Sep 2020

II. Kulturgeschichtliche Analysen: Nico, deutsch-gotische Sängerin

Nico, deutsch-gotische Sängerin

und schauerromantische Mondgöttin

des New Yorker Velvet Underground

 

Frederick A. Lubich, Norfolk, Virginia

 

Essay Abstract:  Variationen eines Themas: Die Wiederkehr des Mittelalters in der Moderne

„Back to the Future!“ Das war wohl die populärste Parole der sogenannten Postmoderne, deren Diskursformationen sich in den achtziger Jahren diesseits und jenseits des Atlantiks in zahlreichen Diskussionen und Publikationen herauszukristallisieren begannen. Frühes Vorbild und sprechendes Beispiel dieses facettenreichen „Zurück in die Zukunft“ war der Bestseller A Distant Mirror: The Calamitous 14th Century von Barbara Tuchman aus dem Jahre 1978. In jenem spätmittelalterlichen Sittengemälde spiegeln sich bereits moderne Welterfahrungen auf vielfach gebrochene Art und Weise wider.

Und auch die transatlantische, deutsch-amerikanische Musikkultur nach dem Zweiten Weltkrieg schwingt in diesen so doppelbödigen Welterlebnissen vielschichtig und mannigfaltig mit. Ihre tieferen Spuren versuchen die zwei folgenden Darstellungen dieser Doppelnummer weiter zu verfolgen. Der erste Teil dieser Spurensuche lautet: „Nico, deutsch-gotische Sängerin und romantische Mondgöttin des New Yorker Velvet Underground“ und der zweite, ergänzende  Teil, der in der Folgenummer #46 erscheinen wird, lautet „Die letzten Barden Barbarossas: Zu den Hohenstaufer Liedermachern Thomas Friz, Frontmann der Gruppe Zupfgeigenhansel, und Harald Immig, Liedpoet und Landschaftsmaler.“

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„First We Take Manhattan, Then We Take Berlin …“
Leonard Cohen

 

I: First We Take Manhattan…

Nach dem Ersten Weltkrieg öffnete sich ein besiegtes Deutschland in seiner Weimarer Republik wie wohl kein anderes Land in Europa den kulturellen Einflüssen aus Nordamerika. Es waren vor allem die neuesten Entwicklungen in der amerikanischen Tanz- und Unterhaltungsmusik, welche die Weimarer Kultur und vor allem das Berliner Cabaret und sein notorisches Weimarer Nachtleben auf vielfache Weise animierte und zu neuen Lebens- und Ausdrucksformen inspirierte.

Die verschiedenen Einflüsse reichten von den Revelers, die zum Vorbild der Comedian Harmonists wurden, über den Jazz, der unter anderem auch das Triptychon Großstadt von Otto Dix fokussierte und das Gemälde zur repräsentativen Ikone der Weimarer Republik malen sollte, bis hin zu den diversen neuen amerikanischen Modetänzen vom Charleston bis zum Shimmy, die allesamt die legendäre Tanzbegeisterung jener Jahre beflügelte. Bis hinauf zum vielberufenen „Tanz auf dem Vulkan“, der bereits den drohenden Untergang der ersten deutschen Republik und Deutschlands Absturz in die Diktatur des Dritten Reiches auf expressive, infernal-katastrophale Weise heraufbeschwor.

Weimars kurzlebige Demokratie und vor allem die sogenannten „Goldenen Zwanziger Jahre“ in Berlin waren gleichzeitig auch ein kongeniales, transatlantisches Spiegelbild von New Yorks sagenhaften „Roaring Twenties“, deren schöpferischer, überschäumender Energie George Gershwin mit seiner „Rhapsody in Blue“ ein herrliches musikalisches Denkmal setzen sollte. In anderen Worten, „Amerikanismus“ wurde nicht nur zu einem beliebten Schlagwort der Weimarer Republik, sondern auch zu einem passenden Schlüsselwort zum weiteren Verständnis seines modernen, avantgardistischen Internationalismus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Deutschland, genauer West-Deutschland, eine zweite Welle des „Amerikanismus“, der diesmal zudem auch noch vor Ort in Form der amerikanischen Besatzungstruppen über einen soliden und – nach marxistischer Lehrmeinung – auch noch ideologisch konsolidierten Unterbau verfügte. Vor allem für die Generation der nach dem Krieg geborenen Deutschen wurden Filme mit Marlon Brando und James Dean, den vielberufenen „rebels without a cause“, sowie die Poeme und Romane der Beat-Generation zu großen Vorbildern und weiteren Wegweisern in eine offenere und freiere Gesellschaft. Es war jedoch vor allem die Musik des amerikanischen Rock ‘n’ Roll von Elvis Presley, Bill Haley, Jerry Lee Lewis und anderen, die die unbändige Tanz- und Lebenslust der deutschen Nachkriegsjugend mehr und mehr entfesselte.

Außer Rand und Band geriet sie Mitte der sechziger Jahre, als anglo-amerikanische Rock-Musiker von den Rolling Stones aus London bis zu den Doors in Los Angeles einer weltweit bewegten Jugendgeneration den Sound Track zur Rebellion gegen das Establishment lieferte, der auch noch die Jugendlichen hinter dem Eisernen Vorhang zur Aufmüpfigkeit gegen das oppressive Regime der kommunistisch regierten Länder Ost-Europas weiteranstacheln sollte.

In den achtziger Jahren, als ich in New York meine akademische Laufbahn begann, begegnete ich auf Empfängen und kulturellen Veranstaltungen auch im wieder Künstlern und Schriftstellern aus deutschsprachigen Ländern. Und es waren vor allem die langjährigen und vielschichtigen Beziehungen zwischen Berlin und New York, die oft den Gedankenaustausch vom Small-Talk bis zur Podiumsdiskussion stimulierten, wenn nicht gar zu weiteren kulturhistorischen Recherchen inspirierten.

Wim Wenders Film Der Himmel über Berlin bildete Mitte der achtziger Jahre geradezu einen Höhepunkt dieses transatlantischen Kulturtransfers. Er wurde vor allem in New York zu einem vielbesuchten Kultfilm, der wochenlang in Midtown Manhattan lief. Die englische Übersetzung des Filmtitels als „Wings of Desire“ war bald in gewissen Kreisen geradezu ein geflügeltes Wort für alle möglichen höheren Hoffnungen und schöpferischen Leidenschaften geworden.

In der Neuen Welt spielt vor allem New York als amerikanische Drehscheibe deutschsprachiger Kunstschaffender bis heute eine zentrale Rolle. So organisierte etwa das Goethe Institut in Manhattan in Zusammenarbeit mit weiteren New Yorker Kulturinstitutionen im Sommer 2020 eine vielbeachtete Retrospektive der Werke von Hans Haacke und Gerhard Richter, zwei der bedeutendsten und international bekanntesten lebenden Exponenten der bildenden Künste im heutigen Deutschland. Die Schau firmierte unter dem sprechenden Titel: „Haacke and Richter Take New York.“

Jedoch noch nachhaltiger und flächendeckender als Deutschlands darstellende Künstler eroberten nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Musiker die amerikanische Musiklandschaft. Den Anfang machte sicherlich der Frontmann der Rockband Steppenwolf namens John Kay, alias Joachim Fritz Krauledat, dessen krachender Krautrock in dem Lied „Born to Be Wild“ nicht nur zum Signature Song von Steppenwolf, sondern auch zur Hymne des Kultfilms Easy Rider schlechthin wurde, der wiederum einer ganzen jugendbewegten Generation zum mobilen Lebensmodell werden sollte.

Diesem Dauerrenner folgte bald danach der international erfolgreiche Hit „Wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ der deutschen Band Kraftwerk. Beide Songs brachten die deutsche Wanderlust up-to-date und lieferten den coolen Soundtrack für das moderne Fahrvergnügen. Darüber hinaus inspirierte Kraftwerks Synthesizer-Musik den Sound von Allround-Künstlern wie David Bowie sowie die elektronische House Music, die rund um die Jahrtausendwende das vereinte Berlin zur Welthauptstadt der Disco-Paläste und ihres allnächtlichen Tanztaumels machen sollte.

Ergänzt wurden in den achtziger Jahren Kraftwerks monotone Melodien, die Tänzer regelrecht in Trance versetzen konnten, vom opernhaften Belcanto Nina Hagens, der überkandidelten Punk-Prinzessin aus Ost-/Westberlin. Sie hatte damals Amerika zu ihrer Wahlheimat erkoren, und so konnte auch ich ohne viel Umstände eines ihrer Konzerte in Downtown Manhattan miterleben. Mit ihrem pathetischen, ekstatisch-agonalen Urschreien war sie eine parodische Melange aus Edvard Munchs angstvollem Gemälde „Der Schrei“ und der kunterbunten Ausdruckskunst des deutschen Expressionismus.

Den bisherigen Höhepunkt deutscher Eroberung anglo-amerikanischer Popmusik – wenn denn heute derartig militärische Metaphern überhaupt noch politisch korrekt sind – bildet sicherlich die Gruppe Rammstein aus der untergegangenen DDR. Auch sie lebte zeitweise in New York, um von dort aus Millionen von Millennials in Amerika und rund um den Globus mit ihrem dräuenden, pompös ominösen Industrial-Metal-Sound zu betören.

Die New York Times war anfangs höchst empört, denn sie hielt damals in einem langen Artikel die deutsche Rasselbande für neofaschistische Hate-Speech-Schocker. Ich schrieb daraufhin der Redaktion, dass „Du hast“ nicht dasselbe sei wie „Du hasst“, doch ich bekam nie eine Antwort. New York Times hin und „Basic German Courses“ her, jedenfalls lockte Rammstein in den letzten Jahren hier in Amerika unzählige Jugendliche von den High Schools bis in die Hochschulen in unsere Sprachklassen und Literaturseminare. Für die Kinder der Jahrtausendwende und vor allem für die Trotzköpfe unter ihnen kam die einstigen Ost-Block-Rocker mit ihren untergründigen Botschaften als düstere Bürgerschreckfiguren gerade wie gerufen.

II: Then we take Berlin

Lebt man als Deutscher in Amerika, ist man auch immer wieder – nolens volens – Repräsentations- und Reflexionsfigur einer Nation, die sich wie keine andere in der modernen Geschichte einen berühmt-berüchtigten Namen gemacht hat. Wir Deutschen sind berühmt für unsere einstige Hochkultur in Musik und Literatur, sowie in den Natur- und Geisteswissenschaften, und wir sind berüchtigt für unseren einstigen Nationalchauvinismus, der die Erde? (wg. Doppelung) in zwei Weltkriege stürzte und – last but not least – in die bodenlose Barbarei des Holocaust.

In Anbetracht dieser Tatsache wurden für Kunstschaffende deutschsprachiger Herkunft ihre Kunstwerke auch immer wieder zu multimedialen Kommunikationsformen dieses zwiespältigen, nationalgeschichtlichen Vermächtnisses. Da sich für die Kulturkritiker in Amerika die Charakterisierung deutscher Nachkriegskunst als „typisch deutsch“ im Großen und Ganzen verbot, wurde sie eher mit einem unterschwelligen mehr oder weniger euphemistischen Teutonismus assoziiert. Steppenwolf, Kraftwerk und Rammstein, das war jedenfalls hier in Amerika die Neue Deutsche Welle, die Wiederkehr von Richard Wagners „Ritt der Walküren“ als Easy Riders On The Storm.

Und ihre markanteste Vorreiterin war sicherlich Nico. Im Rückblick auf ihre Ankunft in Amerika beschrieb Andy Warhol sie einmal als eine Figur, die den Atlantik am Bug eines Wikingerschiffes überquert hatte. Als Christa Päffgen 1938 in Köln geboren, wuchs sie nach dem Krieg in der ausgebombten Ruinenstadt Berlin auf, deren wüste Trümmerlandschaften ihre kreative Imagination ein Leben lang heimsuchen sollten. Sie begann ihre performative Karriere in den fünfziger Jahren als blondes Foto-Modell für Modemagazine in Berlin, Paris und Rom und spielte kleinere Rollen in TV- und Filmproduktionen, unter anderem in Federico Fellinis La Dolce Vita.

Gegen Ende fünfziger Jahre zog sie nach New York, der glitzernden Metropole der westlichen Moderne, nahm dort Schauspielunterricht bei Lee Strasberg und hatte ihre ersten Auftritte als Sängerin im New Yorker Nachtclub Blue Angel. Andy Warhol, der damals als Manager von Lou Reeds Band The Velvet Underground fungierte, entdeckte sie dort und machte sie zur Frontfrau dieser New Yorker Avantgarde Gruppe. Bereits mit ihrem Debut-Album The Velvet Underground & Nico (1967) reüssierte sie mit Songs wie „Femme Fatale“, „All Tomorrow’s Parties“ und „I’ll Be Your Mirror“ und stieg damit auf bis zu Platz #13 der Rangliste in „Rolling Stones’ 500 Greatest Albums of All Time“.

 

Nico & Andy Warhol (Wikipedia)

Für ihr eigenes Debut-Album Chelsea Girls (1967) nahm Nico unter anderem Songs von Tim Hardin, Jackson Browne und Bob Dylan auf. In dieser Zeit schloss sie auch Freundschaft mit Jim Morrison von den Doors, der bald ihr erklärter Seelenbruder wurde. Er ermunterte sie zum Schreiben ihrer eigenen Texte und Lieder, die sie dann auch folgerichtig auf ihrem nächsten Album The Marble Index (1969) vorstellte.

Die Platte ist eine Mischung aus klassischen Elementen und europäischen Volkslied-Traditionen, eine musikalische cross-cultural montage, deren Stilkonzept sie in ihren weiteren Werken beibehielt und deren Melodien sie nun stets mit dem Harmonium begleitete. Es folgten die Alben Desertshore (1970) und The End … (1974), die bereits in ihren Titeln die zunehmend dunkler werdende Weltanschauung ihrer weiteren Künstlerkarriere sprechend heraufbeschwören.

In den siebziger Jahren drehte Nico zusammen mit dem französischen Filmregisseur Philippe Garrel sieben Filme, wurde Teil seiner kreativen Entourage in Frankreich und arbeitete gleichzeitig auch mit dem Berliner Musiker Lutz Ulbrich zusammen, der sie für den Rest der siebziger Jahre auf Konzerten mit seiner Gitarre begleitete. In der Frontstadt West-Berlin, in der damals unter anderem auch Iggy Pop und David Bowie lebten, war jedenfalls die ehemalige Frontfrau der New Yorker Avantgarde bestens aufgehoben.

Freilich irritierte und provozierte sie in jenen Jahren unter anderem auch damit, dass sie auf ihren Konzerten die deutsche Nationalhymne mit sämtlichen Strophen sang. Nostalgische Ode oder nationalsozialistische Parodie? Temporäre experimentelle Geistesverwirrung oder erneute kryptofaschistische Götterdämmerung? Oder die schlichte menschliche Sehnsucht nach der Wiedervereinigung der ehemaligen deutschen Hauptstadt sowie ihres deutschen Heimatlandes?

1979 zog Nico wieder nach New York und feierte ihr Comeback mit einem Konzert im berühmten CBGB in Downtown Manhattan, das selbst von der altehrwürdigen New York Times damals wohlwollend besprochen wurde. Anfang der achtziger Jahre kehrte Nico jedoch der Neuen Welt endgültig den Rücken, ging zurück in die Alte Welt und ließ sich vor allem als Sängerin und Musikerin in England in der recht monotonen Industriestadt Manchester nieder. Ihr Album Drama of Exile (1981) spiegelt bereits im Titel ihre immer wüster werdende Erfahrungswelt der wandernden Heimatlosigkeit schlagwortartig wider. Im folgenden Jahr ging sie mit britischen Post-Punk-Bands wie Bauhaus und Blue Orchids weiter auf Tournee.

In ihren späteren Jahren sollte sich Nico zunehmend auf immer ältere europäische Kulturtraditionen zurückbesinnen, allen voran auf das deutsche Mittelalter und seine germanische Sagenwelt. Entsprechende Anspielungen reichen von Versen wie „Asleep in a Nibelungenland“ bis zu Songtiteln wie „Genghis Khan“, dem sagenhaften Eroberer aus dem Fernen Osten und großen fernöstlichen Bedroher der abendländischen Gesellschaft und ihrer mittelalterlichen Weltordnung.

„My melodies are from the Middle Ages“ soll sie einmal gesagt haben. Entsprechend begann sie auch in dieser Zeit Texte auf Deutsch zu schreiben, wie etwa das Lied „König“, in dem es heißt:

König, lass dich leiten,
lass mich dich begleiten
auf diesem weiten Strand
ergreife meine Hand.

Mit ihren musikalischen Exkursionen in die sogenannten „Dark Ages“ unserer mittelalterlichen Vergangenheit wurde sie zu einer berufenen Bahnbrecherin der sich damals entfaltenden Musik-Gattung des „Gothic Rock“ und seiner millenarisch-apokalyptischen Schauerromantik, für die um die Jahrtausendwende zahllose Millennials diesseits und jenseits des Atlantik zu schwärmen begannen.

Vor allem Rammstein wusste die höher und höher schlagenden musikalischen Wellen aus der Alten Welt mit ihren makabren Balladen und pyrotechnischen Spektakeln weiter aufzupeitschen und melodramatisch auszureiten. Ihre Musik glich stellenweise geradezu einem rhythmischen Rammbock, mit dem sie die heile Welt eines oft so scheinheiligen Bürgertums im Sturm eroberten und deren Kinder sie wie einst der Rattenfänger von Hameln hinter sich scharten, sodass sie ihnen von Konzert zu Konzert folgen sollten.

Doch zurück zu Nico und ihrem magisch-mystischen Sirenengesang. Hand in Hand mit ihrer musikalischen Entgrenzung in mittelalterliche Vorstellungswelten ging die emotionale Entfremdung jugendlicher Millennials, die sich aus welchen Gründen auch immer gegen ihre Umwelt auflehnten, wenn nicht gar mit ihrer eigenen Innenwelt im Zwiespalt lagen. Für derartige Konflikte und Konfrontationen schienen Nicos opake Orakel geradezu wie geschaffen. So heißt es etwa über den in der englischen Sprache geradezu sprichwörtlich gewordenen Kampf mit den inneren Dämonen:

Demon is dancing down the scene,
He is calling and throwing
his arms up in the air,
and no one is there.

Und lange bevor der Begriff „borderline“ ein terminus technicus in der Reklassifizierung psychologischer Verhaltensmuster wurde, mobilisierte Nico diesen Fachbegriff mit großem, doppeldeutigem Effekt in ihrem Song „Frozen Warning“

Frozen warnings close to mine,
close to the frozen borderline.

Dieser Zweizeiler beschwört nicht nur die psychischen Abgründe einer traumatisierten Seelenlandschaft, sondern auch die realpolitische Grenzlandschaft eines zerrissenen Deutschlands samt seiner landesweiten Todessreifen in den letzten Jahren des Kalten Krieges herauf. Nico sollte freilich die friedliche Revolution, den Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung ihres Heimatlandes nicht mehr erleben. 1988 ist sie mit erst 49 Jahren auf der Insel Ibiza in Spanien gestorben.

„Die Fremde ist nicht Heimat geworden, aber die Heimat Fremde.“ So charakterisierte einst Alfred Polgar die Erfahrung vieler seiner Schicksalsgefährten, die im Dritten Reich zur Auswanderung gezwungen waren. Dieses „Drama of Exile“ spricht auch Nico aus tiefster Seele, verfolgt man ihre ruhelose Wanderschaft von einem Land und von einem Erdteil zum immer wieder andern. Sie hatte auf ihrem Lebensweg nicht nur die Fremde und die Entfremdung auf vielfache Weise erfahren, sie war letztlich selbst zu einer Art wandelndem Verfremdungseffekt im Sinne Brechts geworden, zu einer zeitverlorenen Kunstfigur, die sich umgekehrt in seinem „epischem Theater“ wohl noch am ehesten zu Hause gefühlt hätte.

Es dürfte kaum verwundern, dass Nico – wie so manche ihrer Weggefährten im Reich der Rockmusik – auch drogensüchtig gewesen war. Immer wieder war es die grenzenlose Sehnsucht – und zum Schluss nur noch die Sucht – nach dem irdischen Glück, wenn nicht gar der überirdischen Glückseligkeit. Erst kurz vor ihrem Tod im Ferienparadies von Europas jeunesse doréeet maudit – schien sie ihre jahrelange Heroinsucht schließlich überwunden zu haben.

Und es dürfte kaum überraschen, dass sich Nico ganz bewusst in der vagantischen, neo-romantischen Nachfolge der europäischen Romantik sieht, nämlich auf den Spuren des deutschen Fernwehs und seiner weltbekannten Wanderlust, in den romantischen Überlieferungen englischer Poeten wie William Blake und Samuel Taylor Coleridge sowie im Bann der vielbesungenen französischen La Bohème, ihrem mediterranen Motto des „savoir vivre“ und vor allem ihrer subversiv-rebellischen Maxime „If faut épater le bourgeois“.

Und nicht zuletzt ist Nico auch eine späte, natürliche Tochter der deutschen, schwarzromantischen Tradition und ihrer so mondsüchtigen, launisch-lunatischen Imagination, wie sie sich vor allem in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen oder den gespenstischen Nachtwachen des Bonaventura aus der Feder eines enigmatischen Anonymus aus dem Jahre 1805 immer wieder irisierend reflektiert. Es ist jene zwielichtige, heimlich-unheimliche Welt der Poltergeister und Doppelgänger, die in Nicos untergründigem Dämmerreich erneut fröhliche Urständ und furchtbare Wiederkehr feierten.

Nico auf ihrem Harmonium (Wikipedia)

 

Von der wachsenden Anzahl der musikalischen Tribute und filmischen Dokumentationen, die seit ihrem Tod entstanden sind, sei hier lediglich eine große Musikveranstaltung zahlreicher Künstler zu Nicos Ehren aus dem Jahr 2013 genannt, die an der renommierten Brooklyn Academy of Music in New York stattfand. Sie feierten Nicos Allround-Kunst, ihren artistischen Lebenswandel und ihr oft so traumtänzerisches Wanderdasein unter dem treffenden Titel „A Life Along the Borderline“.

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