im Druck: Gemeint ist das große Tamtam nach dem Wimbledon-Sieg des vielgereisten Tennisspielers Novak Djoković. 100.000 Fans begrüßten ihren „Nole“ auf dem Belgrader Nikola-Pašić-Platz [10], und Boris Tadić, der Präsident Serbiens, sagte sogar: „Ich würde ihm sofort den Posten als Präsidenten überlassen.“[11]

Trotz der Abgrenzungsversuche der Ultras in Serbien – und nicht nur dort – macht sich, besonders unter Jugendlichen, eine gewisse Sehnsucht nach dem größeren Kulturraum Jugoslawien bemerkbar.[12] Ohne solche Dinge zu überbewerten,[13] lässt sich sagen, dass solche (wenn auch noch schwache) Anzeichen einer gewissen ‚Leichtigkeit des Seins’ im Jahr 2006 („Serbia’s Darkest Year“[14]) undenkbar gewesen wären. Ist das aber eine Welt, womit sich Peter Handke anfreunden kann?

Im Mai 2008 brach Handke erneut zu einer Erkundungsreise auf. Als Kontrastprogramm zu seiner Begegnung mit Radovan Karadžić (1996) und seiner Teilnahme als Redner am Begräbnis von Slobodan Milošević (2006) ging es diesmal wieder zu den ‚kleinen Leuten’, den namenlosen Bewohnern der serbischen Enklave Velika Hoća im Kosovo. Die „Nachschrift“, d.h. der Bericht über die Reise, sollte diesmal aus einer ungewohnten Perspektive verfasst werden:

Das Vorhaben, anders als all die Male zuvor, bestand bei diesem Besuch freilich nicht nur aus dem bloßen Dabeisein, Mitfeiern, Anschauen und Zuhören. Es drängte mich, den und jenen einzelnen im serbischen Kosovo ausführlich, sozusagen systematisch, in der Rolle des Reporters oder meinetwegen Journalisten, zu befragen, und die Antworten dem entsprechend mitzuschreiben. [Die Kuckucke …, 8f.]

Da sich Handke auch diesmal vor Medienkritik nicht scheut (zu den Zielscheiben gehören die FAZ, der Spiegel, die Süddeutsche und Die Zeit[15]), ist man angesichts des geplanten Rollenwechsels verblüfft. Dahinter steckt aber eher eine taktische Überlegung als ein grundlegender Sinneswandel, denn mit ‚Dichtern’ wissen viele Menschen nichts anzufangen:

Ich gäbe mich als „Journalist“ aus, was sofort seine Wirkung täte … (ihnen aber nur nicht mit der Tatsache ‚Schriftsteller’, ‚writer’, ‚shkrimtar’ oder gar ‚Dichter’, ‚poet’ kommen – das hieße im Handumdrehen Mißtrauen, oder bestenfalls Verständnislosigkeit, auch das eine reiche Erfahrung). [56f.]

Es dürfte allerdings keine Überraschung sein, dass Handke seinen Plan in den meisten Fällen nicht ausführt: Es gibt nur ein „regelrechtes Interview“, und dies nennt der Autor „die einzige künstliche, oder gar gekünstelte Situation während der ganzen Zeit in Velika Hoća“. [80f.] Handke lenkt freilich von seinen höchstpersönlichen Schwierigkeiten mit dem ‚Systematischen’ ab, indem er bemerkt: „Die Leute von Velika Hoća schienen sich mit dem Reden, und mehr noch mit dem Erzählen leichter zu tun, wenn ihnen keine Richtung vorgegeben wurde.“ (47) Wie gestaltet sich dann das gut eingeübte „Dabeisein, Mitfeiern, Anschauen und Zuhören“ (vgl. oben) im Kosovo?

Die Autoreise nach Velika Hoća, wo Handke „nicht bloß einmal, schon gewesen war“ (9), beginnt in Belgrad und führt über die geteilte Stadt Kosovska Mitrovica, wo die „Berichterstatter aus den westlichen Metropolen“ im Café „Dolce Vita“ auf Neuigkeiten warten (21). Anders Handke, der die friedliche Atmosphäre im Ort so einfängt: „Sich verstärkende Sonne und zunehmendes Blauen, sirrende Mauersegler, schwirrende Spatzen, trippelnde Tauben, die Gehsteige zwar brüchig, aber überall ritzenfrisch gekehrt, die Busse zwar rumpelig, aber klinkenrein gewaschen.“ (22) Sogar die „fremdländischen Soldaten“ (22) werden diesmal als Teil des Friedens [16] akzeptiert. Der Wanderer möchte auf der albanischen Seite „Neuland“ (23) entdecken und wird beim Passieren der Brücke von französischen bzw. (schwarz-)amerikanischen Posten in Ruhe gelassen (keine Ausweiskontrolle). Dieser ‚albanische Ausflug’ lässt aufhorchen, denn Handke ist an und für sich kein ‚Freund’ der Kosovo-Albaner, da sie u.a. bei den „Märzunruhen“ von 2004 (17) ihre kosovarisch-serbischen Nachbarn terrorisiert und deren Häuser, Kirchen, und Klöster zerstört haben.[18] Handke schaut sich im Laden die merkwürdige Landkarte „Ethnic Albania“ an, und der Leser früherer Jugo-Schriften des Autors erwartet, dass expansionistische Pläne der Albaner angeprangert werden, doch er wird eines besseren belehrt. Es heißt einfach, „[Es] schien solche Geographie für die Ortsansässigen etwas Selbstverständliches und Unschuldiges zu sein […].“ (28) [19] Allerdings führt das Fehlen von „zerstörten orthodoxen Kulturdenkmälern“ auf der Karte „Harta e Kosovës – Map of Kosova“ zu schweren Vorwürfen gegen die angeblich untätigen KFOR-Truppen und zur Verwendung des Begriffs „Pogrom“ (statt „Unruhen“). (28f.) Bezeichnend ist es aber, dass Handke und seine Begleiter später am „Gedenkturm für die Schlacht vom Kosovo Polje = Amselfeld im Jahre 1389“ (35) einfach vorbeifahren, und sie halten sich auch nicht in Priština auf, wo ein Gebäude mit dem „Riesenporträt des Staatsgeburtshelfers Bill Clinton“ geschmückt ist (35). Es geht weiter durch „das weithin grünende Ländchen Kosovo“ (35). Abgesehen von der Verkleinerungsform ist die Wahl der Bezeichnung „Land“ wohl keine zufällige, da Handke Kultur und Landschaft zu würdigen weiß, den neuen „fremden Staat“ (7)[20] aber kaum.

Bei der Ankunft in Velika Hoča und danach hört man überall Kuckucksrufe, und sie sind deshalb so deutlich, weil wegen der mangelnden Arbeit keine Fahrzeuge fahren. Es ist ein regelrechtes „Kuckuckswelttreffen“ (39)[21], und dieses Zusammenkommen der Vögel betont die Einsamkeit der Menschen in der serbischen Enklave: Nicht einmal zum Nachbardorf bestehen noch Kontakte (da dessen Bewohner albanisch sind). (48f.)[22] Den verbliebenen Serben geht es denkbar schlecht: Wegen Wasserknappheit lässt sich Landwirtschaft kaum noch betreiben, und viele Weinstöcke in der bekannten Weingegend sind „verrottet“ (54). Die ansässigen Handwerker haben kein Auskommen, und es gibt nicht einmal einen Bäcker – das Brot „wurde angeliefert von einer albanischen Fabrik“ (71).[23] Handke ist insgesamt bemüht, die Bodenständigkeit und Naturnähe der Enklavenbewohner zu betonen (auch wenn junge Männer kaum in Erscheinung treten). Ein von ihm interviewtes Ehepaar z.B. weiß von albanischen Schikanen zu erzählen („Strafzoll“, „Halsabschneidegesten“ – 84), aber „fürsorglich“ begleitet es den Interviewer zu einer Stelle „hinter dem Quellfelsen, wo an dem Wasser Myriaden kleiner lila Schmetterlinge gaukelten, bei ihrem Auffliegen lila der ganze Luftraum“ (85). Man erfährt daraufhin, dass die beiden eigentlich Flüchtlinge aus einem Nachbardorf sind, d.h., ihren ureigenen Platz in der Landschaft haben sie aufgeben müssen. Aus Handkes Sicht ist ein solches Schicksal niemandem zumutbar. Mit diesem Glauben hängt die wichtigste historisch-politische Passage des Buchs zusammen. Handke bestreitet, dass die Serben ihr Recht auf kosovarisches Territorium noch mit „der doch längst verjährten, außerdem (gegen die Türken) verlorenen Schlacht auf dem Kosovo Polje, dem Amselfeld, anno 1389“ (93f.) begründen. Niemand habe das ihm gegenüber angesprochen, und besagtes Recht sei anderer Art:

Wenn einer der Bewohner der Enklave überhaupt von seinem Recht sprach, dann von einem, das abzuleiten war von der Gegenwart und einer sie begründenden, lebendigen, unverjährten Vergangenheit, von dem Leben auf diesem Boden und dessen Bearbeiten durch den da Ansässigen jetzt, jetzt und jetzt im Verein mit dem Vorleben und Vorverarbeiten der Eltern, der Großeltern, der Urgroßeltern, der Vor- und Vorvorfahren. Dieses Recht braucht keine Legende und schon gar keinen Mythos. (94, Herv. von mir)

Er fährt dann fort: „Das Recht auf das Land kam aus dem Jetzt und dem Hier.“ (94) Nun, wer wäre heutzutage nicht gegen ethnische Säuberung oder Vertreibung irgendeiner Art? Das Problem dabei ist, dass Handke in diesem Kontext die Vertreibung bzw. Massenflucht der Kosovo-Albaner im Verlauf des Kosovo-Krieges 1998/99 nicht thematisiert. Auf der individuellen Ebene empfindet der Autor durchaus Mitleid mit den Kosovo-Albanern – festgehalten im eindringlichen Bild einer alten Frau („lautloses Grauen, welches schon seit einer gleichsam unvordenklichen Zeit in der Frau wirkte und bei meinem Anblick ihr akut in die Augen trat“ – 59), aber die Weigerung eines „Einverständis[ses] … mit der Geschichte“ (100) darf nicht zum Abschied von der Geschichte führen.

Handke liefert ein Porträt des örtlichen Popen, der im Verlauf des 1999er Bombenkriegs „wahnsinnig“ wurde und sich erst langsam erholte, aber es ist die Frau des Popen, die Wichtiges zu erzählen hat. Sie schildert das Leben unter der NATO-Besatzung, und zwar sehr differenziert: Anders als die Deutschen, Franzosen und Italiener hätten sich die Holländer „besonders brutal verhalten“ (74). Vor allem die „Kommandantin“ habe den Enklavenbewohnern „den Menschenstatus“ abgesprochen (75). Vor Ort wurde vermutet, dieses Verhalten hänge mit früheren Ereignissen zusammen. Die holländischen Truppen seien so vorgegangen,

[…] weil das eine Art Rache sein sollte für die massakrierten Muslimtausende seinerzeit nach dem Fall von Srebrenica, tausend Kilometer nordwestwärts jenseits der Drina, in Bosnien, wo die holländischen UNO-Soldaten im Juni 1995 die Massaker durch die bosnoserbischen Paramilitärs tatenlos hatten geschehen lassen.(75)[24]

Für den Handke-Leser ist nicht diese Vermutung von Interesse, sondern die Tatsache, dass der Autor das Wörtchen „angeblich“[25] nicht einfügt. Anders als vor Jahren lässt er keinen Zweifel mehr daran, dass das Massaker von Srebrenica passiert ist. Dies hatte er zwar schon früher gesagt, aber nicht in seinen Werken, sondern in Interviews. Die oft gehörte Behauptung, Handkes Jugoslawien-Bild sei unwandelbar, lässt sich angesichts dessen nicht mehr aufrechterhalten. Auch das sonst so negative Österreich-Bild wird hier zumindest teilweise revidiert. Eine alte Witwe hat eine Pension aus Österreich, und der Dorfschuster, der „jahrzehntelang“ da oben gearbeitet hatte, war „immer noch voll des Lobs über diesen besonderen Westen und seinen Arbeitgeber“ (70). Noch wichtiger ist der Hinweis, dass junge Österreicher zu den „KFOR-Freiwilligen“ gehören, die „die Serben von Velika Hoča beschützten“ (86).
Der Umgang der Literaturkritiker mit den Kuckucken ist ein kleines Lehrstück. Obwohl das Wort „Unrecht“ (im Hinblick auf den serbischen Verlust des Kosovo) im Buch nur einmal vorkommt (55),[26] behauptet Lothar Müller, Handke stehe „hier wie stets in seinen Reisebüchern aus dem Balkan an und auf der Seite der Serben“.[27] Das mag seine Richtigkeit haben, sagt aber nicht viel aus, da diese Serben nicht als Täter, sondern als Opfer auftreten, deren menschliches Leid nicht wegzureden ist. Michael Martens fragt gleich zu Beginn seiner Besprechung: „Wird es nun also wieder einen Skandal geben, mit allen Pauken und Trompeten des deutschen Feuilletons?“[28] Er fährt allerdings fort: „Handkes neues Buch taugt nur dem zum Ärgernis, der partout eines daraus machen und das Spiel von Empörung und Gegenempörung mitspielen will.“ In der Tat hat Handke nicht wenige Kritiker gefunden, die sich sonst nicht für Literatur interessieren. Er stehe, so Martens, zwar in der „Tradition einer schwärmerischen deutschsprachigen Serbienliteratur“, aber diesmal habe er „allein von sich“ erzählt, wenn auch wunderschön. Es stimmt zwar, dass die Enklavenserben eher skizziert als porträtiert werden, aber das Buch dreht sich um Handkes spezielle Perspektive, nicht um ihn selbst. Helmut Böttiger stellt zu Recht fest, dieser Text sei „nicht von Polemik oder von Wut geprägt, sondern von Trauer und Melancholie“, und er findet keine Spur von „serbischem Nationalismus“.[29] Der Wechsel im Tenor ist tatsächlich unübersehbar. Schließlich soll der (anonyme) Kommentator des ORF zu Wort kommen, der eine seit Jahren typische Formulierung anbietet: „Es sind geglückte Handke-Sätze, denen man sich nicht entziehen kann. Peter Handkes Pro-Serbien-Kurs muss man deswegen noch lange nicht mittragen.“[30] Die Kuckucke von Velika Hoča ist nicht – wie frühere Bücher des Autors – von einem „Pro-Serbien-Kurs“ geprägt, wohl aber von einem „Pro-Serben-Kurs“. Es geht um Leiden und Isolation der Kosovoserben, nicht um Politik, und deshalb paraphrasiert Handke nicht Slobodan Milošević, sondern Sophokles: „Vieles war unvergleichlich, nichts aber unvergleichlicher als ein Mensch, ein solcher oder ein solcher.“ (93)[31]

In den Kuckucken geht es um eine kleine Welt – nicht das ehemalige Jugoslawien, nicht Serbien, nicht Kosovo, sondern ein kleines Dorf. Die Hinwendung zum Mikrokosmos setzt sich in Immer noch Sturm fort, was sowohl den Standort als auch das Personal betrifft. In diesem Theaterstück, das im August 2011 bei den Salzburger Festspielen zur Urauffürung kam, befindet man sich auf dem Kärntner Jaunfeld (einem Siedlungsgebiet der Kärntner Slowenen unweit Bleiburg / slowen. Pliberk), und die handelnden Personen stammen alle aus Peter Handkes Familie: die Großeltern, die Geschwister der Mutter, die Mutter selbst und das „Ich“ (aka Handke selbst als zunächst ungeborenes, dann junges Kind sowie erwachsener ‚Zeitreisender’). Die Dialoge sind eine Erfindung des Dramatikers, und die Biografien der Charaktere wurden teilweise geändert. Wie schon so oft sucht Handke sich selbst, indem er versucht, mit seinen Vorfahren ‚ins Gespräch zu kommen’. Darüber hinaus hat er diesmal aber auch ein historisch-politisches Anliegen, nämlich die Verherrlichung des antifaschistischen Widerstandskampfs der Kärntner Slowenen im Zweiten Weltkrieg.

Immer noch Sturm stellt vielleicht keine grundsätzliche Wende im Hinblick auf Handkes Beschäftigung mit dem Jugoslawien-Thema dar, aber eine neue Dimension lässt sich nicht übersehen, nämlich der (endgültige?) Abschied von der Utopie einer jugoslawischen Heimat als Ersatz für die als äußerst problematisch empfundene österreichische Identität. Brachte die Filmemacherin Helke Sander vor Jahren eine „allseitig reduzierte Persönlichkeit“ auf die Leinwand, [32] so malt Handke im Jahr 2011 – mehr als fünfzehn Jahre nach seiner „winterlichen Reise“ nach Serbien – das Bild einer doch sehr reduzierten persönlichen Utopie, deren Bestandteile Familie, Landschaft, und Sprache sind. Jonglierte ein Rechtslastiger, ein Ewiggestriger mit solchen Elementen, so gingen linke Beobachter zweifellos gegen derartig Reaktionäres auf die Barrikaden. Was hier vorliegt, ist aber eher der Versuch, eine Art friedlicher Bodenständigkeit, ein Zuhause ohne Ressentiments zu kreieren, sozusagen eine ‚Heimat für Fortschrittliche’. Eine Traumlandschaft wird gegen den Alptraum Geschichte (W. Benjamins Engel schwebt über dem Ganzen) ausgebreitet.

Die Handlung des Stückes – wenn man dieses Familienporträt im Bernstein der (streckenweise absichtlich falschen) Erinnerungen als Handlung betrachten darf – vollzieht sich im Großen und Ganzen in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Reise zu den Verstorbenen geht mit einer Antipathie der Gegenwart gegenüber einher. Die Hauptfigur, das „Ich“, möchte, dass die Verwandten „auferstehen“[33], denn: „Ich verehre euch. Warum? Weil ihr Hasenherzen wart, aber tapfere. Als gehörten Hasenherzen und Tapferkeit zusammen. Und nie auch wart ihr die Angreifer.“[34] Diese Verquickung ortet Handke bei den Partisanen, die gegen den Nationalsozialismus kämpften. Ihr Widerstand war gleichzeitig ihr ‚Eintritt in die Geschichte’, der aber nur widerwillig akzeptiert wurde, wie Onkel Gregor erklärt: „Wehe dem Volk, nicht wahr, welches Geschichtsvolk wird: vom Opfervolk zum handelnden und siegreichen geworden, zwingt es ein anderes Volk in die Rolle des Opfervolks, nicht wahr.“ (152)[35] Mit anderen Worten: Handkes Vorfahren und die anderen Vertreter ihres kleinen Kulturkreises fühlten sich trotz Diskriminierung auf den ‚leeren Blättern’ der Geschichte, die für den Philosophen Hegel völlig uninteressant waren, einigermaßen wohl. Besagte Vorfahren gehörten aber in Wirklichkeit nicht zu den Partisanen, also muss der Dramatiker ihr Leben umdichten: Nicht nur Gregor (als Partisan: Jonatan) geht in den Wald, sondern auch seine Schwester Ursula (nom de guerre: Snežena [Schneefrau]), die nach erlittener Folter stirbt.[36] In Wahrheit starben Gregor und sein Bruder Johannes als Wehrmachtssoldaten im Zweiten Weltkrieg, und der andere Bruder Georg, der die Kriegsgefangenschaft überlebte, wurde in der Nachkriegszeit trotz seiner slowenischen Abstammung Gemeinderat der deutschnationalen FPÖ – und Antisemit.[37] Seine Familie kann man nicht aussuchen, heißt es. Genau das hat Handke aber in diesem Werk getan, was ihm als ‚Träumer’ natürlich zusteht. Nicht allen wird es einleuchten, dass das die geeignetste Art und Weise ist, die historische Leistung der Partisanen zu würdigen, denen das postfaschistische Österreich zumindest teilweise die Rettung seiner nationalen Ehre verdankt.

Im Bericht über Velika Hoča bleibt Jugoslawien eine Randerscheinung. Wird es ausnahmsweise erwähnt, dann ohne Beschönigung (vgl. den Hinweis auf die Klassenunterschiede „in den Jahrzehnten der stolzen alljugoslawischen Blütezeit“ 64). In Immer noch Sturm ist das Land zunächst eine Quelle slawischen Brauchtums (vor allem für Gregor) und dann das bewunderte Zentrum des Widerstands gegen das NS-Regime. Allmählich stellt sich aber heraus, dass das einst große Land Jugoslawien nicht mehr als neue Heimat taugt. Gleich am Anfang des Stückes sagt der desorientierte Zeitreisende, „Jugoslavija, das gibt es doch seit einer Ewigkeit nicht mehr“(13). Sein Onkel Gregor studierte in den dreißiger Jahren Obstwissenschaft in Maribor und galt seitdem als slawophil. Ihm gegenüber sagt die oft bissige Ursula etwas, was man als Selbstkritik Handkes auffassen könnte: „Der mit seinem ewigen Jugoslawien. Seinen höchstpersönlichen Traum hat er, voreilig, wie er ist, uns allen aufzwingen wollen.“ (40) Gregor selbst macht im Stück eine Wandlung durch: angesichts der Zustände unter der britischen Besatzung ab 1945 (die Kärntner Slowenen wurden wieder bzw. noch diskriminiert) verkündet er: „Das Neue Jugoslawien die einzige Möglichkeit“. Er fährt aber gleich darauf fort:

[…] zu meinem Kummer, zu meinem Leidwesen! Denn ich gehöre hierher, und hierher zieht es mich seit jeher, nur hier bin ich glücklich gewesen, wenn je. Mein Herz ist im Jaunfeld. Das Neue Jugoslawien, es ist bloß der letzte Ausweg. Ist es einer? Nein, denn würde ich das Jaunfeld verlassen, wäre es um unser Anwesen, unsere Liegenschaft, unsere Wirtschaft geschehen. (144)

Etwas präziser: „[…] hier sind wir zuhause, nicht jenseits der Karawanken, nicht in Slowenien, nicht in Jugoslawien […] Zuhause sind wir hier, allhier, im Jaunfeld, zwischen Saualpe und Petzen, in unserem Kärnten, v naši Koroški.“ (145) Mit Bezug auf die eigentliche Heimat wird der slowenische Ausdruck mehr als einmal gebraucht: „lepa Koroška“ [das schöne Kärnten] bzw. „naša lepa Koroška“ [unser schönes Kärnten]. Die Heimat ist die Sprache – oder umgekehrt.

Da wird es aber schwierig, denn das „Ich“ im Stück beherrscht die slowenische Sprache in ihrer Jauntaler Ausprägung (Podjuna, 38) nicht, was ihm übelgenommen wird.[39] Die einzige Figur, die kein Freund des Slowenischen ist, ist der Onkel Valentin, der sich auch von den Partisanen distanziert. Sein Nachkriegswohlstand (hier nimmt er wohl den Platz des ‚FPÖ-Onkels’ ein) verdanke er der Tatsache, dass er sich „von unserer Haus- und Sippensprache, der vermaledeiten, losgesagt“ hat. „Ja, verdammt soll sie sein, diese Sprache […]“. (14) Das „Ich“ muss dagegen zusehen, wie es in der Kindheit als „Bankert“ beschimpft wird, weil der abwesende Vater ein Deutscher ist, etwa so: „[…] übersetz das deinem Bankert, Schwester“ (so Gregor auf S. 34). Dieser „Windelscheißer“ (79) werde „in alle Ewigkeit nie ein Laut in unserer heiligen Muttersprache“ von sich geben (80). Warum ist das so wichtig? Die Mutter erklärt es gleich am Anfang: „Keiner in der Gegend hat so gesprochen wie wir. Keiner im ganzen Land spricht so wie wir, wird so gesprochen haben wie wir“ (14). Wer also anders spricht, gehört nicht dazu, hat folglich keine Heimat – oder auf jeden Fall nicht diese Heimat, was vom Großvater unmissverständlich klargemacht wird: „Mit eurer Fremdsprache [d.h. Hochdeutsch, JR] habt ihr unsere heilige Heimatluft entheiligt!“ (22) Eine typische Verwünschung (wiederum gegen das „Ich“ als Kind lanciert) stammt von Gregor: „Wärst du doch in Wilhelmshaven oder Osnabrück geblieben. Zurück mit dir nach Reinbek, Wandsbek, Lübeck, Gott mit dir!“ (135) Das „Ich“ (als Erwachsener) will aber unbedingt dazugehören, also begrüßt es alle Verwandten gleich zu Beginn zweisprachig, z.B. so: „Guten Tag, Großmutter, stara mati, dober dan.“ (11) Die Kenntnisse des „Ich“ sind aber noch beschränkt[40]: Als Gregor aus seinem legendärem „Obstbaumbuch“ vorliest, muss die Mutter übersetzen (24f.). Diese besondere regionale Sprache wird als eine Friedensmacht hingestellt, denn: „Jenseits der Sprache bricht die Gewalt los. Höchste Gewalt tötet die Sprache, und mit ihr den Einzelnen, dich und mich. In der Sprache bleiben. Auf ihr beharren!“ (140) Was hier natürlich mitschwingt, ist Handkes Vorstellung der Literatursprache als Mittel gegen die Schrecken der Geschichte.

Ein Art und Weise, eine untergehende oder bedrohte Kultur zu retten, ist das Benennen und Beschreiben von Gegenständen, Menschen und Schauplätzen. Dies ist ein Vorgehen, das fast alle Handke-Werke prägt (der rastlose Wanderer merkt sich eben alle Details, was nicht jede[r] könnte), und es prägt auch Immer noch Sturm, obwohl dieser Text nicht episch, sondern dramatisch sein soll. Handkes Akribie ist bewundernswert, aber sie strapaziert den Leser/Zuschauer sehr – manchmal zu sehr. Da gibt es z.B. eine Liste von charakteristischen Hausnamen auf dem Jaunfeld: „’Beim Schoißwohl’, ‚Beim Faulhaber’, ‚Beim Pruntzer’ […]“ (137) Es folgen dann weitere dreizehn Namen. Bei Naturbeschreibungen erfährt man manchmal auch mehr als genug, z.B. so:

[…] Und das Glimmerflimmern auf dem Grund der Bäche hier. Und auf dem Grund der Bäche, wo diese langsamer fließen, die Schatten der Wasserläufer oben. Und auf dem Grund der Bäche, wo diese schneller fließen, die Schatten der oben dahinflitzenden abgefallenen Blätter zusammen mit den in der Tiefe dahinrollenden Kieselsteinen […] (138)[41]

Auch die schönen „Orts- und Flurnamen“ werden gewürdigt, und das Bemerkenswerte dabei ist, dass sowohl die slowenischen als auch die ‚deutschen’ vorkommen ([…] ob Pliberk oder Bleiburg, ob Saualpe oder Svinjska planina, ob Diex oder Djekse, ob Altendorf oder Stara vas […]“ – 137f.). Als Handke diese Doppelnamen anführte, war der nach zähen Verhandlungen erreichte Kärntner ‚Ortstafelkompromiss’ noch nicht ‚fix’, wie die Österreicher sagen. Es ist durchaus im Sinne Handkes, dass die beiden Formen der Ortsnamen – bei allem Einsatz fur das Slowenische – friedlich nebeneinander stehen.

Wie steht es am Ende mit der ‚kleinen Utopie’ des Zusammenlebens im Kreis der Jaunfelder Familie? Bereits in der ersten Szene hat die Mutter das „Ich“ belehrt, dass sein Unterfangen zum Scheitern verurteilt ist: Die Verwandten würden zwar bei ihm bleiben, sagt sie, aber „[…] du, Sohn: bist du bei uns geblieben? Wirst du bei uns bleiben? Hast du uns nicht immer wieder abtun wollen? Uns loswerden?“ Er sei ein „Vaterloser“[42], der bei seinen Vorfahren „Ersatz, Halt und Licht“ suche.(12) Obwohl Handke das bäuerliche Leben in der Provinz idealisiert, war seine Entscheidung, Schriftsteller (und auch Weltreisender) zu werden, nicht dazu angetan, einen Verbleib in dieser Provinz zu ermöglichen. Es ist der jüngste Onkel Benjamin – derjenige, der aus einer „höheren Schule“ flieht, „gleich heim in den Stall zu seinen seichenden, furzenden, scheißenden Tieren, nichts wie heim in den heimischen Dialekt“ (31) – der vielleicht als Handkes Sprachrohr dient: „Ekel vor meiner ewigen Sehnsucht. Und Ekel vor meinem, unserem ewigen Heimweh“ (28). Peter Handke ist nicht aus der ‚höheren Schule’ geflohen (obgleich er vom Priesterseminar auf ein humanistisches Gymnasium überwechselte), aber in der Ferne ist es ihm, dem Gebildeten, nicht gelungen, eine zweite Heimat zu entdecken. Er schaut zwar heimwärts[43], findet aber das, wonach er sich sehnt, nur im Traum bzw. in der Beschreibung seines Traums. Das erklärt vielleicht seine Unterstützung derjenigen, die ihre eigene Heimat verloren haben, aber es erklärt nicht, warum er nicht alle Heimatlosen bzw. Vertriebenen auf eine Stufe stellt. Diesbezüglich ist ein allmählicher Wandel allerdings nicht zu übersehen.
Als Immer noch Sturm im Herbst 2010 in Buchform erschien, wurde die Rezeption bis zu einem gewissen Grad verzerrt, weil Handkes einstiger Besuch bei Karadžić in den Medien wieder thematisiert wurde. Dieser Besuch war zwar länger bekannt,[44] aber in der neuen Handke-Biografie von Malte Herwig [45], woraus Exzerpte im Herbst 2010 erschienen, gab es mehr Details dazu. In der Süddeutschen Zeitung wiederholte man die Behauptung von Norbert Gstrein, Handke hätte anlässlich des Besuchs in Pale den „höchsten oder jedenfalls einen hohen Orden der unseligen Republika Srpska bekommen“.[46] Ein solcher Orden kommt in Herwigs Biografie nicht vor, und Handke sagte 2010 im Gespräch mit Ulrich Greiner: „Das hat es nie gegeben, ebenso wenig wie die Rose, die ich auf den Sarg von Milošević gelegt haben soll.“[47] Herwig berichtet, was ihm Karadžić vom Treffen mit Handke erzählte: „Er befragte mich über den Krieg, die Ereignisse im Vorjahr in Srebrenica, die Hintergrunde des Konflikts und die Leiden der bosnischen Bevölkerungsgruppen.“[48] Die meisten Journalisten erwähnen, dass Handke für Salzburger Freunde (bosnische Muslime) den Auftrag ausführte, eine Liste von vermissten Verwandten mit der Bitte um Nachforschungen zu übergeben, aber sie sagen entweder nichts dazu oder tun es als naiv ab. (Bald nach Handkes Besuch verschwand Karadžić von der Bildfläche, und über die Vermissten war nichts zu erfahren.) Die bittersten Worte zu dieser ganzen Affäre fand Thomas Assheuer in der ZEIT. Nachdem er Handke ‚Lob’ gezollt hatte („der empfindsamste Schriftsteller deutscher Zunge“; einer, „der in seinen Büchern die Steine weinen hört“ – d.h. einer, der das Weinen der Menschen nicht hört), wetterte er gegen den Suhrkamp-Verlag, der einen Mitarbeiter als „Eskorte“ beigesteuert und damit seine „Prinzipien“ verraten habe.[49] Eine solche Doppelattacke ist wohl ein Unikum im Feuilleton der Nachkriegszeit.

Ein Kritiker hat behauptet, die gedruckte Ausgabe von Immer noch Sturm sei „überall freundlich besprochen“ worden.[50] Es kommt aber darauf an, was man unter „freundlich“ versteht. Für Hubert Spiegel handelt es sich um „ein mal leichthändiges, mal schwerblütiges Alterswerk“, ein Traumspiel à la König Lear, im „fotzelnden Familiensound“ vorgetragen.[51] In seiner Besprechung wird der historische Rahmen des Partisanenkampfs kaum beachtet. Dagegen versucht Thomas Steinfeld, die privaten und historischen Aspekte zu würdigen: das Werk sei einerseits „ein luftiges Denkmal der Nähe wider die Zeit“, andererseits: „Eine Figur zieht sich durch das gesamte Werk: Es ist der Partisan.“[52] Wie in den letzten Jahren ist es immer noch möglich, von ‚zwei verschiedenen Handkes’ zu reden, wie das in der Welt geschah: Immer noch Sturm beweise zwar die „ungebrochene poetische Kraft“ des Autors, doch „spätestens mit seiner – mindestens geschmacklosen – Teilnahme am Begräbnis von Milošević 2006 hatte Handkes Selbstdemontage als Intellektueller einen Höhepunkt erreicht“.[53] Eine solche Kritik klingt aber recht harmlos, wenn man die Einschätzung des nachgeborenen (Jg. 1968) Germanisten Jurgen Brokhoff liest. Dieser sieht bei Handke eher eine Einheit: „Seine auf vermeintliche Nebensächlichkeiten ausweichende, literarische Mittel einsetzende Ideologie gehört, gerade weil sie so subtil verfährt, zu den problematischsten Entgleisungen eines deutschsprachigen Autors nach dem Zweiten Weltkrieg.“ Mit anderen Worten: Handke sei keineswegs naiv, sondern auf böswillige Art berechnend; von einem Autor „solchen Ranges“ könne „eine Gefahr“ ausgehen.[54] Dies ist sicher die kolossalste Überbewertung der Macht der Literatur seit geraumer Zeit. Darüber hinaus nimmt Brokoff überhaupt nicht wahr, dass Handke in puncto Jugoslawienkonflikt längst nicht mehr der vorbehaltslose ‚Serbenfreund’ von 1996 ist. Sigrid Löffler, die Handkes Laufbahn seit langem begleitet und den Autor auch öffentlich verteidigt hat,[55] erblickt in Immer noch Sturm ein „privates Mysterienspiel“ im Rahmen eines „Menschheitsdramas“. Es sei „Handkes persönlichster und autobiografisch aufgeladenster Text – jenes Werk, auf das die zahllosen Slowenien-Verweise in seinem Œuvre von Anbeginn an abzielten.“[56] Zusammenfassend muss man sagen, dass sich die kritische Auseinandersetzung mit – nicht die beweihräuchernde Bewunderung von – Peter Handke auf jeden Fall lohnt. Von denjenigen aber, die diese Auseinandersetzung aus der Welt schaffen wollen (wie etwa der Wiener Kolumnist Hans Rauscher, der sich dafür einsetzte, das Publizieren von Handkes politischen Stellungsnahmen zu verbieten — [57]), geht tatsächlich eine Gefahr aus.

Postskriptum

Am 12. August 2011 wurde Immer noch Sturm im Rahmen der Salzburger Festspiele auf der Perner-Insel in Hallein uraufgeführt. (Ursprünglich war eine Premiere am Wiener Burgtheater unter der Regie von Claus Peymann geplant.) Regisseur war der Bulgare Dimiter Gotscheff, und das Ensemble stammte vom Hamburger Thalia Theater. Als Begleitprogramm boten die Festspiele und das Stefan Zweig Centre Veranstaltungen zum Thema Slowenen/Slowenisch in Österreich. Jens Harzer, der die Rolle des „Ich“ im Drama spielte, las in der Edmundsburg aus dem Buch der Namen, das u.a. das Schicksal der Kärntner Slowenen im antifaschistischen Partisanenkampf dokumentiert.[58] Dies sollte offensichtlich viel mehr als ein Theaterereignis sein: Anvisiert war eher eine Verquickung von Geschichte, Kultur und Politik, und zwar erst wenige Monate nach der Einigung im Kärntner Ortstafelstreit, der über fünfzig Jahre dauerte. (Die ersten Ortstafeln wurden vier Tage nach der Urauffuhrung aufgestellt.) In einem Kommentar des Wiener Standard wurden Poesie und Politik direkt miteinander in Verbindung gebracht: „In Kärnten wird die Ortstafellösung gefeiert, bei den Salzburger Festspielen Peter Handkes Stück Immer noch Sturm. Bei beiden Inszenierungen geht es um die Bedeutung der slowenischen Minderheit in Österreich.“[59]

An dieser Stelle kann auf die Einschätzung von Gotscheffs Inszenierung nicht eingegangen werden, obwohl man anmerken kann, dass es sowohl Lob („Großes Gegenwartstheater auf der Höhe von Max Reinhardts Träumen“[60]; „Welttheater – in vielerlei Bedeutung des Wortes“[61]) als auch Tadel („Ein ambitioniert scheiternder Abend“[62]; „Eine Salzburger Urverhunzung“[63]) gab. Im Rahmen dieser Arbeit ist wichtiger, wie man Handkes Umgang mit der Geschichte beurteilte. Einerseits konnte man die Symbiose von „Geschichtsbeschreibung und Geschichtserträumung“ goutieren[64] oder sogar „die klugen geschichtspolitischen Gedanken Handkes“[65] preisen. (Eine solche Formulierung wäre in den 90er Jahren und lange danach schwerlich aufgetaucht.) Andererseits hörte man auch wohlbekannte Töne: „Um Aufklärung […] geht es nicht, sondern um den Vorrang poetischer Weltaneignung vor der Vernunft. […] Zweifel sind angesagt an der Möglichkeit zum Dichterfürstentum.“[66] Insgesamt gab es kaum Stimmen gegen Handkes Versuch, den Kärntner Slowenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Handke habe die Slowenen „zum Sprechen gebracht“[67], er richte unseren Blick zu Recht „auf einen blinden Fleck. Einen Fleck mitten in Europa“.[68] Woher diese Einhelligkeit? Wie oben geschildert wurde, gehörten die Slowenen fast immer – ob südlich oder nördlich der Karawanken – zu den Opfern der Geschichte. Ihre einzige ‚Aktion’ war der Kampf gegen die Nazis, etwas, was nur Ewiggestrige kritisieren würden. Man kann sich also reinen Gewissens für sie einsetzen. (Dass dieser Einsatz eine scharfe Kritik am Österreich der Nachkriegszeit einschließen muss, ist für manche Beobachter ein zusätzlicher Reiz.) Anders steht es um die Serben, die sich zwar auch – mit mehr Erfolg – gegen Hitler auflehnten, dafür aber in den Kriegen zur Zeit der Auflösung Jugoslawiens ihren ‚guten Ruf’ verspielten. Als sich Handke für sie einsetzte – zuletzt im Kosovo, wo die (wenn auch allmähliche) „Vernichtung einer Kultur“[69] auch zu registrieren ist, erntete er eher Unverständnis, wenn nicht Verleumdungen. Die Serben (wie übrigens auch die Deutschen und Österreicher) sind eben Opfer und Täter, und das macht den Umgang mit ihnen und ihrer Geschichte außerordentlich schwierig.

Nach der Uraufführung von Immer noch Sturm gab es Applaus, Begeisterung und gar Jubel, zumindest nach den Berichten der anwesenden Theaterkritiker. (Der Verfasser war leider nicht dabei.) Auch Peter Handke erschien auf der Bühne, und es ist faszinierend, wie sein Auftritt beschrieben wurde: Es war, „als wäre er befreit von schwerer Last“.[70] Für das Publikum sei Handke „wie der heimgekehrte verlorene Sohn“.[71] Er habe „ruhig, ja: heiter“ gewirkt.[72] Angesichts der zum Teil heftigen Kontroversen der letzten Jahre kommt das einem Wunder gleich. Ob sich die momentane Versöhnung zwischen Autor, Lesern/Zuschauern und Kritikern anhalten wird, lässt sich keinesfalls vorhersagen. Eines lässt sich jedoch feststellen: Wer das Wort „Heimat“ nur mit Glacéhandschuhen (wenn überhaupt) anfasst, wird wachsam auf Handkes nächsten Fehltritt warten.[73] [Nach der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit erschien ein weiteres Handke-Werk zu dieser Thematik, das leider nicht mehr berücksichtigt werden konnte: Die Geschichte des Dragoljub Milanovic. Salzburg: Jung und Jung Verlag, 2011].

Endnoten

1 Peter Handke, Die Kuckucke von Velika Hoča. Eine Nachschrift (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009), 90. Weitere Seitenangaben im Text der Arbeit.

2 Peter Handke, Immer noch Sturm. (Berlin: Suhrkamp, 2010), 104. Weitere Seitenangaben im Text der Arbeit.

3 Peter Handke, Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000).

4 Peter Handke, Rund um das große Tribunal (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003). Vgl. dazu Jay Rosellini, „’Das Handwerk des Berichtens’: Die Medienkritiker Handke und Gstrein als Balkan-Kundschafter“, Glossen 21 (2005). [http://www2.dickinson.edu/glossen/heft21/rosellini.html]

5 Peter Handke, Die Tablas von Daimiel: ein Umwegzeugenbericht zum Prozess gegen Slobodan Milošević (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006).

6 Peter Handke, Die Morawische Nacht. Erzählung (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008). Vgl. dazu Jay Rosellini, „Die Literaten und die Auflösung Jugoslawiens: Noch einmal zu Handke und Gstrein” Glossen 29 (2009). [http://www2.dickinson.edu/glossen/Heft29/Artikel29/Rosellini-Handke-Gstrein.html]

7 Zu diesem Ereignis vgl. u.a. folgende Berichte und Kommentare: Caroline Fetscher, „Ratko Mladić: Der
Mördergeneral“, Der Tagesspiegel, 27. Mai 2011; Andrej Ivanji, „Das Ende einer jahrelangen Flucht“, Der Standard, 27. Mai 2011; Thomas Mayer, „Wandel durch Annäherung“, Der Standard, 28./29 Mai 2011; das Dossier „INTERNATIONALE STRAFGEREICHTSBARKEIT“, Der Standard, 4. Juli 2011; „Mladić weist alle Vorwürfe zurück“, Frankfurter Rundschau, 3. Juni 2011; „Wir haben nichts zu verbergen“ [Gespräch mit dem serbischen Präsidenten Boris Tadić], Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Juni 2011; Michael Martens, „Die bosnische Banalität des Bösen“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Mai 2011.
Nach der Festnahme Mladićs konnte auch der angeblich letzte gesuchte Serbe, Goran Hadžić, verhaftet und nach Den Haag gebracht werden. Vgl. Adelheid Wölfl, „Serbien stellt Den Haag zufrieden“, Der Standard,
21. Juli 2011. Präsident Tadić betonte, Serbien habe nun seine „moralischen Pflichten“ erfüllt.

8 Vgl. “Beitrittsverhandlungen mit Serbien ab März 2012“, Der Standard, 2./3. Juli 2011.

9 Vgl. Thomas Roser, “Kosovo-Serbien: Ende der Eiszeit“, Die Presse, 3. Juli 2011.

10 Ein Video findet sich auf Djokovićs eigener Webseite (http://www.novakdjokovic.rs)

11 Thomas Roser, “Serben feiern ihren Sieger: ‚Djoković for president’“, Die Presse, 4. Juli 2011. In der Politik ist alles freilich etwas komplizierter als auf dem Tennisplatz: Als ein kanadischer Tournee-Sprecher den Serben als „Kroaten“ vorstellte, regte er sich nicht auf (vgl. „Novak Djoković: ‚Croate or Serb – it’s the same thing“ – http://www.youtube.com/watch?v=pHxsHShCb5w&feature=related), aber er hat vor heimischem Publikum betont, dass Kosovo ein Teil Serbiens ist (vgl. „Novak Djoković – Kosovo is Serbia“ – http://www.youtube.com/watch?v=5oBg9FyX00k&feature=related). Djokovićs Vater stammt aus dem Kosovo, nahe Kosovska Mitrovica – einer Gegend, die Handke gut kennt.

12 Vgl. Olivier Guez, „Wachtraum vom Vielvölkerstaat. Eine Reise in die Jugosphäre“, FAZ, 7. Juli 2011. Eine solche Sehnsucht wäre durchaus im Sinne Handkes, aber ihn dürfte betrüben, dass die Literatur seit der Auflösung Jugoslawiens eher ein Nebenschauplatz geworden ist. Vgl. Norbert Mappes-Niediek, „Literatur in Ex-Jugoslawien. Der Geist weht frei, aber schwach“, Frankfurter Rundschau, 24. Juni 2011. Mappes-Niediek berichtet auch von den gescheiterten Versuchen, Sprachbarrieren aufzubauen.

13 Die gewalttätigen Auseinandersetzungen im August 2011 an der Grenze zwischen Serbien und dem Kosovo veranschaulichen, wie sehr alles noch im Fluss ist. Vgl. Andrea Mühlberger, „Ausschreitungen im Kosovo. Hürden auf dem Weg zum friedlichen Zusammenleben,“ ARD-Bericht vom 29. Juli 2011. http://www.tagesschau.de/ausland/kosovo492.html; Andrej Ivanji, “Serbien kritisiert NATO und EU”,
Der Standard, 1. August 2011; Karl-Peter Schwarz, “Kosovo-Krise. Altbekanntes einmal anders”, FAZ, 31. Juli 2011.

14 Vgl. Erich Wiedemann und Renate Flottau, „Back to the Balkans. Serbia’s Darkest Year“, Spiegel Online, 13, Juli 2006. (>http://www.spiegel.de/international/spiegel/0,1518,426518,00.html<). Der Titel des deutschen Originals klang noch düsterer: “Serbien: Absturz in die Hölle“, Der Spiegel 28/2006.

15 Man vergesse aber nicht, dass Handke einst zwar gegen die “Rotten der Fernfuchtler” wetterte, gleichzeitig jedoch beteuerte: “Nichts gegen so manchen – mehr als aufdeckerischen – entdeckerischen Journalisten, vor Ort (oder besser noch: in den Ort und die Menschen des Orts verwickelt), hoch diese anderen Feldforscher!” Aus: Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996), 122. Der ‘Journalist’ Handke rechnet sich zweifellos zu Letzteren.

16 „[…] ein einziges Wundern, daß das nicht auch schon in der Zeit vorher so hätte sein konnen […]“. (26)
Hier erlaubt es sich der Dichter Handke, Politik und Geschichte auszuklammern. Das darf man sicherlich beklagen oder als Naivität abtun, aber den Dichtern – anders als den politischen Kommentatoren – sollte solches Träumen gegönnt sein, zumindest in der Literatur.

17 Im Spiegel war von „gewaltsamen Übergriffen von Kosovo-Albanern“ die Rede (vgl. „Unruhen im Kosovo“, Spiegel Online, 26. Juli 2004 [>http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,310541,00.html<]).
Jenseits von Geschichte und Politik erwähnt Handke – kaum zufällig – die „Süßigkeiten […], für welche die albanischen Zuckerbäcker einmal über die Grenzen Jugoslawiens hinaus bekannt gewesen waren“ (57).
Er versäumt es auch nicht, das albanische Wort für Kuckuck („qyqe“) anzugeben (55). Als einer, der sich für die Sprache von Minderheiten einsetzt (Paradebeispiel: das Kärntner Slowenisch) ist schon die bloße Erwähnung eines albanischen Wortes ein Zeichen von Respekt vor der albanischen Kultur.

18 Vgl. “Nach schweren Unruhen im Kosovo: ‚Wir räumen mit denen auf’“, Süddeutsche Zeitung, 18. März 2004. In diesem Artikel steht auch, dass serbische Extremisten in Belgrad und Niš „die letzten Moscheen“ demoliert hätten.

19 Vielleicht ist es aber auch so, dass Handke das heikle Thema “Großserbien” nicht anfassen wollte.

20 Noch ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass serbische Wahlplakate ohne Kommentar beschrieben werden – vielleicht deshalb, weil die eine Variante, nämlich „Serbien zuerst!“ [34], Erinnerungen an den verstorbenen österreichischen Politiker Jörg Haider wachrufen müsste, dessen Spruch „Österreich zuerst“ lautete. (Es braucht kaum hinzugefügt zu werden, dass Handke kein Haider-Freund war.)

21 Nebenbei erwähnt Handke, „jemand“ habe ihm erzählt, dass das Fehlen der Kuckucke in nördlicheren Regionen mit dem Klimawandel (er sagt „Klimaerwärmung“) zusammenhänge. (89) Dies sei noch eine Hypothese, betont der Nabu-Vogelschutzexperte Markus Nipkow. Vgl. Hanno Charisius, „Der Kuckuck kommt zu spät“, Süddeutsche Zeitung, 10. April 2008.

22 Handke postuliert, einem Journalisten würden die Albaner sagen, sie würden „das befeindete Volk des benachbarten Enklavendorfs […] im Rahmen des Beieinander in einem großen Europa“ gelten lassen. (57)
Der Traum von EU-Geldern deutet darauf hin, dass die Konflikte weniger auf ethnische Unterschiede als auf Armut zurückzuführen sind.

23 Dieses Detail wäre ein guter Gegenstand für die Rezeptionsforschung: US-amerikanische Leser, die fast nur noch Brotfabriken kennen, würden sich fragen, warum es überhaupt erwähnt wurde.

24 Im Juli 2011 wurde der niederländische Staat zu Schadensersatzzahlungen verurteilt. Vgl. Helmut Hetzel, „Srebrenica: Niederlande verurteilt“, Die Presse, 5. Juli 2011.

25 Handke wirft den Journalisten vor, jedes gegen Serben verübte Unrecht durch den Gebrauch des Wortes “angeblich” in Zweifel zu stellen. Vgl. Die Kuckucke …, S. 10.

26 Es ist auch nicht Handke, der dieses Wort in den Mund nimmt, sondern einer der „jungen Freiwilligen aus Mitteleuropa“ (95).

27 Lothar Müller, “Die Kino-Klappsitze im Container ‚Rambouillet’“, Süddeutsche Zeitung, 11. März 2009.

28 Michael Martens, “Zum Balkan mit dem Kuckuck“, FAZ, 16. März 2009.

29 Helmut Böttiger, „Sehnsucht nach dem mythischen Kindheitsland“, >http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/946200/<.

30 “Die Kuckucke von Velika Hoca. Zwiegespräch mit den Bewohnern“, ORF-Rundfunksendung vom 3.Mai 2009. >http://oe1.orf.at/artikel/214859<

31 Der Satz bezieht sich auf eine trickreiche SPIEGEL-Reporterin, die sich als „christlich-albanische Sympathisantin“ in die Enklave einschlich und Fotos machte, um dann von einem “Hort von Kriegsverbrechern” zu berichten. (92)

32 Helke Sander (Reg.), REDUPERS. Die allseitig reduzierte Persönlichkeit, Spielfilm, BR Deutschland, 1977.

33 Dies wünscht er sich freilich nicht zum ersten Mal. Handke betont das selbst: „”Aber das habe ich im Roman ,Die Wiederholung’ doch längst getan. Und im Stück ,Über die Dörfer’ natürlich auch. Unter-schwellig schwingt meine Familiengeschichte immer schon mit…” Aus: „Treffen im Traumreich der Sprache. Peter Stephan Jungk spricht mit Peter Handke über Obst, Familie und über Handkes großes neues Stück Immer noch Sturm“, Die Welt, 23. Oktober 2010. Online unter >http://www.zeitzug.com/index.php?option=com_content&view=article&id=890&Itemid=267<

34 Der heutige Kinogänger kann nicht umhin, bei dieser Beschreibung an die “Hobbits” aus der Herr-der-Ringe-Trilogie zu denken.

35 Der Großvater bringt es auf den Punkt: „In unserem Haus keine Geschichte!“ (108) Er war im Ersten Weltkrieg an der Isonzo-Front im Einsatz, und das hat ihm – verständlicherweise – gereicht.

36 Vor ihrem Tod gesteht Ursula, dass Sie nicht zum Kämpfen geeignet ist (“[…] dort, wo getötet wird, gleichwie, gehöre ich nicht hin. Das ist nicht meine Welt.“ – 112), obwohl sie früher beteuert hat, als
Partisanin habe sie einen Platz bei der „Vorhut“ der Geschichte (96). Als ‚fromme Partisanin’ („Wenn ich unsere Partisanenlieder singe, habe ich zugleich einen Rosenkranz zwischen den Fingern.“ – 114) erinnert sie einen an Wolf Biermanns Oma Meume, die einst für den Sieg des Kommunismus betete. Ihr Bruder Valentin will mit den Partisanen nichts zu tun haben („[…] Undeutsche Umtriebe? Im Handumdrehen ausgetrieben […]“ – 82), und die „Mutter“ bleibt auch skeptisch (vgl. S. 89). Es kann also nicht behauptet werden, Handke hätte seine ganze Familie als ‚Heldengeschlecht’ glorifiziert.

37 Vgl. dazu Georg Pichler, Die Beschreibung des Glücks: Peter Handke; Eine Biographie (Wien: Ueberreuter, 2002), 16. In Immer noch Sturm überlebt Gregor den Krieg, Ursula nicht. Eigentlich überlebte Ursula, nicht ihr Bruder.

38 Im Stück wird eine potentielle neue Heimat kärntnerisch-slowenischer Aussiedler als „Neujaunfeld“ oder „Nova Podjuna“ bezeichnet (88).

39 Zu seiner Sonderstellung in der Jugend hat Handke Folgendes erzählt: „Die slowenischen Jungen schlossen sich zusammen und sprachen untereinander slowenisch, und ich kam auch aus einer slowenischen Familie, beherrschte die Sprache aber nicht.“ Aus: Thomas Steinfeld, „Im Gespräch – Peter Handke: Du mit deinem Jugoslawien“, Süddeutsche Zeitung, 27. November 2010.

40 Handke will aber schon vorführen, was er kann. Gregor/Jonatan erinnert seinen Vater daran, dass er und die anderen Kinder nicht „ich“ sagen sollten. Das „Ich“ sei „in der Endung des Zeitworts“ versteckt. (105f.)
Im Slowenischen werden die Personalpronomen im Präsens normalerweise ausgelassen. Das gilt für alle Pronomen, aber das Verschwinden des „Ich“ soll wohl andeuten, dass die Gemeinschaft in dieser Kultur (und auch noch bei den Partisanen) wichtiger als das Individuum war bzw. ist,

41 Am Ende der Winterlichen Reise wird der Sinn dieser Methode erörtert: Der Autor glaubt, „daß gerade auf dem Umweg über das Festhalten bestimmter Nebensachen, jedenfalls weit nachhaltiger als über ein Einhämmern der Hauptfakten, jenes gemeinsame Sich-Erinnern, jene zweite, gemeinsame Kindheit wach wird.“ (134) Damals regten sich viele Kritiker darüber auf, dass Handke zu Kriegszeiten Details wie die „andersgelben Nudelneste[r]“ (71) in Serbien erwähnte.

42 Das “Ich” behauptet zwar, er könne “die Vaterlosigkeit nur empfehlen“ (156), aber das klingt – trotz des Vergleichs mit Parzival, der ohne seinen Vater Gahmuret aufwachsen musste – nicht sehr überzeugend bzw. überzeugt. Gahmurets Abenteuer als Ritter waren auch eine andere Erbschaft als die Teilnahme von Handkes Vater am Zweiten Weltkrieg.

43 In deutscher Übersetzung heißt der Titel von Thomas Wolfes erstem Roman Look Homeward, Angel (1929) Schau heimwärts, Engel. In Wunschloses Unglück erwähnt Handke, er habe mit der Mutter zusammen Wolfe gelesen. Vgl. Peter Handke, Wunschloses Unglück (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974), 67.

44 Der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein hatte bereits 2008 in einem Interview davon geredet. Vgl. „Eine Figur, die sich verrannt hat“ [Gunther Nickel interviewt Norbert Gstrein], 21. August 2008.
Online: > http://volltext.net/magazin/magazindetail/article/4492/< Gestrein sprach damals von einer „Don-Quichotterei von einem der ganz großen deutschsprachigen Schriftsteller“. Vgl. dazu auch Harald Klauhs, „Die toten Augen auf dem Tisch“, Die Presse, 15. August 2008. Darin sagt Gstrein: „Handke, das meine ich nicht denunziatorisch, hat etwas von einem Märchenerzähler gehabt, Jugoslawien ist für ihn ein Sehnsuchtsland gewesen, und er hat den Jugoslawen nicht verziehen, dass sie ihm dieses Sehnsuchtsland in der Realität zerschlagen haben.“

45 Malte Herwig, Meister der Dämmerung. Peter Handke: Eine Biographie (München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2011), 280ff. Vgl. den Auszug „Peter Handkes Besuch bei Radovan Karadzic. Die Gedichte des Dr. K.“, FAZ, 29. Oktober 2010.

46 Lothar Müller, “Peter Handke. Neue Biographie. Winterliche Reise zum Tyrannen“, Süddeutsche Zeitung, 30. Oktober 2010.

47 Ulrich Greiner, “Eine herbstliche Reise zu Peter Handke nach Paris“, Die Zeit, 48/2010 (1. Dezember).

48 Malte Herwig, Meister der Dämmerung, a.a.O., 282. Es handelt sich um einen Brief aus dem Gefängnis von Den Haag vom 30. November 2009. (Vgl. Herwigs Anmerkung 123, S. 353.)

49 Thomas Assheuer, “Besuch bei Karadzic. Eskort-Service. Warum besucht ein Suhrkamp-Lektor einen Massenmörder?“, Die Zeit, 45/2010 (4. November). Der „Höhepunkt des konspirativen Treffens“ war laut Assheuer die Verleihung des Ordens.

50 Thomas Steinfeld, „Du mit deinem Jugoslawien“ (s. Anm. 39).

51 Hubert Spiegel, „Enkel Lear auf der Wunschtraumheide”, FAZ, 5. November 2010.

52 Thomas Steinfeld, “Ein luftiges Denkmal der Nähe wider die Zeit. Poetischer Partisan gegen den Teufel der Geschichte“, Süddeutsche Zeitung, 18. November 2010.

53 anon., “Handke und die Reise zu dem Kriegsverbrecher Karadzic”, Die Welt, 31. Oktober 2010. Dem Artikel sind zahlreiche Fotos vom Massaker in Srebrenica beigefügt.

54 Jürgen Brokoff, “Peter Handke als serbischer Nationalist – Ich sehe, was ihr nicht fasst“, 15. Juli 2010. Dieser Artikel erschien vor der Veröffentlichung von Vor dem Sturm. Die wohl schärftse Replik auf Brokoffs Urteil stammt von Hans-Dieter Schütt: „Ja, von diesem Dichter geht Gefahr aus. Die FAZ warnt vor Peter Handke“, Neues Deutschland, 14. Juli 2010. Schütt kann „Unmut unter diensthabenden Moralisten“ nicht ertragen, und „der einseitige westliche Blick auf die serbisch-kroatischen Spannungen, das zweierlei Maß im Umgang mit etwa Milošević und Tudjman“ ist ihm (und Handke) zuwider.

55 Vgl. z.B. ihre Stellungnahme zur Kontroverse um die Aberkennung des Heine-Preises: Jean-Pierre Lefèbvre und Sigrid Löffler, „Handke und kein Ende. Warum wir aus der Jury des Heinrich-Heine-Preises austreten“, Süddeutsche Zeitung, 2. Juni 2006. Darin heißt es: „Peter Handke ist einer der bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Das Programm seines Lebens ist zugleich das Gesetz seines Schreibens: die Arbeit an einer bewussten Blickänderung auf die Welt. In seinen Balkan-Texten prallt dieser Anspruch des Andersdenkens und Andersschreibens seit jeher auf den formierten journalistischen Konsens darüber, wie die jugoslawischen Sezessionskriege zu sehen und zu beurteilen seien. Entgegen diesem Konsens hält Handke daran fest, dass die Auflösung Jugoslawiens nicht die Lösung des Problems ist, dass darin vielmehr ein Verlust liegt, der auch benannt werden darf. Aber eben diese hartnäckige Abweichung eines einzelnen Schriftstellers will man nicht dulden.“

56 Sigrid Löffler, “Peter Handke – Immer noch Sturm“, Sendung im Kulturradio rbb vom 11, Oktober 2010.
Online: >http://www.kulturradio.de/rezensionen/buch/2010/peter_handke___immer.listall.on.printView.true.html<
Auch Malte Herwig spricht von einer gewissen Kulmination: „Das Werk hat lange Wurzeln. Den Titel hat Handke sich bereits vor 20 Jahren in seinem Tagebuch vorgemerkt.“ Aus: „Peter Handke. Stille Post vom toten Paten“, Die Zeit 39, 2010 (23. September).

57 Vgl. Hans Rauscher, “Verbotsgesetz für Peter Handke?”, Der Standard, 14. Juli 2005. Darin vergleicht er Handke mit den „nicht wenigen westeuropäischen Autoren […], die Stalin und (in viel geringerem Ausmaß) Hitler auf den Leim gegangen sind“. Die Standard-Leser, die Rauschers Artikel kommentierten, trugen zu einer notwendigen Diskussion bei, die von einem Verbot abgewürgt worden wäre.

58 Das Buch der Namen. Die Kärntner Opfer des Nationalsozialismus, hrsg. von Wilhelm Baum, Peter Gstettner, Hans Haider, Vinzenz Jobst und Peter Pirker (Klagenfurt: Kitab, 2010). Das Lesen von Namen ist eine bekannte Praxis bei Holocaust-Gedenkveranstaltungen. Zur Salzburger Reihe „Jenseits der Grenze“ vgl. Norbert Mayer, „Salzburger Festspiele: Peter Handkes tiefe Wurzeln“, Die Presse, 15. August 2011 und Christian Weingartner, „Wider das Vergessen“, Der Standard, 16. August 2011.

59 Alexandra Föderl-Schmid, “Angekommen im eigenen Land”, Der Standard, 17. August 2011.
Interessanterweise erschien ein paar Wochen vor der Uraufführung ein Buch über die Legende um den Wehrmachtssoldaten Josef Schulz, der sich geweigert haben soll, jugoslawische Partisanen zu erschießen. Vgl. Michael Martens, Heldensuche. Die Geschichte des Soldaten, der nicht töten wollte (Wien: Paul Zsolnay, 2011). In einem Interview sagte Martens dazu: „Der Balkan ist in der Erinnerung der Deutschen an den Zweiten Weltkrieg ein Nebenkriegsschauplatz.“ Die Erinnerung der Österreicher sieht sicher anders aus. Vgl. Rüdiger Rossig, „Wehrmachtslegende in Serbien“ [Interview mit Michael Martens], TAZ, 27. Juli 2011.

60 Ronald Pohl, “Handkes große Bühnenpoesie”, Der Standard, 13. August 2011.

61 “Nachtkritik: Immer noch Sturm”, Salzburger Nachrichten, 13. August 2011.
Online: >http://www.salzburg.com/online/thema/schauspiel/Nachtkritik-Immer-noch-Sturm.html?article=eGMmOI8V66bEjr19ORYrPkwDWHQDiklsxPh5nug&img=&text=&mode=&<

62 Hartmut Krug, “Wichtigtuer auf dem Schnipselteppich“ Deutchlandradio Kultur, Sendung vom 12. August 2011, 23.05 Uhr. Online: > http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/1529728/<

63 Ulrich Weinzierl, “Gerechtigkeit für Peter Handke!”, Die Welt, 15. August 2011.

64 “Nachtkritik”, a,a,O. (s. Anm. 61).

65 Karin Fischer, “Selbsterforschung im Bühnenformat”, Deutschlandradio Kultur, 13. August 2011.
Online: > http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/1528685/<

66 Uwe Mattheiss, “Wahrheit liegt im Schmerz”, TAZ, 15. August 2011.
Auf dem gleichen Gelände bewegt sich Gerhard Stadelmeier: „Handke hat in seinen Büchern und Theaterstücken der Welt bisher immer seine heilende Weihe-Hand aufgelegt, wobei dann aus dem völkermörderischen Jugoslawien schon mal die allerheiligste Nation werden konnte.“ Vgl. G.S., „Vorfahrtsregelung fur Vorfahren“, FAZ, 16. August 2011.

67 Hans Haider, “Die Slowenen zum Sprechen gebracht”, Wiener Zeitung, 15. August 2011.

68 Peter von Becker, “Seine Toten leben länger”, Der Tagesspiegel, 15. August 2011.

69 Diese Worte benutzte Regisseur Gotscheff im Hinblick auf Immer noch Sturm. Vgl. „Halb Traumspiel, halb Autobiografie“, Kulturzeit heute, Sendung von 3sat, 12. August 2011. Online: >http://www.die-schönsten-opern-aller-zeiten.de/page/?source=/kulturzeit/specials/156053/index.html. Das Video – bei dem auch Handke auftritt – findet man unter >http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=26354<.

70 Norbert Mayer, “’Immer noch Sturm’: Handkes poetische Familiensage”, Die Presse, 14. August 2011.

71 Dirk Pilz, “Es fällt kein Apfel weit vom Stamm”, Neue Zürcher Zeitung, 15. August 2011.

72 Ronald Pohl, “Der rasende Sippen-Kaspar” [!], Der Standard, 16. August 2011.

73 Zwei Vertreter dieser Spezies sind unter den Theaterkritikern zu finden: „’Immer noch Sturm’ ist, wieder einmal, ein hyperpersönliches Handke-Heimatstück.“ Aus: Dirk Pilz, „Kein Vorwärts, kein besser.“ Frankfurter Rundschau, 15. August 2011. Oder so: „[…] die – darf man das so sagen? – Heimaterde im Kärntner Jaunfeld […]“ Aus: Uwe Mattheis, „Wahrheit liegt im Schmerz“, a.a.O. (s. Anm. 66). Ja, das Wort Heimat darf (d.h.: sollte) man verwenden – gerade als eine(r) mit einem ‚progressiven’ Weltbild. Dass Heimatliebe nicht mit Fremdenfeindlichkeit einhergehen muss, versteht sich von selbst.

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