Jan 2019

Dank an die Emigration

von Egon Schwarz

 

Emigration ist schrecklich wie des Himmels Plagen, doch ist sie auch gut, ein Geschenk der Götter wie sie.

Die Emigration ist eine strenge Lehrmeisterin. Jeder Lebende erfährt den Schmerz, das Gefühl absoluter Sinnlosigkeit beim Verlust eines einzigen vertrauten Menschen. Der Emigrant verliert mit einem Schlag alles, was ihm vertraut im Leben ist, was das Ausharren auf dieser unwirtlichen Erde möglich zu machen scheint.

Ich war sechzehn Jahre alt, als ich emigrieren musste.

Ich glaube, dass ich ein sesshafter Mensch bin, obwohl ich es nicht beweisen kann. Denn ich habe mich seither – und das geschah vor fünfundzwanzig Jahren – pausenlos in der Welt umgetrieben. Es gibt keinen Ort auf der Erdoberfläche, wo ich drei Jahre, keine Wohnung, in der ich zwei Jahre verbracht hätte. Aber die bescheidene Etagenwohnung in meiner Heimatstadt zu verlieren, in der ich von Kindheit an gewohnt hatte, deren jeder Winkel, jedes Möbel, jede rauhe Tapetenstelle mir so vertraut war, dass ich das alles fast wie einen Teil meines Körpers empfand, war mir lange Zeit kaum erträglich. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der Stadt: die Läden, wo ich manchmal einkaufen musste (ein halbes Pfund Butter, das man schnell brauchte, oder die Zeitung, die man vergessen hatte), die Parkanlagen, in denen man mich als Kind spazieren führte und in deren Sandhaufen ich graben durfte, die Brücken, unter denen ich Steine in das Wasser schmiss, die Straßenzüge, durch die mein Schulweg führte – das alles war wie eine leibliche Fortsetzung meiner eigenen Existenz, nicht schön und nicht hässlich, sondern fraglos mein. Schon die Rückkehr von den großen Ferien, so gern ich diese auch hatte, war selige Wiedervereinigung mit all dem entbehrten Trauten, das ein Teil von mir war. Und nun gar die Schule selbst: die Treppen, die geölten Böden, die bekritzelten und zerschnittenen Pulte, die kahlen Wände, die bestaubten Zeusköpfe aus Gips, sogar die scharf nach Desinfektionsmittel und anderem riechenden Aborte! Ich liebte sie nicht, diese Schule. Welcher sensiblere Gymnasiast hätte schon die grauenhafte, von verkrampften Marionetten autoritär regierte Stätte seiner Demütigungen geliebt? Aber sie war unentbehrlich, und sein seither nie mehr erlebtes Glücksgefühl durchströmte mich, wenn im September nach endloser, dreimonatiger Entfernung, die Wellen ihres unausrottbaren Geruches wieder über mir zusammenschlugen und ich mit wohligem Schauder in den Stundenplan das neue, mir gänzlich rätselhafte Wort „Physik“ eintragen musste, mit dem ich fürderhin leben sollte.

Das alles ging eines Tages plötzlich und unwiederbringlich verloren, als sei es weggewischt, und ich glaubte, nicht weiterleben zu können.

Dem Verlust ging eine Zeit des Aufruhrs und des Hasses voran. Fahnen wurden in allen Fenstern gehisst, neue, rote mit dem bedrohlichen schwarzen Zeichen im weißen Kreis, nicht die harmlosen, gestreiften, die wir bis dahin anzubeten hatten. Aus dem Radio plärrten scharfe, ironische und pathetisch salbungsvolle Stimmen. Alles war voll von Uniformen, Freunde meines Vaters verschwanden und man erzählte Furchterregendes von den KZs, wohin sie, wie es hieß, gebracht worden waren. Fratzen starrten einem aus den Hasszeitungen entgegen und waren Verzerrungen des eigenen Gesichts. Auf den Straßen wurden meinesgleichen in Häuflein fortgetrieben. Es wurde viel marschiert. Die Lehrer zeigten sich noch gehässiger als zuvor, die gestern noch lausbübisch-egozentrischen, aber schülerhaft umgänglichen Kameraden wurden eisig und ablehnend. Und ich wusste, dieser feindselige Aufwand galt mir. Die ganze vertraute Umgebung hatte sich gegen mich gekehrt. Das war nicht schön, es war sogar gräßlich, aber es war und blieb die vertraute Umgebung, und war nicht die Emigration.

Eines Tages war dann alles weg. Die Schule, die Wohnung, die Parks und Plätze, die ganze Stadt. Ich hatte alles verloren: das Gesicht der Hausmeisterin und die roten Hände der Kolonialwarenhändlerin, den Papagei, dem ich immer Plätzchen brachte, wenn ich sonntags ins Weltpanorama ging. Ich hatte plötzlich keine Schulkameraden, ich kannte keinen Menschen mehr und hatte sogar meine Eltern, kurz, meine gesamte Vergangenheit und Zukunft Verloren.  Das war die Emigration: Ich war gerettet. Aber für eine vertraute Heimat hatte ich trotz der Verfratzung die Leere und Sinnlosigkeit der ganzen Welt eingetauscht.

Das mit dem Verlust meiner Eltern muss ich erklären, denn sie leben heute noch nach fünfundzwanzig Jahren, etwas betagt und gebrechlich, aber im Grunde ganz gesund, worüber ich natürlich sehr froh bin. Aber es sind nicht die Eltern meiner Kindheit. Diese waren nämlich für mein Gefühl unzertrennlich mit der Umwelt meiner Heimatstadt verbunden und büßten für mich zugleich mit dieser ihre ursprüngliche Funktion ein. Mein Vater war der Mensch gewesen, der zu ganz bestimmten Stunden aufstand und fortging, und zu ebenso genau festgesetzten Zeiten heimkehrte, aß, das Radio andrehte und eine Zeitung mit einem unveränderlichen Titel las. Und auch meine Mutter war eine ganz festgelegte Person, etwas erregbar und weinerlich, aber – und darauf kam es an – mit bekannten Ansprüchen und Gewohnheiten, die allesamt auf diese meine Geburtsstadt bezogen waren. Diese beiden Menschen hatten kaum etwas mit den vergrämten, versorgten, ratlos getriebenen Personen zu tun, mit denen ich von nun an eine Zeitlang durch die Welt zog und von denen ich mich bald trennen musste, weil die Emigration eine eifersüchtige Göttin ist, die auf den ungeteilten Dienst ihrer Hörigen besteht. So war ich an dem Tage der Einbuße unter anderem auch plötzlich und mit einem rohen Schlage Erwachsener geworden.

Und jetzt kamen die Jahre der Ruhelosigkeit und der Obdachlosigkeit für einen, der sich für sesshaft hält, ohne es freilich beweisen zu können. Es gab wieder Wohnungen, es gab neue Obst- und Milchhändler, Parkanlagen und Brücken und sogar einen Schulweg, und eine Schule gab es noch einmal auf kurze Zeit, aber das war vollkommen sinn- und bedeutungslos und hätte genauso gut auch nicht zu sein brauchen. Das Furchtbare an der Emigration war nicht das immer wieder eintretende Ablaufen der Aufenthaltserlaubnis, das Einpacken und Verreisen ohne Ziel, das Deportiertwerden und die nächtlichen Grenzüberschreitungen, das Schlangestehen bei den Hilfsvereinen für Flüchtlinge und Konsulaten, das Leben aus Koffern, die Wochen im Lager, die Flucht und das monatelange Verstecktsein, nicht das schlechte oder mangelnde Essen, nicht der Husten, mangelhafte Zimmer, nicht das Verlieren und Suchen des Vaters, die Erkrankung und das Zurücklassenmüssen der Mutter, nicht einmal das Misstrauen der Menschen oder die Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit der ganzen Existenz. Denn sonderbarerweise war das für mich nicht das Wesen des Exils, nicht die Emigration an sich, sondern lediglich die logische Entsprechung jenes verlorenen Schatzes, die natürliche Folge der Einbuße des Vertrauten und Ererbten, ohne das leben zu wollen mir damals unvorstellbar und leben zu können ehrlos vorkam. Wirkliche Glückempfindungen habe ich jahrelang nur in manchen Nächten, anfangs häufig, dann immer seltener erlebt, stürmische, törichte, selige Räusche von Glück, aus denen ich in Schweiß gebadet, mit klopfenden Pulsen und wahnsinniger Enttäuschung erwachte. Es war fast immer ein und derselbe Traum, in dem ich weiter nichts Schönes sah und in dem nichts passierte, als dass ich mich in eine Straße jener Stadt zurückversetzt sah, deren Bewohner mich grausam bespien und verjagt hatten und die für mich nur den einen, allerdings unwiderruflichen Vorzug besaß, dass ich da geboren war. Das hat nichts mit Sentimentalität zu tun.

Und dann kam wieder ein Tag. An diesem Tag brachte mein Vater die grünen Pässe mit der grauenhaften Rune auf dem Deckel und dem obszönen roten Jot auf der ersten Seite, die er so lange auf den hochmütigen Konsulaten vergebens zu Markte getragen hatte, heim, und es war in jeden ein Visum eingestempelt, ausgestellt auf ein fernes primitives Land, von dem ich in der Schule nichts gelernt und dessen Namen ich kaum jemals gehört hatte. Weiß der Himmel, welchem Zufall oder welcher Ausdauer oder welcher ausgeklügelten Erniedrigung diese Einreisegenehmigung zu verdanken war. Die Stadt, in der wir letzthin mit den Nachtkellnern eines Sektpavillions in einem gemeinsamen Schlafsaal gehaust hatten, war längst auf allen Seiten von Hitlerterritorium umgeben. Aber das Visum war ein Zauberstab, und es öffnete sich für uns die Himmel. Ein Hilfsverein zahlte unsere Passagen, und mein erster Flug hob mich hinaus aus dem Kessel der Treibjagd. Ein paar Tage in einer begehrten Weltstadt, allerdings ohne ein Pfennig in der Tasche – immer wiederkehrende Tantalussituation des Exils – dann saßen wir zwischendecks auf einem Dampfer und überquerten das Meer. Die Reise zu unserem neuen Bestimmungsort dauerte einen ganzen Monat. Und in der Mitte des Ozeans stand eines Tages auf einem schreibmaschinengeschriebenen Anschlag zwischen Nachrichten von einem Tennisturnier und der Verhaftung eines bekannten Gangsters zu lesen, dass die Stadt, der wir entronnen waren, mitsamt den Volksküchen, in denen wir gegessen, und den Pfandleihanstalten, wo wir die Reste unserer Garderobe gelassen, mitsamt den Polizeistationen, Konsulaten und Flüchtlingsstellen, in denen wir Schlange gestanden, und dem grölenden Sektpavillion, über dem wir geschlafen hatten, eine Beute Hitlers geworden war. Dieser Tag war das Ende meiner Emigration und der Beginn meiner Immigration.

Emigration und Immigration sind, obgleich offenbar miteinander verwandt, doch gleichzeitig so grundverschieden, wie Verlobung und Ehe verwandt und verschieden sind. Mit einer grauenhaften Weibsperson ist es entsetzlich verlobt oder verheiratet zu sein, aber es ist auf andere Weise entsetzlich.

Die Verlobungszeit mit der Emigration war voll von stürmischem Auf und Ab, Hin und Her gewesen, voll hektischer Erregungen und tiefer Depressionen. Auf die Dauer konnte man so nicht leben, das war klar. Wir waren bei Schulschluss im Frühjahr ausgewandert, und ich erinnere mich der irren Hoffnung, in der ich den ersten Sommer verlebte, im Herbst nach den großen Ferien bei veränderten Verhältnissen, so als wäre nicht geschehen, wie schon so oft in meine Schule zurückkehren zu können.

Solche Hoffnungen waren nun für immer erloschen. Die Immigration war von vornherein auf Dauer angelegt. Man hatte eine Einreiseerlaubnis, eine unbeschränkte Aufenthaltserlaubnis, ja sogar eine Erwerbserlaubnis. Bald musste man nicht mehr von misstrauisch dargereichten Mildtätigkeiten leben, sondern durfte sich eine Arbeit suchen, eine Wohnung mieten, Mahlzeiten kochen. Man wurde nicht mehr abgeschoben, abends gab es wieder die Pantoffeln und morgens den Wecker. Es hatte Sinn, die neue Sprache zu lernen, denn es würde wohl noch morgen und übermorgen dieselbe sein. Die Misere war jetzt Alltag geworden.

Aber was sollte ein siebzehnjähriger Gymnasiast machen, der in der Erwartung eines geistigen Berufes erzogen wurde und gelebt hatte? Was nützte jetzt das bisschen Algebra und Latein? Die Schule war zu Ende, jetzt musste Geld verdient werden. Während der nächsten zehn Jahre trieb ich – das war schon zum Lebensgesetz geworden – von einem Land zum anderen, von einer Beschäftigung zur nächsten. Ich war Maurer und Elektriker, Bibliotheksgehilfe und Textilarbeiter, Hausierer und Nachtwächter, Sprachlehrer und chemischer Techniker, Bergarbeiter und Kürschner, Buchhalter und Übersetzer, und immer ein Fremder. Einmal Emigrant, immer Emigrant. Diese Wahrheit erfuhr ich am eigenen Leibe. Und obschon ich das neue Land nicht eroberte, entschwand das alte immer mehr. Weit weg war Europa und die Aufgaben der Gegenwart dringend. Zuerst freilich beschäftigte die Vergangenheit noch sehr. Man verkehrte fast ausschließlich mit anderen Emigranten, die Gespräche drehten sich um das politische Geschehen, demzufolge man hier zusammensaß, um das „Früher“, das einem jeden in einem verklärten Licht erschien, um die Flucht, deren jede einzelne einem fesselnden Roman glich. Man las die Emigrantenzeitungen, gründete Emigrantenvereine, spielte Emigrantentheater. Und endlich – so empfanden wohl die meisten – brach der gerechte Krieg aus, und jeder Sieg der alten Heimat wurde mit Erbitterung, Niedergeschlagenheit und Angst, jede ihrer Niederlagen mit gieriger Genugtuung und irrsinnigem Jubel aufgenommen. Aber die Gegenwart wurde immer stärker und die Vergangenheit immer schattenhafter. Und als es dann klar wurde, dass der entsetzliche Krieg im Grund entschieden war und die Niederzwingung des Untiers nur mehr eine Frage der Zeit, begann sogar das Interesse an den europäischen Entwicklungen nachzulassen. Man war der grauen Gegenwart nun gänzlich ausgeliefert, weil einen sogar der Hass im Stich gelassen hat, der noch eine Verbindung mit dem Ursprungsort darstellte. Noch einmal wurde man aufgewühlt von den unglaublichen und doch wahren Nachrichten, die aus Europa kamen: die vergasten Millionen von Menschen. Nur durch einen Zufall, ein Missverständnis war man selber nicht dabei.

Und dann kam wieder ein Tag. Der Krieg war zu Ende. Die deutschen Städte und die jüdischen Krematorien rauchten zum Himmel, es war ein und derselbe Rauch. War jemand von den Menschen, die damals, vor undenklichen Zeiten, zur Familie gehört haben, noch am Leben? Was war mit dem Großvater, der Großmutter, den Onkeln und Tanten, den zahllosen Vettern und Kusinen geschehen, die nicht emigrieren konnten, sondern daheim geblieben waren, und von denen jahrelang kein Sterbenswörtchen herübergedrungen war. Und dazu war das Telegramm da, durchs Rote Kreuz weitergeleitet, in französischer Sprache. Es stammte von einem Onkel, der immer als eine Art schwarzes Schaf gegolten hatte, weil er – der Himmel weiß warum – katholisch geworden war. Das Telegramm enthielt nur zwei Worte: Resté seul. Die Taufe hatte ihm, wie ich später erfuhr, das Leben gerettet. Wir stammen ja aus einem christlichen Land. Alle anderen tot. Die Großmutter auf der Landstraße mit dem Gewehrkolben erschlagen, der achtzigjährige Großvater im Vernichtungslager verschollen. Ich habe später einen Landsmann getroffen, der mit ihm zusammen in Auschwitz war und es überlebt hat. Er habe in der Küche gearbeitet, erzählte der Mann, und meinem Großvater eine gekochte Kartoffel gebracht, und da habe ihm der sterbende Großvater die Hand geküsst. Und am nächsten Tag sei er verschwunden gewesen. Und verschwunden waren auch alle anderen, Frauen und Männer, Alte und Junge, ebenso wie die kleinen Kinder, vergast, verschleppt, erschlagen, ermordet. Resté seul. Auch dieser Tag war ein Tag der Konfrontierung mit der Emigration.

Fünfundzwanzig Jahre sind vergangen, seit ich ausgewandert bin, achtzehn seit der Krieg zu Ende ist. Längst bin ich in einem Land, wo ich eine vierte Sprache gelernt habe. Ich bin sogar Staatsbürger geworden und habe einen neuen Pass. Er ist wieder grün, aber ohne Rune und Jot. Ich habe geheiratet. Ein deutsches, christliches Mädchen. Zufall oder geheime Bewandtnis? Wir haben drei Kinder, die zwei Sprachen sprechen. In dem Maße, wie die weltgeschichtlichen Konvulsionen nachließen, milderte sich auch mein seelischer Aufruhr. Ich habe doch wieder meine Studien aufnehmen und den nie vergessenen, nie aufgegebenen geistigen Beruf ergreifen können. Und was mehr ist: eine unabweisbare Gewissheit sagt mir, dass ich darin mehr und Größeres leiste, ja, dass ich ein bedeutenderer Mann geworden bin, als es ohne die Emigration möglich gewesen wäre.

Und einmal bin ich auch wieder „drüben“ gewesen. Nicht bloß in Europa im Allgemeinen, sondern „dort“, an der Stelle meines Ausgangs. Es begann harmlos genug mit Frankreich und Italien. Aber dann durchquerten wir die Alpen und näherten uns meinen Ursprüngen, dem Lande meiner Väter, wie es schön heißt. Unsere zwei Kinder reisten mit uns, alle waren ermüdet, ich hatte meiner Frau versprochen, in einer kleinen Stadt zu übernachten. Aber als wir am Nachmittag da anlangten, hatte mich ein sonderbares Fieber ergriffen, von innen her, das Schichten erfasste, die ich für verschüttet gehalten hatte. Ohne auch nur zu halten, durcheilte ich den Ort, immer weiter und weiter. Meine Frau fragte nicht. Spät nachts fuhr ich in meiner Geburtsstadt ein.

Die nächsten Tage verlebte ich in einem Trancezustand. Wie ein Traumwandler zog ich durch die Gassen, meine Familie hinter mir her. Alles schien unverändert. Mit einer fast schmerzenden Hellsichtigkeit wusste ich nach zwanzig Jahren jedes Fenstersims, jeden Torbogen voraus, wusste, dass der übernächste Laden eine Konditorei, dass hinter der nächsten Ecke drei Ahorne und eine Bank sein mussten. Und bei jeder Bestätigung wurde etwas heil. Hier, an diesem Platz hatte mein Vater eine Taxe angehalten und mich hineingesetzt, weil ich verschlafen hatte und zu Fuß zu spät zur Schule gekommen wäre. Hier war zu meinem Entsetzen mein Reifen über das Brückengeländer gesprungen und den Fluss hinuntergetrieben. Wo war er jetzt? Hier unter dem Denkmal des geigenden Künstlers, im Schatten der Fliederbüsche, hatte ich das erste Mädchen geküsst. Und hinter diesem Vorgärtchen hatte ich gewohnt. Fremde Kinder spielten darin. Alle Zeit zwischen jetzt und damals war ausgelöscht. Es hätte gestern, aber auch vor zweihundert Jahren sein können. Willenlos drückte ich die schwere schmiedeeiserne Tür auf. Im Foyer war es stockdunkel. Ich tastete mich bis zur Tür vor, die zum Lichthof führte, wo unsere Wäsche im Sommer zum Trocknen oft gehangen hat. Ich öffnete, und statt des Hinterhauses, in dem wir gewohnt hatten, lagen Ruinen, Berge von Schutt. Und auch die Schule besuchte ich wieder. Wie viele Menschen haben dieses Erlebnis nicht schon beschrieben! Aber man muss es selber haben. Alles, alles haargenau wie vor zwanzig Jahren, ja sogar der Geruch ist bis auf die feinste Nuance derselbe. Wie klein, wie winzig klein sind die Bänke, ist es möglich, dass ich hier gesessen habe? Ja, denn das hier habe ich selbst mit meinem Taschenmesser ins Pult geschnitzelt: „Hier saß ich einst in süßer Ruh und sah dem Katz beim Zaubern zu.“ Und darunter meine Initialen. Katz war unser Chemielehrer gewesen und Zaubern nannte ich seine stets misslingenden Experimente. Und dann kam der Schuldiener und fragte, was ich wollte. Es war derselbe Mann mit dem slawischen Namen und Akzent. Nur waren seine Haare brennrot gewesen, als ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, jetzt waren sie weiß. Es war der einzige Mensch, den ich aus meiner Kinderzeit wiederfand. Die Stadt hatte ich, von einigen Bombenschäden abgesehen, bis zur schmerzenden Identität unverstellt gefunden. Die Menschen waren fremd geworden. Fremd und sonderbar beschränkt, wie mir schien. Ganz wehmütig machte mich die Melodie ihrer unendlich vertrauten mundartlichen Rede, aber was sie sagten, blieb mir unverständlich. Sie sprachen von der Politik, aber nur von der des Tages, von den Preisen, aber es waren ganz andere Preise, vom Theater, aber die Schauspieler hießen ganz anders. Und manchmal hieß es, der Krieg, die Amerikaner, die Russen. Ich hatte nichts mit ihnen gemein. Ich merkte, dass ich für ein paar Traumtage in eine verschollene Zeit zurückgekehrt war und nicht in einen Ort. Und als ich das merkte, konnte ich wieder abreisen. Für diese Menschen lief kein Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sie waren ihnen eins. Meine Vergangenheit war hier, aber meine Gegenwart war anderswo, weit weg.

Und als ich diese geheimnisvoll gleiche und doch so fremde Stadt verließ, dankte ich der Emigration, dass sie mich hinausgeführt hatte in die Welt, die mir nun nicht mehr fremd erschien, sondern wieder bekannt und sinnerfüllt. Unendlich war der Preis gewesen. Den Verlust der Heimat verwindet man nicht leicht, und Ersatz für sie gibt es nicht. Sie ist wie ein Teil von einem selbst, und viele sind an dieser Abtrennung zugrunde gegangen. Ich habe überlebt. Und darum weiß ich, wer ich selbst bin, unabhängig von dem Ort, an dem ich mich befinde. Ich habe wieder einen Pass, und ich bin sehr zufrieden damit. Aber er ist mir nur ein Reisepapier. Ein Land hat mich aufgenommen, in dem meine Fähigkeiten anerkannt werden, in dem meine Kinder aufwachsen. Ich bin dankbar dafür, aber ich finde das nur richtig und natürlich. Ich verlange und erwarte das von allen Ländern. Ich lebe gerne in dem Land, dessen Staatsbürger ich bin, aber nichts hindert mich, seine Fehler zu erkennen und öffentlich aufzuzeigen, zu seinem Nutzen, wie ich meine. Und wenn es mir eines Tages nicht mehr gefiele, so würde ich in ein anderes Land ziehen, und das würde mich kein Opfer kosten. Denn seit geraumer Zeit weiß ich, dass ich nicht so sehr in diesem besonderen Land, sondern dass ich in der Welt lebe. Langwierig war das Erlernen dieser Kunst, groß ist der Gewinn, unsanft die Lehrmeisterin. Die dritte Stufe der Emigration heißt Weltbürgertum.

Herausgegeben und mit Kommentar von Reinhard Andress

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