Jun 2014
Christine Cosentino
Christine Cosentino, Schräge Typen – Sonderlinge in Jakob Heins komischen Geschichten
Probleme der Abweichungen vom konventionellen Normalverhalten und der möglichen Grenzauflösung ins Pathologische sind dem in der DDR geborenen Autor Jakob Hein (Jahrgang 1971) keineswegs fremd, denn hauptberuflich ist er Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin. Bekannt und geschätzt ist er weitgehend für seinen unverkrampften Umgang mit dem Thema DDR. Von seiner Erstveröffentlichung Mein erstes T-Shirt (2001) bis zu seinem bis dato letzten Werk, der mit Jürgen Witte veröffentlichten Abhandlung über Deutsche und Humor (2013)[1], bereicherte er durch die Jahre hindurch den literarischen Markt mit köstlichen Satiren über ideologische, sozialkritische, psychologische oder existentielle Problematik sowie menschliches oder gesellschaftliches Fehlverhalten. Im Erforschen skurriler Charaktere trug Hein weitreichend zum Inventar der sonderbaren Käuze in der Weltliteratur bei. In ihrer Verschrobenheit oder ihrem Angesiedeltsein in einer gesellschaftlichen Grenzsituation fügen sich seine Protagonisten trotz individuellen Andersseins nahtlos in die Reihe von Grass’ Oskar Matzerath, Cervantes’ Don Quichote, Gontscharows Oblomov oder Kafkas Gregor Samsa ein. Eins haben sie alle gemeinsam: sie bewegen sich freiwillig-unfreiwillig “ex centro” an den Rand der Gesellschaft in eine isolierende Nische, die sie als Exzentriker ausweist. Meist sind es harmlose, sogar liebenswerte Menschen, die den Leser erheitern; oft jedoch lösen sie mit ihrem Anderssein im Bereich genormter Konventionen Beklemmungen und Unbehagen aus. Der Leser beginnt, darüber nach nachzusinnen, ob nun der Aussteiger ein ernstzunehmendes Problem für die Gesellschaft ist oder ob die Gesellschaft das Problem ist.
Im “humoristischen Lachen öffnet man Grenzen”, [2] heißt es in einem Gespräch der Philosophen Odo Marquard und Steffen Dietzsch über das Lachen und den Humor. Heins Lebenshaltung ist die eines Humoristen. Mit dem Gestus ironischer Übertreibung charakterisiert er sich in einem Radio-Interview folgendermaßen: “Also für mich ist es so, dass Humor so eine Art Krankheit ist. Es gab Zeiten in meinem Leben, wo ich mir gewünscht hätte, daran nicht zu leiden, aber ich habe es nun mal und probiere, damit zurande zu kommen …”[3] Das gelingt ihm nicht nur als Autor, sondern auch als Lesebühnenmoderator der Berliner Reformbühne Heim @ Welt, wo er seine Texte vorliest oder andere Autoren vorstellt. In seinen Werken paaren sich Komik und Witz, Ironie und Groteske, denn – so führt er in einer Untersuchung über Deutsche und Humor aus: “Humor ist keine Gattung, sondern eine Haltung, eine Vielzahl von Methoden wie Satire, Zynismus, Clownerie usw.” ( 117). Fast alle Werke Jakob Heins sind hintergründig witzige Bücher über die Absurditäten des Alltags in der vergangenen DDR oder in der bundesdeutschen Profitgesellschaft. Mit Recht nennt ihn Michael Opitz “einen Spezialisten für komische Geschichten, die von merkwürdigen Zeitgenossen handeln.”[4] Es sind zumeist Satiren oder Grotesken über skurrile Charaktere in alltäglichen Situationen, in denen ein Ich-Sprecher von der Perspektive eines naiven Außenseiters Ost-West-Klischees aufs Korn nimmt. Von der Miniaturensammlung Mein erstes T-Shirt (2001) über das US-Reisebüchlein Formen menschlichen Zusammenlebens (2003) bis zum erst kürzlich erschienenen satirisch aufgedrehten Landeskunde- und Geschichtsunterricht Fish’N’Chips @ Spreewaldgurken (2013) geht es um solche Clownerien. Deutschland, so die treffende Einschätzung eines Kritikers, wird zum “Absurdistan.”[5] Das gilt, so kann man verallgemeinern, für das Gesamtschaffen Jakob Heins.
In dieser Arbeit sei ein kurzer Blick geworfen auf einige eigenbrötlerische Randfiguren, Aussteiger, Sonderlinge oder Exzentriker im Werke Jakob Heins, die sich “ex centro” in eine gesellschaftliche Grenzsituation begeben, die ihnen das Leben erträglich macht oder die sie erdrückt. “Komik” – so der Philosoph Helmut Plessner – gehört der Ebene an, “in der sich der Mensch als solcher und im Ganzen in der Welt und gegen die Welt behauptet. Sein Irgendwo-irgendwann-Darinstehen, d.h. seine exzentrische Position, ermöglicht ihm, sich und seine Welt, in der er zu Hause ist und auf die er sich versteht, als begrenzt und offen zugleich zu nehmen, vertraut und fremd, sinnvoll und widersinnig.”[6] Sehr ähnlich sehen die Autoren Jakob Hein und Jürgen Witte diese “exzentrische Position”: “Humor ist die bewußte Hinwendung des Geistes zu den Fesseln der Realität” (H 33). Gelingt es dem Außenseiter, sich mit den Fesseln abzufinden oder sie sogar abzuwerfen, so öffnet er im humoristischen Lachen Grenzen und findet seinen Frieden. Gelingt es ihm nicht, so klingt, laut Plessner, “das Lachen gepreßt, und der Verlegene oder Verzweifelte hat das Gefühl eines deplacierten Ausdrucks.”[7] Hein skizziert beide Typen: den verschrobenen Einzelgänger, der in seinem Anderssein nur anders tickt und den isolierten Sonderling, der unter Realitätsverlust leidet. Doch dann gibt es noch einen Zwischenbereich, in dem die beiden Typen ineinander gleiten und zur Gefahr für sich selbst oder andere werden können. Diese Situationen sind bar aller Komik. Dem Leser erstirbt das Lachen.
Im Jahre 2008 erschien der Roman Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht[8], in dem Hein in ironisch-witziger Brechung mit einem “übermächtigen Bezugstext”[9], dem Faust-Stoff, spielt. Das Werk ist ein Bündel “schräger Allerweltsgeschichten”, – so meint ein Kritiker – in denen Hein die “traurigen Gestalten der Überflußgesellschaft unterläuft.”[10] Der Leser begegnet seltsamen Käuzen, die sich ernsthaft in lang ausgedehnten Reflexionen und schier endlosen Tiraden den Kopf zerbrechen, wieviel Milch in einem guten Kaffee sein darf, wie man am besten “die vollkommen sinnlose” Chinesische Mauer würdigen soll oder “inwiefern die Form der Toilettenschüssel mit dem Nationalcharakter eines Landes in Verbindung stehe” (26). All diese Sonderlinge sind auf Glückssuche oder auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, kurz, auf der Flucht aus der Gesellschaft und der Konvention. Die Hauptfigur jedoch ist Boris Moser, ein “schräger Typ”, wie die Frau seiner Träume ihn nennt, der eine “Agentur für verworfene Ideen” betreibt, in der er abstruse Ideen jeder Art sammelt, nur keine Romananfänge. Er ist ein harmloser, freundlicher Exzentriker auf der Suche nach einer Form erfüllten Lebens. Er findet das Glück ganz unerwartet, indem er von ihm verworfene Romananfänge zu Geschichten ausweitet, die er erzählt. In einer Art Rahmenhandlung lernt er nämlich die schöne Rebecca kennen, die durch Zufall in seinen Laden kommt. Sie interessiert sich für ihn und seine schrägen Ideen, besonders aber für seine Romananfänge und die Geschichten, die sich dahinter verbergen. Und so erzählt ihr Boris drei ineinander verzahnte Geschichten ohne Ende, die um ein Kernstück, einen Pakt mit dem Teufel – “des Pudels Kern“? – kreisen.
In der Art einer russischen Matrioschkapuppe, in der immer weitere kleinere Figuren stecken, gleitet im Erzählstrom eine Geschichte in den Anfang einer neuen, bis dann beim Erscheinen der dritten und letzten Puppe/Geschichte die Reihenfolge wieder umgekehrt wird; der Kreis schließt sich. Die Handlung führt zurück in die Ausgangssituation mit den beiden Hauptfiguren Boris und Rebecca. Um dem beglückenden Moment der Begegnung Dauer zu verleihen – “Verweile doch …” , heißt es bei Goethe – , will der versponnene Erzähler Boris mit seinen Geschichten die schöne Rebecca zum Bleiben bewegen, hatte sie doch anfangs schelmisch gedroht: “Wenn du mir jetzt nicht gleich die ganze Geschichte erzählst, dann drehe ich dir zunächst den Hals um und verlasse dann deinen schrägen Laden für immer” (48).
Die Faustsche Folie wird bereits im Titel des Romans sichtbar. Wird bei Goethe in der Osterspaziergang-Szene “Vor dem Tor” (Faust 1) dem Moment eines sich ewig wiederholenden tagtäglichen Sonnenuntergangs beglückende Dauer verliehen – “Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht” –, so dehnt sich auch die Beziehung von Boris und Rebecca märchenhaft ins vielversprechend Dauerhafte. Sie lädt ihn zu sich nach Hause ein.
Zunächst hört Rebecca die Geschichte von der schönen Sophia, die die Gedanken anderer Menschen lesen kann, eine Last, unter der sie zusammenbricht. Sie liegt auf der Intensivstation eines Krankenhauses im Koma. Telepathisch erzählt sie dem Nachtarzt Sebastian über ihre Arbeit als Sekretärin bei einem mürrischen alten Schriftsteller, der erblindet ist. Dieser diktiert ihr die Geschichte über den “merwürdigen Menschen” Heiner, einen frustrierten Gelehrten, der beschließt, “nach dem Sinn des Lebens zu forschen” (104). In seiner Studierstube versucht er, aus den wichtigsten Büchern der Welt Teile herauszudestillieren, “[die] das Puzzle in seiner Lebenszeit zusammenfügen” (106) und zu der Erkenntnis führen sollen, “wie alles sich zum Ganzen webt” (Faust 1, Nacht). Dieser moderne Faust scheitert, weil die ständige mediale Ablenkung und der überbordende Informationsüberfluss des modernen technischen Zeitalters zu immer wieder neuen, sich rapide ändernden, letztlich nichtssagenden Ergebnissen führt. Und so kommt es zu einem Pakt mit der mephistophelischen Teufelsfigur Wolf, der ihn an einen, Ort, an dem es keine Ablenkungen gibt, projiziert, nämlich ins fünfzehnte Jahrhundert. Dort angekommen, wird ihm schnell klar, dass er zwar mit dem Informationsüberfluß seines Zeitalters nicht mehr belastet ist, jedoch im technisch begrenzten Mittelalter seine Forschungsergebnisse mit niemandem teilen kann. Seine Arbeit ist ihres Sinns beraubt. Er stagniert im Zustand fortwährender Unzufriedenheit, wobei ihm klar wird, dass ein Spiegelbild seiner selbst seinen Platz im einundzwanzigsten Jahrhundert eingenommen hatte: “Die unerträgliche Wirklichkeit des einen war der Wunschtraum des anderen gewesen” (157). Die Geschichte hat kein Ende, zumal sie auf der Tastatur eines Computers mit thailändischem Alphabet getippt wurde. Die Handlung gleitet zurück zu Sophia, die auf der Intensivstation liegt. Der Tag bricht an; der telepathische Dialog bricht ab. Die Geräte werden abgeschaltet.
Am Schluß taucht Boris wieder in der Rahmenhandlung auf. Er allein hat unter den vielen Glücklosen der Handlung das Glück gefunden, wenn auch durch Zufall. Im Durchbrechen von Erwartungshaltungen zeigt sich unfreiwillige Komik. Boris hat im Erzählakt die fremde Frau für sich gewonnen. Selbstbewußt ergreift sie die Initiative und im deutlichen Abweichen vom literarischen Vorbild – “Mein schönes Fräulein, darf ich wagen/ Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen” (Faust 1) – bietet sie ihm den Arm: ”Einen Moment fragte er sich, ob es richtig war, dass sie ihm den Arm anbot, und ob nicht er das hätte tun sollen, aber dann hakte er sich vorsichtig bei ihr ein” (174) So gelingt es ihm, die Fesseln der ihn einengenden unmittelbaren Wirklichkeit abzuwerfen: Boris, der merkwürdige Sonderling mit einem Minimum an Sozialkontakten, steigt aus der genormten Gesellschaft aus, um in eine private Sphäre des Liebesglücks einzusteigen, in der das Du seiner skurrilen inneren Welt mit Sympathie begegnet .
Um einen Menschen, der ebenfalls neben der Spur läuft, geht es in einem anderen, dem vorigen Text diametral entgegengesetzten Text. Im Jahre 2006 veröffentlichte Jakob Hein den Roman Herr Jensen steigt aus. [11] Der Titel spricht für sich selbst. “Nicht das Alltägliche, nicht der Wahnsinn interessieren Jakob Hein, es ist der schmale Grat dazwischen”, so heißt es im Klappentext. Hein projiziert seinen Sonderling folglich in jenen Zwischenbereich, in dem Scharfsinn und Irrsinn letztlich nicht mehr unterscheidbar sind. Der Roman Herr Jensen steigt aus ist ein Psychogramm. Wann, falls überhaupt, ist ein Isolierter oder Einzelgänger, der selbst ganz klar erkennt, “daβ er am Rand der Gesellschaft [steht]”(83) und durch das Raster sozialer Normen fällt, eine Gefahr für sich? Bei Heins “Anti-helden” Herrn Jensen erscheinen eines Tages Vertreter aus der Psychiatrie: “Wir haben Hinweise erhalten, dass Ihr Verhalten in letzter Zeit einfach etwas merkwürdig geworden ist. Und deshalb würde ich Sie bitten, mit uns mitzukommen […] (132), um Gefahren von sich selbst und anderen abzuwenden” (133). Kann das Merkwürdige ihn zum Kandidaten für die Zwangsjacke machen? Harmlos, wunderlich, verschroben wirkte Herr Jensen schon immer; er war ein Mensch, über den man lachte. Aber eine Katastrophe in seinem ereignislosen Leben wird zum krisenauslösenden Moment, macht die Welt plötzlich unerwartet “zu einem unscharfen, schwer faßbaren Etwas unvereinbarer Widersprüche”, in dem “er sich treiben läβt” (42). In welche Richtung aber treibt er? Treibt er auf den Abgrund zu? Hein gibt keine Antwort, er beobachtet und berichtet, lässt klinisch nüchtern die Fakten sprechen. Er präsentiert 18 numerierte Kapitel (001-018) mit sachlich formulierten Überschriften, die sich wie eine wissenschaftliche Akte bzw. Krankenakte lesen.
Herr Jensen ist unangepasst, lebensfremd, motivations- und orientierungslos, still und introvertiert; ein freundlicher Mensch, der keine Freunde, keine Frau, kaum Kontakt zur Familie hat und der sich in seinem Daueraushilfsjob als Briefträger recht behaglich eingerichtet hat. Er will nicht auffallen, fühlt sich in seinem Anderssein wohl und will in seinem gesellschaftslosen Vakuum in Ruhe gelassen werden. So wird er Gegenbild des ständig unter Druck stehenden, konkurrenzbewussten modernen Menschen, der sich unbehaglich in der Gegenwart dieses exzentrischen “Spinners” fühlt. Die Leistungsgesellschaft, die allein auf Konsumdenken und Entertainment programmiert ist, hat für einen Einzelgänger wie Herrn Jensen keinen Platz. Schon aus diesem Grund gehört er in die Reihe der “Auβenseiter”, die Hans Mayer im Rahmen seiner Sozial- und Kulturkritik einer ausführlichen Untersuchung unterwirft: “Eine Denkrichtung, die eine sogenannte Personalisierung verachtet, um allein die Kollektivität anzuerkennen, die quantitativ erheblichen Regelfälle, statt der qualitativen Einzelfälle, fördert das fetischisierte Denken und damit eine unmenschliche Praxis.”[12] Das heiβt also, dass es dem Leser in diesem Personalisierungs-Fall überlassen ist, darüber nachzudenken, ob Herr Jensen ein ernstzunehmendes Problem oder ob die normierende Welt das Problem ist.
Treibt dieser harmlose Sonderling in steigender Verwirrung aus dem unscharfen Zwischenbereich von Wahn und Sinn in den totalen Irrsinn, nachdem seine Arbeitsroutine bei der Post plötzlich zum Stillstand gekommen ist? Ihm wird “im Rahmen unseres neuen Programms zur Verhinderung betriebsbedingter Kündigungen” (25) gekündigt. Die Folge ist totale Isolation. Zunächst entwirft er eine Philosophie des Nichtstuns, die dem Studium verblödender Fernsehprogramme gewidmet ist, bis er, an den Rand des Wahnsinns getrieben, den Apparat samt angelegter Akten aus dem Fenster wirft. Die Werte, die die Fernsehprogramme vermitteln, sind ihm fremd, und so begreift er, der Fremde, daß er außerhalb gesellschaftlicher Normen steht, zumal Normalität in der Gesellschaft folgendes bedeutet:
Man sollte viele Freunde haben.
Man sollte die aktuelle Mode kennen.
Man sollte Ahnung von Musik haben.
Man sollte fröhlich sein.
Man sollte Geld haben.
Man sollte schön sein.
Man sollte etwas mit sich anfangen.
Man sollte Träume haben. (83)
Herr Jensen diagnostiziert, daß er nicht normal ist. Er, der nie so richtig eingestiegen war, steigt aus: “Herr Jensen mußte feststellen, dass er nicht normal war. [Er mußte] nun erstaunt erkennen, daß er am Rande der Gesellschaft stand” (83). Er lebt in völliger Stille. Seine antigesellschaftlichen Verschrobenheiten verschärfen sich. Meist sitzt er im Sessel und reflektiert über Verschwörungstheorien; er glaubt sich verfolgt und halluziniert: “[Er] sah jetzt sein breites Grinsen auf der glänzenden Oberfläche seines Kaffees” (88). Das Grinsen würde, laut Plessner, “den Abbruch seines Daseins [signalisieren]” und die Unfähigkeit, “sich von der Komik des Deplaciertseins packen zu lassen” (Plessner, 166). Sollte Komik im Zustand der Arbeitslosigkeit und Isolation überhaupt vorstellbar sein, so wäre das Lachen sicherlich gequält und verzerrt, und auch dem Leser würde das Lachen über diesen seltsamen Kauz und Sonderling vergehen. Herr Jensen, nachdem ihm von Seiten des Staates mitgeteilt wird, dass er wegen seines merkwürdigen Verhaltens reif für die Psychiatrie sei, löscht sich selbst aus. Er entfernt sein Namensschild von seiner Tür. Der Ausstieg aus der Gesellschaft ist abgeschlossen.
Ein Text ganz anderer Art ist die groteske Erzählung Wurst und Wahn. Ein Geständnis[13] (2011). Es handelt sich um das satirische Geständnis eines Kriminellen, der, in den Wahnsinn getrieben, eine Kult- und Leitfigur in der Gesellschaft ermordet hat. In verzerrt übersteigerter Form präsentiert Hein einen Bereich gesellschaftlicher Mitte, der von Fanatismus und missionarischem Eifer durchdrungen ist. Hier ist ein namenloser, sich drangsaliert fühlender Ich-Sprecher kein Aussteiger oder Outsider, sondern das Gegenteil, ein “Einsteiger” bzw. Insider. Er ist ein durchaus lauterer Bürger, ein “ein wenig langweiliger [Mensch]” (29), der aber “immer dabei sein wollte” (9), “ein friedfertiger, total unauffälliger Mensch” (30), dessen Mitschüler zum Teil zwei bis drei Schuljahre brauchten, um sich seinen Namen zu merken. Dann allerdings, unter enormem sozialen Druck, steigt er, ein argloser Fleischesser, tiefer und tiefer in eine totalitäre, zwanghaft vegetarisierte Gesellschaft ein. Vegetarismus wird zur gesellschaftlichen Massennorm und zur einzig wahren Lebensform. Der fleischessende Protagonist wird beim Versuch, sich den neuen Normen anzupassen, buchstäblich in den Wahnsinn und zum Mord getrieben. Nicht das ausschließende A-Normale einer Grenzsituation führt in diesem Vegetarismusmonolog in den Irrsinn, sondern die einschließende “Normalität” der Mitte. Diese Mitte schafft Attribute, die gewöhnlich dem traditionellen Exzentriker oder Außenseiter zugeschrieben werden: “Ich wurde schrullig” (46). Hein kommentiert: “Die Ideologien hinter diesem ganzen Unsinn satirisch zu überspitzen und dann eben bis zur Katastrophe, bis zum Mord zu übertreiben, das hat mir absoluten Spaß gemacht.”[14] Er, der selbst Vegetarier ist, stellt einen “merkwürdig” willenlosen Menschen vor, der nicht – “ex centro” – von sozialen Normen abweicht, sondern in blinder Hörigkeit im totalitär durchvegetarisierten gesellschaftlichen Zentrum aufgeht und verkümmert. Es geht, so kommentiert Hein in einem Interview, “einerseits um die Kritik an übermäßigem Fleischgenuss, andererseits um Satire gegen die ideologische Aufladung.”[15]
Auf einer Weihnachtsfeier mit Arbeitskollegen bestellt sich der ahnungslose Protagonist sein traditionelles Weihnachtsessen, eine Gänsekeule, Rotkohl und Klöße. Entsetzt findet er sich einem Sturm der Entrüstung ausgesetzt. Und da es “ihm immer wichtig gewesen [war], nicht aus der Reihe zu tanzen” (9), gelobt er unter Druck und Zwang, Vegetarier zu werden. Entzugserscheinungen und Entwöhnung verändern ihn physisch und psychisch. Die Zähne fallen ihm aus, er nimmt ab, seine Haut ist fahl. Er leidet an Erbrechen, Delirium, an epilepsieartigen Aussetzern, Depression und Impotenz. Hein treibt die Groteske auf die Spitze: Glieder und Penis fallen ab. Worte wie “Hackbraten” und “Leber” nuschelnd, schlurft der Leidende durch die Wohnung: “Die Augen weit aufgerissen laufe ich in der Wohnung herum und stecke mir wie ein Kleinkind alles Mögliche in den Mund, kaue darauf herum. Nach zwei Minuten ist der Spuk herum und ebenso unvermittelt wie der Anfall angefangen hat, spreche ich den davor begonnenen Satz zu Ende” (35). Hilflos wendet er sich ans Internet und stellt Kontakt zu Tom Tofu her, der Leitfigur des Vegetarismus. Dieser versorgt ihn mit guten Ratschlägen, die ihm den Vegetarismus schmackhaft machen sollen. Doch der dahinsiechende Neu-Vegetarier träumt weiterhin von Rouladen, Würsten und Gänsekeulen und stellt letztendlich Kontakt zum Untergrund her, zu Bert Brühwürfel von der Gruppe “Meat Friends”. Diese Gruppe hat es sich zum Ziel gemacht, die unter Druck zum Vegetarismus bekehrten Unglücklichen wieder zur Fleischkost zurückzuführen. Zum Rückfall ins Karnivore kommt es schnell. Der ausgehungerte Protagonist schließt sich der karnivoren Gruppe an; er muss jedoch sehr bald erkennen, daß beide Gruppen, die Pro- und Antivegetarier, schamlos kollaborieren und dass er Opfer ihrer konspirativen Machenschaften geworden ist. Fassungslos und nicht mehr Herr seiner Sinne tötet der Erboste den mächtigen Tom Tofu. Dem Polizeikommissar gesteht er in einem langen Monolog, wie es zu dem Mord gekommen ist: “Mein ganzes Leben ist zerstört, meine Arbeit dahin, genau wie mein Penis (99) [..] Nach Meinung der Vegetarier habe ich eine ihrer Leitfiguren getötet und gleichzeitig nach Meinung der Karnivoren ihren wichtigsten Unterstützer […]” (101). Der Protagonist, der sich selbst einmal als “schrullig” und Mensch der Mitte bezeichnet hatte, entledigt sich seiner gesellschaftlichen Fesseln; komischerweise geschieht das in der Rand- oder Grenzsituation des Gefangenseins. Das Gefängnis wird ihm zum Refugium, zum Hort der Sicherheit und Freiheit: “Denn ein Leben in Freiheit kann es für mich nur hinter Gittern geben. Da draußen werde ich nie wieder sicher sein, ich kann keine Straße überqueren […], ohne um mein Leben zu fürchten” (101).
Heins Interesse an Grenzsituationen ist offensichtlich. Sie signalisieren einen Bruch mit der gesellschaftlichen Normalität, die zumeist als substanzlos, monoton und erdrückend erlebt wird, die jedoch auch ein Maß an Geborgenheit und Verbindlichkeit gewährt. Wer aussteigt, ändert den Blickwinkel. Das kann, wie im Falle von Herrn Jensen, in tragische Isolation führen. Diese Tragödie ist jedoch voll unfreiwilliger Komik, denn durch sein Nichtstun wird Herr Jensen zur Provokation in der Leistungsgesellschaft. Er wehrt sich entschieden gegen sinnlose Schulungsmaßnahmen des Arbeitsamtes und findet Ruhe in seiner Einsamkeit. Somit wird er in dieser Grenzsituation zur gesellschaftlichen Herausforderung. Der schrullige Boris Moser dagegen findet Zufriedenheit ex centro im Schrägsein, denn es ist gerade diese merkwürdige Charaktereigenschaft, die die schöne Rebecca für ihn einnimmt. Schrägsein macht ihn attraktiv. So lebt er außerhalb der gesellschaftlichen Mitte nur im märchenhaften Moment schöner Zweisamkeit: “Verweile doch, du bist so schön.” In die extremste Grenzsituation am äußersten Rand der Gesellschaft gerät jedoch ironischerweise der konformistische Mensch der Mitte. Wurst und Wahn führen den gebeutelten Protagonisten dieser überzeichneten Satire an einen Ort seltsamer Freiheit: ins Gefesseltsein in einer Außenseiterposition.
Endnoten
[1] Jakob Hein und Jürgen Witte, Deutsche und Humor. Geschichte einer Feindschaft (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013). Zitate mit Seitenzahlen im Text der Arbeit.
[2] Odo Marquard und Steffen Dietzsch, “’Das Lachen ist die kleine Theodizee’: Odo Marquard im Gespräch mit Steffen Dietzsch”, Luzifer lacht. Philosophische Betrachtungen von Nietzsche bis Tabori, hs. v. Steffen Dietzsch (Leipzig: Reclam, 1993), S. 15.
[3] Oliver Kranz, “Porträt: Jakob Hein”, WDR Mosaik, Sendung am 8. 3. 2013.
[4] Michael Opitz, “Erzähler von Format”, Deuschlandfunk 26. November 2013.
[6] Helmut Plessner, “Anlässe des Lachens”, in: Luzifer lacht …, pp. 119-175; hier 146.
[7] Plessner, 166.
[8] Hein, Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht (München: Piper, 2008). Zitate mit Seitenzahlen im Text der Arbeit.
[9] Sandra Kerschbaumer, “Vom Landen im Müll”, Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.9.2008.
[10] Ulrich Steinmetzger, “Stylishes Dampfgeplauder”, Neue Ruhr-Zeitung 17.11.2008.
[11] Hein, Herr Jensen steigt aus, 3. Auflage (München: Piper, 2006). Zitate mit Seitenzahl im Text der Arbeit.
[12] Hans Mayer, Außenseiter (Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch, 1981), S. 464.
[13] Hein, Wurst und Wahn. Ein Geständnis (Berlin: Galiani Verlag, 2011). Zitate und Seitenzahlen im Text der Arbeit.
[14] Hein, “’Das tote Tier und das schlechte Gewissen.’ Gespräch mit Klaus Pokatzky”, Deutschlandradio Kultur 5. 12. 2013.
[15] Hein, “Ein wahrer Mensch isst viel Fleisch”, Frankfurter Neue Presse 15.10. 2011.
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